Vom Verschwinden der Résistance

Mythenkritik Lange galt der französische Widerstand gegen die deutsche Besatzung als vorbildlich. Seit den siebziger Jahren herrscht eine neue Vulgata - mit Konsequenzen.

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21. Juni 1943. In Caluire, einem kleinen Ort in der Nähe von Lyon, dringen sieben oder acht Männer des Sicherheitsdienstes in das Haus des Doktor Dugoujon ein. Alle verdächtig erscheinenden Personen werden festgenommen, Patienten und ... hochrangige Résistants. Darunter Jean Moulin, der Präsident des Conseil national de la Résistance, und Raymond Aubrac, Chef von Libération-Sud . Der Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, findet spätestens am 23. Juni heraus, dass er mit Moulin den Chef der Résistance im Netz hat. Nach entsetzlicher Folter lässt er ihn am 28. Juni nach Paris, von dort am 8. Juli nach Berlin transportieren. Moulin stirbt während dieser Fahrt (1).

21. Oktober 1943. In Lyon wird ein deutscher Gefangenentransport von einem Résistancekommando unter Führung von Lucie Aubrac angegriffen. 14 Widerständler, darunter Raymond Aubrac, werden befreit. 6 deutsche Soldaten und 5 Wachen werden getötet.

19. Mai 1997. In einem geschlossenen Raum der Zeitung Libération findet eine denkwürdige Veranstaltung statt. Die Aubracs, das legendäre Paar der Réstance, beide in den Achtzigern, haben einer "Table ronde" mit renommierten Historikern zugestimmt. Vordergründig geht es um ihre Rolle bei der Verhaftung Moulins. Der Journalist und Historiker Gérard Chauvy hat aus Anlass des Spielfilms Lucie Aubrac ein so genanntes "Testament"Klaus Barbies veröffentlicht, das dessen Verteidiger Jean Vergès anlässlich des Prozesses des "Schlächters von Lyon" dem Richter übergeben hat. Darin wird Raymond Aubrac als Verräter Moulins bezeichnet. Im Hintergrund steht natürlich die Frage nach Mythos und Wirklichkeit der ganzen Résistance.

Die Aubracs sind mit einigen der Historiker befreundet, und doch wird der runde Tisch schnell zu einer Gerichtsverhandlung. Fragen prasseln auf die alten Leute ein. Warum wurde Raymond nicht, wie üblich, nach Paris gebracht? Kannten die Deutschen sein Pseudonym - oder doch nicht? Schließlich habe er seit 1944 unterschiedliche Angaben gemacht. Raymond Aubrac hat keine Erklärung. Darauf müssten wohl andere antworten, sagt er. "Was verbirgst du?" hält ihm darauf der Résistant und Moulinbiograph Daniel Cordier entgegen. Lucie soll zur Frage Stellung nehmen, ob ihre damaligen Besuche bei den Eltern Raymonds nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit deren Verhaftung und Deportation nach Auschwitz stünden. "Eine der dümmsten Frage, die Lucie gestellt wurden", urteilt der Autor Gilles Perrault.

Am Ende der fünfstündigen Befragung sagt die fast Fünfundachtzigjährige: "Ich muss mich hier nicht verteidigen. Ihr versteht gar nichts." Später spricht sie von einer "verachtenswerten Inszenierung". Der Historiker Henry Rousso urteilt: "Wenn es eine Hinrichtung war, dann die einer bestimmten Auffassung der Résistance, die die Legende der Wahrheit, die heilige der kritischen Geschichte vorzieht." Der Philosoph Daniel Bensaid stellt hingegen die Frage: "Sollte es wirklich nicht möglich sein, die notwendige historische Aufklärungsarbeit im Respekt für die Tragik der Akteure, ihre Zweifel und ihrem Halbdunkel durchzuführen?"

Für die Öffentlichkeit ist das Ganze zur "Affaire Aubrac" geworden. Kommentatoren vergessen nicht darauf hinzuweisen, dass Raymond Aubrac als "Compagnon de route" der Kommunisten gilt. Im selben Jahr erscheint das "Schwarzbuch des Kommunismus". Verspätet scheint also eingetreten, was Vladimir Jankélévitch schon 1948 schrieb: "Schon morgen wird der Widerstand sich für seinen Widerstand rechtfertigen müssen."

Die Résistance als "nationaler Roman" (Gilles Perrault) ist mit dieser Affäre endgültig begraben. Selbst das berühmteste Paar des Widerstands kann unter (übrigens falschen) Verdacht gestellt werden. Der Historiker Pierre Laborie hat diesen tiefgehenden Diskurswandel und seine Konsequenzen untersucht (2). eine neue Vulgata, so der Autor, gelte seit den siebziger Jahren. Sie behaupte in unhistorischer Vereinfachung, das hegemoniale Nachkriegsnarrativ habe dogmatisch gesetzt:

- Alle Franzosen waren während der deutschen Besatzung Résistants.

- Alle Résistants haben sich brüderlich unter dem heldenhaften General De Gaulle vereint.

- Die Bevölkerung habe sich mit allen Mitteln dem Vichyregime verweigert.

Laborie hält diese Behauptung für eine historiographische Verzerrung. Vor 1970 habe es nur zweimal ein wirklich dominantes heroisches Erinnern gegeben: während der Befreiung 1944/45 und nach der Rückkehr des Generals 1958. Hauptakteure waren dabei die Kommunistische Partei, die sich als "Partei der 75000 Füsillierten" inszenierte und der Gaullismus. Beide instrumentalisierten offensichtlich den Widerstand und machten es der ex-petainistischen Rechten leicht. Ein Kollaborateur wie Alfred Fabre-Luce konnte schon 1945 schreiben: "Das Land ist erneut besetzt, dieses Mal von Heuchlern, die uns eine Staatsreligion aufzwingen, die unter dem Namen Résistance bekannt ist." Der Begriff "Résistantialisme" wurde in bestimmten Kreisen gängig. 1951 entsetzte sich Camus über "das ironische Lachen, mit dem alles, was mit der Résistance zu tun hat, bedacht wird." Man sprach im Gestus des Eingeweihten von der "erfundenen Ehre", der "Legende in Rosa" oder auch von der "sublimen Lüge".

Heute schreiben Historiker wie Henry Rousso den "Résistancialisme" mit "C". Er bedeute das Vergessen der Shoa und das Verdrängen der massenhaften Kollaboration. In Wirklichkeit sei der bewaffnete Widerstand minimal gewesen. Erst mit der Einführung des Service Du Travail Obligatoire, der Zwangsarbeit in Deutschland, habe die Résistance großen Zulauf bekommen. Die Kommunistische Partei habe erst mit dem Überfall auf die SU einen systematischen Kampf aufgenommen. Viele Franzosen verehrten den Verdun-Sieger Pétain. Viele Helden des Widerstandes haben sehr widersprüchliche Biographien.

Gerade dass daran viel Richtiges ist, ermöglicht die Instrumentalisierung durch die neue Vulgata. Sie wird als reine Wahrheit genommen, ersetzt aber im Grunde nur den alten durch einen neuen Schematismus. Auch das "neue" Bild ist also kritikwürdig.

Laborie zeigt dies an zwei Beispielen. Im Feld der öffentlichen Meinung hat der Ophüls-Film Le chagrin et la pitié (deutsch: Das Haus der anderen) buchstäblich Maßstäbe gesetzt. Er wird 1969 produziert, in der Zeit der großen Kontestation. In Frankreich wird gerade das Symbol der Résistance De Gaulle de-sakralisiert. 1970 muss dieser zurücktreten. Sein Nachfolger Pompidou begeht die Dummheit, den petainistischen Milizionär Touvier zu begnadigen. Die kolonialistischen Verbrechen kommen zutage. Der Film Ophüls' wird nicht im staatlichen Fernsehen gezeigt, als gelte es etwas zu verbergen. Die Aussagen der Zeitzeugen über die oft willige Kollaboration in Clermont-Ferrand haben den Zauber des Authentischen. Clermont-Ferrand war überall, so scheint es. Dass Ophüls den Widerstand und vor allem dessen blutige Repression vernachlässigt, fällt nur wenigen Kritikern auf. Zur medialen Hegemonie des Tous collabos tragen natürlich auch peinliche Details aus der Biographie Mitterands bei. Eine Atmosphäre des universellen Verdachts entsteht.

Das wissenschaftliche Pendant zum Film ist das verdienstvolle Vichybuch des amerikanischen Historikers Robert Paxton (2). Laut Laborie spiegelt es aber auch die intellektuelle Opposition gegen den Vietnamkrieg. Vor allem die Formel, dass alle, die "keine aktive Opposition machen", Agenten der Macht, also "funktionelle Kollaborateure" seien, setzt sich im historiographischen Feld durch. Die große Zeit des Hinterfragens beginnt mit Historikern, die sich auch politisch und persönlich den Résistants nicht mehr verbunden fühlen - die kommunistische "Familie" stirbt langsam aus. Leitfigur der "nouveaux historiens" wird der auch bei der Aubrac-Befragung präsente Daniel Cordier (einst Sekretär Jean Moulins), der 1983 an der Sorbonne verkündet: "Was die einst aktiven Zeitzeugen sagen, mich einbegriffen, hat keinen Wert, nur das Archiv zählt."

Mittlerweile hat die neue Vulgata einer minoritären Résistance, einer starken Kollaboration und einer ängstlichen mitmachenden Mehrheit die Schulbücher erreicht. Der Widerstand, so Laborie in Anspielung auf den Titel des Ophülsfilms, schrumpft wie das Balzacsche Chagrinleder. Schon in den achtziger Jahren erscheint sie als "Papiertiger" (Lothar Baier). Der von Camus festgestellte Hohn über die Résistance beherrscht heute das Internet. Gerade der kommunistische Widerstand ist Zielscheibe des Spotts. Jedes Detail wird alsBestätigung des Ganzen genommen.

Verschwunden ist die Diversität des Widerstandes. Laborie nennt zahlreiche Beispiele. Vom Vergessen bedroht sind die Aktionen von Frauen, die gezielt die Besatzer ablenken ("nebenbei": die Résistanceerinnerung war von Anfang an grotesk männlich. Zu den über tausend "Compagnons de la Résistance" gehören sechs (!) Frauen). Kaum erwähnt werden Handlungen wie das bewusste Verlangsamen der Arbeit, die Sabotage, das Ausstellen falscher Papiere, die plötzliche Kurzsichtigkeit von Gendarmen, das Verstecken Verfolgter, Streiks, die massenhafte Teilnahme bei Beerdigungen Erschossener, das Singen der Marseillaise und "all diese tausend Fäden des Vertrauens, von denen nicht einer reißen durfte" (René Char).

Der regionale Widerstand scheint aus dem nationalen kollektiven Gedächtnis gelöscht zu sein. Lothar Baier hat vor über dreißig Jahren in der Ardèche eine erstaunliche Fülle resistenter Aktionen erforscht: sie reichen vom heroischen Kampf bis zu "kleinen" Resistenzen wie das Öffnen von Briefen auf Postämtern (zwecks Warnung von Bedrohten), das Abhören von Telefonaten, das Umleiten von Wehrmachtzügen - um nur einige Beispiele zu nennen (3).

Von diesen Aktivitäten einer "Gesellschaft der Nichtzustimmung" findet sich eben nicht alles in den Archiven. Da ist etwa die "Mauer des Schweigens", die eindrucksvoll in der klandestin verbeiteten Erzählung Vercors "Das Schweigen des Meeres" beschrieben wird. Oder der Eindruck von Paris als "Stadt ohne Blicke", wie deutsche Jeip-Touristen ("Jeder einmal in Paris") berichten. Jean Guéhenno schreibt in sein Tagebuch: "Ich bin mit den Parisern zufrieden. Sie begegnen den Deutschen wie den Hunden und Katzen, als ob sie sie nicht sehen und hören." Ein anderer berühmter Tagebuchschreiber - allerdings auf der Seite der Besatzer - schreibt am 18. August 1942: "In einem Papiergeschäft der Avenue Wagram... Ein junges Mädchen, das dort bediente, fiel mir durch den Ausdruck seines Gesichtes auf: es wurde mir deutlich, dass es mich mit erstaunlichem Hass betrachtete... mit einer Wollust, mit der vielleicht der Skorpion den Stachel in seine Beute bohrt." Hauptmann Jünger scheint dies allerdings zu genießen.

Die hegemoniale Vulgata kennt keine historische Entwicklung, keine geographischen Differenzen, sondern nur das Entweder-Oder. Wer für Pétain ist, kann in dieser Logik kein Résistant sein. Allerdings waren die Nonnen, die jüdische Kinder vor den Schergen versteckten, oft glühende Anhängerinnen des Marschalls. Die protestantischen Bauern in den Cevennen, die Ähnliches leisteten, sahen sich eher unpolitisch.

Für den Historiker, so Laborie, folgt aus all dem eine bewusste methodische Bescheidenheit. Er muss versuchen, die heute als fremd wahrgenommene(n) damalige(n) Situation(en) zu verstehen. Er muss versuchen, das Verbergen, Maskieren, Simulieren, Vermeiden und andere "konnivente Codes" zu "lesen".

Geschichte (als Wissenschaft) lehrt, die komplexe Welt ein wenig besser zu verstehen und damit "dem Gift der Angst" zu widerstehen. Laborie zitiert am Ende aus Camus' La peste:

Rieux erinnerte sich, dass diese Heiterkeit immer noch bedroht war. Er wusste nämlich, was in den Büchern zu lesen war und was die freudige Menge nicht wusste: Der Pestbazillus stirbt und verschwindet niemals.

Lothar Baier hatte es auf eine politische Formel zugespitzt:

Die einfältigste Résistancelegende enthält mehr geschichtliche Wahrheit als die falsche Demontage.

(1) Olivier Wieviorka, Histoire de la Résistance. Paris 2013 (Perrin)

(2) Pierre Laborie, Le chagrin et le venin. Occupation. Résistance. Idées recues. Paris 2011 (erweiterte Taschenbuchauflage 2014)

(3) Robert O. Paxton, La France de Vichy. 1940-1944. Paris 1973

(4) Lothar Baier, Die Résistance, ein Papiertiger? in: ders., Französische Zustände, Frankfurt 1985

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