Von Individuen und Personen

Ideologiegeschichten 1995. In seiner großen Rede vor streikenden Eisenbahnern kritisiert Bourdieu scharf den Philosophen Ricoeur. Eine Spurensuche, die zum Präsidenten zurückführt

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1995 unterstütze Pierre Bourdieu die Streikenden mit einer großen Rede. Heute sind die Verhältnisse ähnlich – doch Bourdieu fehlt
1995 unterstütze Pierre Bourdieu die Streikenden mit einer großen Rede. Heute sind die Verhältnisse ähnlich – doch Bourdieu fehlt

Foto: Patrick Hertzog/AFP/Getty Images

Ich bin hier, um all jene unserer Unterstüzung zu versichern, die seit drei Wochen gegen die Zerstörung der Zivilisation kämpfen, die verbunden ist mit dem öffentlichen Dienst, der republikanischen Gleichheit, der Rechte auf Erziehung, Gesundheit, Kultur, Forschung, Kunst, und, über allem, des Rechts auf Arbeit.

Der weltbekannte Soziologe Pierre Bourdieu war nie ein großer Redner, und er bemüht sich sichtlich, an diesem 12. Dezember des Jahres 1995 im Pariser Bahnhof von Lyon die richtigen Worte für die streikenden Eisenbahner zu finden. Es ist die Sorge und die Hoffnung zugleich, die diesen zurückhaltenden Mann, der zudem den kürzlichen Tod seiner Mutter zu verkraften hat, in die Öffentlichkeit treiben. Er fürchtet, dass die „Reform“-Pläne des Ministerpräsidenten Alain Juppé eine irreversible Etappe auf dem Weg zur neoliberalen Utopie einer „Ausbeutung ohne Grenzen“ ist.

Hintergründe

Aber die Situation in diesem Winter 1995 ist viel komplexer. Mit bewusster Ironie spielt Bourdieu auf

jenen Philosophen, an, der im Journal du Dimanche vom 10. Dezember mit Erstaunen „den Abgrund zwischen dem rationalen Verstehen der Welt“, welches für ihn Juppé verkörpert, und „dem tiefen Begehren der Leute“ entdeckt. Diese Opposition zwischen der langfristigen Vision der „aufgeklärten Elite“ und dem kurzsichtigen Trieb des Volkes oder seiner Repräsentanten ist typisch für das reaktionäre Denken aller Zeiten und aller Länder.

„Jener Philosoph“ ist kein Geringerer als der damals 82-jährige Paul Ricœur. In einem öffentlichen Appell vom 30. November in Le Monde hat er mit anderen Intellektuellen, wie Alain Touraine, Jacques Julliard und Alfred Grosser den Reformplan des Ministerpräsidenten unterstützt. Die Revue „Esprit“, das meinungsbildende Intelligenzblatt der „Zweiten (nichtmarxistischen) Linken“, und die Stiftung Saint-Simon, ein Thinktank mit Einfluss im liberalen Bürgertum, wollen mit dem Aufruf die reformistische Gewerkschaft CFDT stützen, die anders als die CGT einen Streik gegen die neoliberalen Regierungspläne ablehnt. Bourdieu seinerseits hat an einem „Solidaritätsappell mit den Streikenden“ mitgearbeitet, der am 6. Dezember erscheint, ebenfalls in Le Monde. Unter den 200 Unterzeichnern sind Jacques Derrida, Luc Boltanski, Pierre Vidal-Naquet, aber auch die Schauspielerin Marina Vlady.

Die Medien konstruieren sehr schnell ein „Ereignis“. Auf der Linken gebe es einen „Krieg der Intellos“, einen „Krieg der Listen“ oder gar einen „Bürgerkrieg der Meisterdenker“. Das ist zwar übertrieben, aber nicht ganz falsch. Die „Liste Reform“ umfasst vor allem die nichtmarxistischen, oft in der christlichen Arbeiterbewegung und der CFDT verwurzelten Linken, deren Maximen personale Eigenverantwortung, Selbstverwaltung der Betriebe durch Unternehmer und "Arbeitnehmer", Verhandlungen und Kompromisse sind. Einige verweisen auf das deutsche Vorbild der Tarifverhandlung. Taktisch durchaus geschickt, beschränkt sich ihr Appell allerdings auf die Gesundheitsreform. Die (rechte) Regierung Juppé begehe mit der Absicht, das Parlament über das jährliche Gesundheitsbudget abstimmen zu lassen, den richtigen Weg, den der „sozialen Gerechtigkeit“.

Die „Liste Streik“ wird geeinigt durch die Kritik am Neoliberalismus und getragen von verschiedenen, oft trotzkistischen Gruppen, Feministinnen, Bourdieuschülern und Vertretern der „neuen Soziologie“(Boltanski, Corcuff). In ihrem Aufruf stehen sie zu ihrer „Verantwortung zur Solidarität“ mit den Streikenden, die eben nicht angebliche Privilegien, sondern den öffentlichen Dienst als „Garant der Gleichheit“ verteidigen. Im Grunde, so die von Bourdieu formulierte Frage des Textes geht es um die – noch heute virulente – Alternativen:

In welcher Gesellschaft wollen wir leben. Und soll es das liberale Europa sein, das man uns aufzwingt, oder das demokratische, soziale und ökologische Europa, das wir wollen?

Trotz aller Wissenschaftlichkeit (oder gerade deswegen?) ist Bourdieus Werk immer politisch gewesen. Die zunehmende Parteinahme für die kleinen Leute, verbunden mit scharfer Kritik der Herrschenden in den neunziger Jahren ist jedoch bemerkenswert. 1993 erscheint mit „La misère du monde“ eine umfassende Darstellung der Auswirkungen des rentabilistischen Zugriffs auf die menschlichen Lebenswelten. Allerdings beginnen einige Schüler des „Patron“ seit 1990 die bourdieuschen Konzepte dem „Mainstream der Standardsoziologie“ zuzurechnen, wie es der einstige Meisterschüler Bourdieus Luc Boltanski formuliert. Sie gründen eine „neue Soziologie“ unter Berufung auf...Paul Ricœur. Didier Eribon kommentiert dies noch heute maliziös:

Der schreckliche Boltanski konvertierte auf den Seiten der Zeitschrift Esprit zum religiösen Mystizismus und der personalistischen Denkrichtung, indem er sich auf die Kirchenväter stützte.

Seit 1980 ist der protestantische Mentor der Zeitschrift Esprit zu der Referenz der Zeitschrift geworden. Manche sprechen von einem „Ricœur-Effekt in den Sozialwissenschaften“, gar von einem „pragmatischen Turn“. Die Unzufriedenheit mit dem starr erscheinenden Konzept des Habitus führt Boltanski und andere zur Entdeckung der Ricoeurschen „Identitäten“, der „Mêmeté“, d.i. die „Permanenz in der Zeit“ (die z.T. mit dem Habitus Bourdieus vereinbar ist) und die „Ipséité“, die dem Habitus widerstehen kann und z.B. in der Treue zu einem gegebenen Wort besteht. Ein zweideutiges Referenzwerk Ricœurs lautet denn auch: „Soi-même comme un autre“, Selbst als ein anderer, aber auch phonetisch: Sei selbst wie ein anderer. Boltanski macht die bourdieuschen „Agenten“ des Sozialen wieder zu „Akteuren“, zu Subjekten die soziale Konflikte eigenverantwortlich und in Kompromissen regeln können.

Damit knüpft er an Ricœurs subjektphilosophischen Überlegungen an, die konkret auf den „mittleren Weg“ zwischen den Widersprüchen hinauslaufen, auf die „praktische Weisheit“. Ricœur verdeutlicht dies am Beispiel des guten paternalistischen Unternehmers, der keine Gewerkschaftler in seinem Betrieb will. Aus diesem Konflikt kann sich ein interessanter Kompromiss ergeben, das Resultat einer Verhandlung. In einer Diskussion mit Boltanski und dessen Mitautor Thévenot gibt er ein anderes Beispiel: das Paradox der Autorität. Per definitionem bedeutet Autorität, einem Menschen Gehorsam auferlegen zu können. Wenn dieser aber die Autorität aus freiem Willen anerkennt, mäßigt er damit zugleich die Gewalt oder die drohende Verfolgung. Ricœur verweist auf Gadamer, für den die Anerkennung in der Kenntnis des Inferioren besteht, das der Andere im Urteil und in der Weitsichtigkeit überlegen sei. Dass wird die „Eliten“ freuen. Nicht aber einen Bourdieu. Wenn dieser in der Gare de Lyon explizit Paul Ricœur kritisiert (und nicht die anderen Verfasser der „Reformliste“), liegt dies nicht allein an seiner Aversion gegen die „Oberflächlichkeiten“ des Existentialismus, „vor allem in seiner christlich gefärbten Abart“, wie er noch kurz vor seinem Tode schreibt, auch nicht nur an der Enttäuschung über die Ricœur-Zuwendung alter Kollegen, sondern vor allem an dessen die gesellschaftliche Ungleichheit reformistisch abfedernden, aber im Grunde perpetuierenden personalisierenden Prämissen.

1995 bricht ein Konflikt im wissenschaftlich-politischen Feld hervor, bei der die dynamische Generation Konzepte der Vor-Bourdieu-Generation übernehmen, diese aber „neu“ definieren. Ausgetragen wird der Konflikt mit den Mitteln des symbolischen Kapitals (eher die „Streikliste“) und des ökonomisch-politischen Kapitals (eher die „Reformliste“). Auch als die Streikenden die Rücknahme der Reformpläne erreicht haben, geht der Konflikt weiter. Er wird nun über die Medien ausgetragen. Und die sind mittlerweile selbst zum Thema der Kontroverse geworden.

Im März 1996 hält Bourdieu zwei Vorlesungen im Collège de France, die Ende des Jahres in der neuen Reihe „Raison d'agir“ erscheinen, mit dem Titel: „Sur la télévision“. Ein Jahr später folgt Serge Halimis „Les nouveaux chiens des garde“ (Die neuen Wachhunde). Minutiös wird das Universum der Konnivenzen in der Medienwelt aufgelistet. 1998 erscheinen die politischen Beiträge Bourdieus unter dem Titel „Contrefeux“ (Gegenfeuer), darunter der berühmte Aufsatz zum Denken des Bundesbankpräsidenten Tietmeyer. Ein Intellektueller auf dem Höhepunkt seines transnationalen symbolischen Kapitals stellt sich bewusst in die Tradition Zolas, Sartres und Foucaults. Das muss die Reaktion des Gegenpols provozieren.

Ich habe die Freude, von allen großen französischen Journalisten angegriffen zu werden, so ironisch Pierre Bourdieu im Jahre 1998. Denn Leute, die glauben Subjekte zu sein (auch hier eine deutliche Anspielung auf die Esprit-Gruppe), ertragen die Entdeckung nicht, dass sie nur Marionetten sind.

Und die „Leute“ lassen sich nicht lumpen:

Typischer Stalinist (Philippe Sollers),

reduktionistisch, simplifizistisch, pseudoszientifistisch, und nicht wahr (Pierre Nora in Le débat),

fantsmagorische, destrukturierende und verfolgungswahnsinnige Vision der Welt, die man nur auf der extremen Rechten und der extremen Linken findet (Laurent Joffrin, Chefredakteur der Libération).

Besonders die erwähnte Zeitschrift Esprit tut sich im Bourdieu-Bashing hervor. 1998 veröffentlichen die Chefredakteure eine vernichtend gemeinte Diatribe: Dem Soziologen wird eine bewusste Praxis der Lüge und der Fälschung vorgeworfen, die Mentalität eines Flic, die Kaporalisation des intellektuellen Lebens. Dieser „Linkspopulismus“ stehe dem rechten in nichts nach. Die Verbitterung schimmert selbst in den kollegialen Nachrufen auf den im Februar 2002 verstorbenen Bourdieu durch. André Touraine, 1995 Unterzeichner der „Reformliste“, kommt – nach den üblichen Komplimenten des Anstands – nicht umhin, Bourdieu als Vertreter des Determinismus zu bezeichnen, während er, Touraine „für die Freiheit“ stehe, natürlich. Luc Boltanski spricht aus demselben Anlass vom einer Art Agit-Prop der letzten Jahre. Über die Medien, das war keine Soziologie mehr, das war Agit-Prop.

Initiation und Weiterleben

Und es begibt sich, dass just in dieser Zeit einem berühmten Philosphen durch den Science-Po-Historiker Francois Dosse einen jungen Mann vermittelt wird, damit dieser ihm bei der Endredaktion seines letzten großen Werkes helfe. Dosse schreibt dazu:

In jeder Seminarsitzung bewunderte ich seine Fähigkeit, die Ergebnisse der letzten Sitzung zu synthetisieren und ingeniöse Schlüsse zu ziehen, auf einem Gebiet, das er a priori überhaupt nicht kannte.

Emmanuel Macron wird also für einige Jahre zum privaten Assistenten Ricœurs. Es war Paul Ricœur, der mich die Philosophie gelehrt hat, indem er mich die Klassiker lesen ließ. In einem Fernsehinterview äußert er gar im Ton des Liebenden: Wir haben uns getroffen,und dann haben wir uns nicht mehr verlassen. Auch wenn diese philosophische Romanze übertrieben sein mag. Eine gewisse Prägung – und Förderung – hat Macron sicherlich erfahren. Jahrelang gehört er zur Esprit-Redaktion und schreibt – in seinem charakteristischen „philosophischen“ Stil – politische Texte, wie diesen:

Die Behandlung der langfristigen Probleme impliziert manchmal eine Form von „Reduktion“ der öffentlichen Gewalt, d.h. Die Einrichtung von Mechanismen die durch die Zeiten hindurch eine beständige Anwendung garantieren, sowie einen Schutz gegen die Alea der Politik... Das Phantasma der politischen Aktion ist die schnelle, kurze, sofortige Aktion, jene, die nur scheinbar von den Zwängen und der Komplexität des Realen befreit (Was kann man für 2012 erwarten?).

Das ist natürlich des jungen Hoffnungsträgers Version der „langfristigen Vision der „aufgeklärten Elite“ und des kurzsichtigen Triebs des Volkes“, den Bourdieu 1995 vor den Streikenden aufs Korn nimmt. Aber der Ricœurismus geht weiter zurück in die Ideologiegeschichte. Anfang der 90er Jahre wird bekannt, dass Artikel des damals marxistische und pazifistischen Philosophen in einem Organ der Kollaboration erschienen sind, darunter einer mit dem vielsagenden Titel „Die Jugend und der Sinn des moralischen Dienstes“. Und schon 1939 kann man von ihm lesen:

Ich glaube, dass die deutschen Ideen des Dynamismus, der Lebensenergie der Völker mehr Sinn haben als unsere leere und heuchlerische Idee des Rechts.

In einem Gespräch in jenem emblematischen Jahr 1995 gibt er zu, bis 1941 von bestimmten Aspekten des Pétainismus fasziniert gewesen zu sein, dem Gefühl, dass man ein starkes Frankreich schaffen müsse, eine Überzeugung, die er übrigens mit einer anderen Vaterfigur der Zeitschrift Esprit und des kommenden Präsidenten teilte: Emmanuel Mounier. Der Begründer der Zeitschrift (1932) stand als Vertreter des christlichen Personalismus in der Nachfolge von Charles Péguy, der die „Person“ scharf vom „Individuum“ unterschied. Für Mounier ist das Individuum die Auflösung der Person in der Materie. Daraus folgt die Forderung nach einer „spirituellen Revolution“, in der „en même temps“ (gleichzeitig, ein Lieblungsadverb Mouniers, Ricœurs … und Macrons) die Dinge und die Menschen „transformiert“ werden:

Das Spirituelle bestimmt über das Politische und das Ökonomische. Der Geist muss die Herrschaft über seine Ziele bewahren, den Menschen oberhalb des Menschen , und nicht auf dessen Wohl-Sein.

Aber wie weit geht er Einfluss des Esprit-Geistes beim französischen Präsidenten? Am 9. April dieses Jahres hält Macron vor der französischen Bischofskonferenz seine große Rede (seine Reden sind immer groß) über das Verhältnis der Republik zum Katholizismus. Und er holt ziemlich weit aus:

Es gibt unzerstörbare Bindungen zwischen der französischen Nation und dem Katholizismus... Man muss nicht gleich zu den Erbauern der Kathedralen und zu Jeanne d'Arc zurückgehen. Die rezente Geschichte bietet tausend Beispiele: die Heilige Union von 1914, die Résistants von 1940, die Väter Europas, die Erfinder des modernen Syndikalismus bis hin zu Beltrame...

Locker geht der Präsident über die Trennung von Kirche und Staat hinweg, indem er die Kirche zu einer spirituellen Bewegung macht, die vom Dienst-und Opfergeist, Schlüsselwörtern des Personalismus, getragen wird. Die Beispiele zeigen ein sehr partikulares, aber signifikantes Geschichtsverständnis, dessen Komponenten die nationale Einheit im Krieg, die (allerdings im Vergleich zu den Kommunisten geringe) Zahl der christlich- konservativen Widerständler, die schon in den 30ern aktiven Europäisten (gerade der Zeitschrift Esprit) sind, die „moderne“, natürlich christliche Gewerkschaftsbewegung und der katholische Märtyrer Beltrame, der nicht fehlen darf. Und dann wird er deutlicher:

Die Dringlichkeit unserer gegenwärtigen Politik besteht im Wiederfinden ihrer Verwurzelung in der Frage des Menschen, um mit Mounier zu sprechen, der Person.

Natürlich weiß das Publikum, wovon die Rede ist. Macron versichert es mit Verweis auf den Meister:

Paul Ricœur lud sein Auditorium ein, diese Prospektive ohne Perspektive“ zu überholen.

Was ist nun die präsidentiale „Prospektive mit Perspektive“?

Was unser Land belastet (ein Wortspiel mit „grève“, also Streik), ist nicht nur die ökonomische Krise. Es ist der Relativismus. Es ist sogar der Nihilismus...Warum soll man lernen? Warum soll man arbeiten? Und vor allem: Warum soll man die Hand reichen und sich im Dienst für etwas Größeres als man selbst engagieren?

Nein, hier redet kein Pétainist. Hier spricht jemand in der Tradition des katholischen Personalismus, jemand, der ohne Bedenken öffentlich bedauert, dass

der Heilshorizont aus dem Gewöhnlichen der gegenwärtigen Gesellschaften völlig verschwunden ist, dabei habe doch Paul Ricoeur 1967 die „richtigen Worte“ gefunden, nämlich: ein fernes Ziel für die Menschen zu bewahren, nennen wir es ein Ideal, in einem moralischen Sinn, und eine Hoffnung, in einem religiösen Sinn.

In diesem Sinne zelebriert Macron diesmal nicht seine Ikone Jeanne d'Arc, sondern den Helden Beltrame. Eine Evidenz sei ins Herz des kollektiven Imaginaire graviert:

Wenn die Stunde größter Intensität kommt, wenn die Prüfung verlangt, alle Ressourcen, die man in sich hat, für den Dienst an Frankreich, dann brennen, beim wirklich Gläubigen, der Teil des Staatsbürgers und der Teil des Katholiken in einer einzigen Flamme.

Natürlich kommt es auf den Kontext der Rede im April 2018 an. Macrons zombie-metaphorische Sprache zielt einerseits auf die Akzeptanz des konservativen Katholizismus, vor allem aber auf die bevorstehenden Streiks der Eisenbahner und der öffentlichen Bediensteten. Ohne es zu sagen, wird den „materialistischen“, nur an ihr eigenes „Wohl-Sein“ denkenden Cheminots (der „Individuen“) der „spirituelle“ Heldenakt des Polizisten (der „Person“) gegenübergestellt. Die „privilegierten“, materialistischen Cheminots nehmen durch ihren Streik Frankreich als „Geisel“, ein Lieblingsbild der bürgerlichen Medien, während die guten Gewerkschaften (CFDT und die „Gelben“) „die Hand reichen“, oder sogar, wie Beltrame ihr Leben dem „Größeren“ opfern.

Paul Ricœur sprach 1995 von einen „Abgrund“ zwischen den „rationalen“ Eliten und dem „Begehren“ der „Leute“. Pierre Bourdieu demonstrierte vor den Streikenden den reaktionären Gehalt dieses Geredes. 2018 scheint sich die Situation in gewisser Weise zu wiederholen. Der neoliberale Präsident versucht autoritär die Reformen durchzusetzen, an denen 1995 Alain Juppé gescheitert ist (jener Juppé, der 2018 beinahe unschlagbarer Gegenkandidat Macrons geworden wäre). Dabei greift er wie selbstverständlich auf alte christlich-personalistische Ideologieregister zurück. Mit leuchtenden Augen und Tremolo erzählt er den ranzigen „Roman de l'énergie nationale“ des Urvaters aller Rechtsintellektuellen, Maurice Barrès, und unterwirft gleichzeitig („en même temps“) die Bevölkerung den europäischen, also prinzipiell deutschen Direktiven des ach so „rationalen“ Neoliberalismus (den die Individuen nicht verstehen können). Er profitiert dabei vom Habitus des ENA-Absolventen, der das biografische Glück hatte, einem großen Philosophen assistiert zu haben. Dass in seiner Welt der „Personen“ die einfachen „Individuen“ nur als fleißige Arbeitskräfte oder auch „Nichtstuer“, ja „Nichtse“ realisiert werden, kann ihm bei den „Personen“ seiner Welt nur nutzen. So, wie diese ihn be-nutzen.

Und Macron hat das Glück, dass es keinen Bourdieu mehr gibt, der ihm, wie 1995 seinem Meister, bedeutet, was er sagt und tut.

Pierre Bourdieu u.a., La misère du monde, Paris 1993

Ders., Sur la télévision, Paris 1996

Ders., Contre-feux, Paris 1998

Ders., Ein soziologischer Sebstversuch, Frankfrut 2002

Julien Duval u.a., Le "décembre" des intellectuels francais, Paris 1998

Zeev Sternhell, Ni droite ni gauche, Paris 2012

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