Wenn das Tatsächliche recht behält

Polemik Die Positionen Michael Bries (Die Linke) in der Streeck-Habermas-Debatte zeigen die Notwendigkeit einer Debatte über Die Linke

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wenn das Tatsächliche recht behält

Foto: Joern Haufe/Getty Images

Es ist vorbei. Die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen sich. So lautet die Schlussthese der "Gekauften Zeit" (1), dem viel diskutierten Buch des Soziologen Wolfgang Streeck. Mit hoher Wahrscheinlichkeit - so der Autor - erwartet uns ein "hayekanisches Gesellschaftsmodell der Diktatur". Nicht im historischen Trend liege eine Demokratie ohne Finanzkapitalismus. Sie kann immerhin gedacht werden - innerhalb eines Europa, in dem die Märkte von demokratischen Institutionen kontrolliert werden, in dem die "historisch gewachsenen nationalen Unterschiede ...einzubauen" sind und in einem Europa, das die "Verheerungen"des Neoliberalismus rückgängig macht.

Jürgen Habermas hat diese Position in derselben Zeitschrift kritisiert (2). "Rückbau statt Ausbau", empfehle Streeck. Er wolle ein Zurück "in die staatliche Wagenburg der 60er und 70er Jahre". Das "historisch Gewachsene" sei ebenso fiktiv wie "die Erwartung homogenisierter Lebensweisen". Im Gegenteil: es gebe einen "wachsenden Pluralismus der Lebensformen". Wenn auch nicht gerade optimistisch, so scheint Habermas doch noch zu hoffen, die europäischen Linksparteien könnten der nationalistischen Versuchung widerstehen und die "nationale zur sozialen Frage" machen. Allerdings ist er realistisch genug zu sehen, dass diese dabei sind, "ihren historischen Fehler von 1914 zu wiederholen". Und das wäre dann keine Farce, möchte man einen gewissen Marx paraphrasieren. Und auch keine richtige Widerlegung Streecks.

In der neuesten Ausgabe ergreift Michael Brie, Direktor bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Wort ( es mutet fast hegelianisch an: starke These - eher schwache Gegenthese - nun also marxistische Synthese?). Bries Statement liest sich wie eine Radikalisierung der Habermasschen Kritik: "Vorwärts in die Vergangenheit". Vor allem drei "grundsätzliche Probleme" der Ausführungen Streecks nimmt er ins Visier:

Erstens kritisiert er die dualistische Trennung von "Staatsvolk" und "Marktvolk" (Kapitaleigner und Management). Ersteres sei bei Streeck viel zu passiv, als "Weichling" dargestellt. Die Strecksche Erzählung erinnere an den alten deutschen Michel, der nun dem "Marktvolk" zu Diensten sei. Die Rede vom "Arbeit. und Konsumnehmer" schließe alle aus, die den Nachkriegskapitalismus umbauen wollten, "emanzipatorisch, sozial, feministisch, demokratisch und schließlich ökologisch." Und in der Tat nennt Streeck an anderer Stelle den Protest der APO (in den 60ern und heute) "emotional, irrational, fragmentiert, unverantwortlich" - weist aber auch darauf hin, dass "anderes nicht zu erwarten" sei. Die Verhältnisse waren und sind nun einmal so.

Allerdings überrascht es schon, dass Brie die letztlich stabilisierende Funktion des libertären Protests unterschlägt. Die Literatur zum "Erbe" der Achtundsechziger ist mittlerweile Legion. Die Utopien scheiterten jämmerlich. Resultat war der langsame Tod der "alten" Arbeitswelt, den ein modernisierter, individualisierter Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" ersetzte. Sein oder Design? Dazu verliert Brie kein Wort, auch nicht dazu, dass die damaligen Revolutionäre heute selbst (neoliberales) Establishment sind.

Zweitens - so Brie im Anschluss an Habermas - schätze Streeck den Neoliberalismus zu monolithisch ein. Das "neoliberale Projekt" entwickele nämlich "Einstiegsprojekte (die RL-Stiftung spricht gerne von und in Projekten), die eine ungeheure Attraktionskraft entfalteten." Der Neoliberalismus integriere "neue Lebensmöglichkeiten in sein Projekt". Brie geht so weit, die technik-affinen Mittelschichten als "Staats-" und "Marktvolk" zu identifizieren, also als Arbeiter/Angestellte und Kapitalisten zugleich. Das ist natürlich nicht Marx, sondern Schelsky, was nicht weiter schlimm wäre, wenn es der Wirklichkeit entspräche.

Allerdings sind die neuen "Lebensmöglichkeiten" oft prekäre Wirklichkeiten von pseudounternehmerischen Selbstausbeutern, was sicherlich auch Brie bekannt ist. Die Arbeitsbeziehungen werden seit Jahrzehnten durch Individualisierung ent-solidarisiert, die Arbeit selbst wird durch Verdichtung, Verlängerung und schlechtere Entlohnung entwertet. Immerhin formuliert Brie apart: "Nur die Gruppe (!) jener, die ganz von Sozialhilfe abhängt, könnte man überhaupt fast völlig Streecks Kategorie des Staatsvolkes zuschlagen (!)" Für alle anderen (ich kann leider auf Ironie nicht verzichten) "Volkskapitalisten" - und es folgt jener Satz, der für mich ins Sottisier der Gegenwart gehört - sei die "Krise als Chance" zu begreifen. Der dies schreibt, ist ein Marxist, der vorher bemängelt hat, dass Streeck sich nicht auf lebende Marxisten der BRD beziehe.

Aus seiner angeblich falschen Analyse folge drittens, dass bei Streeck die "Potentiale einer Wende hin zu einer grundsätzlichen Gesellschaftsformation unbedacht (bleiben)". Seine Verzweiflung führe in die Sackgasse. Die Streecksche Verzweiflung ist evident. Dass Habermas nur eine geringe Hoffnung hegt, ebenfalls. Wie sieht nun der Briesche Königsweg aus?

Es gibt - so Brie - kein Entweder-Oder. Die Zukunft sei offen. Das ist wohl wahr. Vier mögliche Zukünfte denkt der Autor: die eher unwahrscheinliche Fortsetzung des "autoritären Neoliberalismus", eine Allianz von Kapitaloligarchien und Rechtspopulisten, eine Art "grünen Finanzkapitalismus" und das von ihm als Linken präferierte Projekt: ein breites Unten-Mitte-Bündnis für einen "sozial-libertären Green New Deal. An anderer Stelle spricht er von einem "grünen Sozialismus". Brie füllt diese Hülsen folgendermaßen: es gehe um den Übergang von einer "Ökonomie der Güterproduktion zu einer Reproduktionsökonomie des Guten Lebens und die Verantwortung für die global Schwächsten."

Wer sagt, dies sei nicht konkret genug, hat recht. Wer feststellt, dass dies auch keine Widerlegung Streecks ist, ebenfalls. Ebenso, wie jene Frage, wie denn "Die-da-oben" auf das "Unten-Mitte-Bündnis" reagieren (etwa so, wie in Frankfurt-Istanbul-Kairo?) unbeantwortet bleibt. Wer die marxistische Analyse vermisst, muss anderes suchen (wird aber nicht viel finden). Wer sich fragt, wodurch sich die Partei Die Linke (für die Brie ja thinktankt) von den Grünen, den Sozialdemokraten und den Piraten unterscheidet, wird angesichts des Gesagten und Nichtgesagten ein wenig ratlos.

Ich zumindest frage mich als Linker langsam, warum es diese Partei noch gibt. Sie sei notwendig als "soziale Alarmanlage", sagt Katja Kipping. Ja dann.

(1) Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Frankfurt 2013. Das Schlusskapitel ist in Teilen abgedruckt in "Blätter f. dt. u. intern. Politik", 4/13

(2) Jürgen Habermas, Demokratie oder Kapitalismus, in "Blätter" 5/13

(3) Michael Brie, Vorwärts in die Vergangenheit? in "Blätter" 6/13

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden