Wenn Menschen Menschen jagen

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Es spricht Ortega y Gasset, der Philosoph der Jägerschaft: Im Spiegel seiner Vernunft akzeptiert der Jäger demütig sein animalisches Sein und dessen Grenzen. Hier, an der Grenze zwischen Tier- und Menschsein tätig, erfährt er sich selbst und das Gelingen dieser Natur-Kultur-Verschränkung als höchstmögliches Maß an Glück. Ein Glück, wie es wohl auch Louis XI. empfunden hat, als er 1476 in Amboise an der Loire zusehen konnte, wie seine königliche Hundemeute einen kapitalen Hirschen stellte und zerriss. Zumal man in die "Decke" des edlen Rotwilds einen echten Menschen gesteckt hatte. Nicht gerade eine subtile Jagd.

Diese Episode stellt Grégoire Chamayou, Philosoph und Mitarbeiter des Berliner Max-Planck-Instituts, an den Beginn seiner ungemein dichten Untersuchung über Menschenjagden (1). Es geht dem Autor nicht um die allgegenwärtige Metaphorik des Gegenstandes, sondern er bezieht sich - wie das Eingangsbeispiel zeigt - auf konkrete historische Phasen, in denen Menschen gehetzt, verfolgt, gefangen oder getötet werden. Damit setzt er sich vom Konzept der "Invarianten der Gewalt" (René Girard, Der Sündenbock) ab: Unter der scheinbaren Situationsähnlichkeit verbergen sich sehr unterschiedliche Formen von Macht. Dass deren Analyse und Reflexion angesichts der Materialfülle nur im Ansatz erfolgen kann, verseht sich von selbst.

In der Antike ist die Menschenjagd Sklavenerwerb. Chamayou beschreibt sehr dicht die "Kryptiae" der Spartaner. Zur Initiation in die Gesellschaft der Herrschenden jagen und töten die jungen Spartiaten, in Wolfsfelle gehüllt, des Nachts Heloten. Diese tragen traditionellerweise Hundehäute. Das Beutetier, schreibt Chamayou, tötet das domestizierte Menschentier. Damit werden die Beherrschten dem "Konzept" der Herrschenden angepasst. Für den Autor ist dies eine Art ontologische Polizeigewalt. Das schlechte Gewissen beruhigt man philosophisch, z.B. mit Aristoteteles: Die Sklaven sind so weit von den anderen Menschen entfernt wie der Körper von der Seele oder ein wildes Tier vom Menschen.

Nach einer kurzen Darstellung der Menschenjagden im Alten Testament (der Jäger-König Nimrod als Paradigma) und des frühen Christentums (Menschenfischer statt Menschenjäger) analysiert Chamayou die "Outlaws" des Mittelalters: Wir, Pilfort, Bischof von Pamiers, fürchtend, dass du wie ein räudiges Schaf die anderen Schafe ansteckst, erklären dich zum unbelehrbaren Häretiker und überlassen dich dem weltlichen Arm. Was dem armen Simon Roland hier zusetzt, nennt der Autor treffend das pastorale Modell der Menschenjagd. Es wurde übrigens von Augustinus vorgeformt. Man organisiert die Hatz. Die Proskribierten fliehen in die Wälder und werden mit dem Schafe reißenden Wolf assoziiert. Der Mythos des Werwolfs verbreitet sich. Der Stoff, aus dem die Romantik ist. Realhistorisch ist der Gebannte gleich dreifach exkludiert: aus der Gemeinschaft, der Legalität und der Sicherheit.

Für die moderne Menschenjagd ist die Eroberung Amerikas crucial, wie der Autor im Interview mit dem Nouvel Observateur sagt. Die alten Jagdmodelle re-kombinieren sich. Mit der Jagd auf die Indianer wird der Hund als "jagendes Werkzeug" systematisiert. Chamayou zeigt die ökonomische Funktion dieser Fang- oder Tötungsjagden, belegt aber auch, wie sie die aristokratische Lebensform mit dem Kick des grausamen Vergnügens stablisieren. Sachlogisch schließt sich die Jagd auf die Afrikaner an. Mit der Sklavenjagd entwickelt sich der Rassismus. Es sind die Jahrhunderte der Zoologen und Naturgeschichtler.

Im Verlauf der Moderne perfektioniert sich in Europa die Armenjagd. Man muss den Vagabunden nicht mehr ein "V" auf die Stirn brennen. Mit den Protoformen des Industriekapitalismus sperrt man die Nichtsesshaften ein und zwingt sie zur Arbeit. Das "It's economy, stupid" bekommt so eine aparte Bedeutung. "Helfen und Strafen" ist angesagt - als '"Fördern und Fordern" hallt es heute nach, möchte ich ergänzen. Chamayou beschreibt eine "sympathische" Armenjagd. man spürt zum Vergnügen der Damen besonders Bedürftige auf, um wohltätig sein zu dürfen. Aber Vorsicht. Ich erinnere an Zolas Germinal. Am Ende erwürgt der alte Bonnemort mit seinen dünnen Hakenhänden das unschuldige Wohltätigkeitsmädchen. Die Arbeiterklassen sind (damals) immer auch "Classes dangereuses".

Da hilft nur die Polizei. Und wieder einmal - in neuer Qualität - mit Hunden. Kurios erscheint der Bericht über einen internationalen Polizeihundewettbewerb in Rouen. Im Jahr 1907 scheuen sich die französischen Polizisten nicht, von den Polizeischäferhunden des Erbfeinds zu lernen. Neben der domestizierten Wolfsnase entwickelt man die wissenschaftliche Hatz. Die anthropometrische Identifizierung entsteht. Der Autor kann hier auf die berühmten Untersuchungen Ginzburgs zurückgreifen.Viele Methoden führen also zur "Wahrheit". Manche zu Lasten des Rechts. Die Transgresson des Gesetzes, der Gegensatz zwischen "handwerklicher" Spürnasenarbeit und "wissenschaftlicher" Jagd gehören mittlerweile zu jedem guten Krimi.

Das Zeitalter des Wegsperrens - Chamayou wendet hier intelligent Foucault an - produziert beim Gefangenen (dem eingesperrten "Wolf") permanente Fluchtversuche, worauf der Staat mit demonstrativer Hatz reagiert. Die entlaufene Beute muss - in die Enge getrieben - ostentativ erschossen werden. Ebenso die Arbeiterrebellen, wie der Autor am Beispiel der Unterdrückung der Commune 1871 zeigt.

Nach einer luziden Analyse der Lynchjagden, die eben nicht archaisch, sondern äußerst modern sind, der Rekonstruktion der französischen "Fremdarbeiter-Debatte" des 19. Jahrhunderts und einer recht kurzen Analyse der "Chasse aux Juifs" scheut Chamayou nicht das Thema der heutigen Jagd auf die "Illegalen". Nein, auch hier ist nichts metaphorisch. "Apatrid" zu sein, ist für den Autor ein "Zustand", der "Illegale" IST die Gesetzesüberschreitung. Sein Leben ist permanenter Bruch des Gesetzes. Da die Menschen- und die Staatsbürgerrechte praktisch gleich gesetzt werden, bedeutet die Nichtexistenz der letzeren den Verlust der Menschenrechte. Mich erinnerte die Lektüre an das Brechtzitat: Der Pass ist der edelste Teil des Menschen (Flüchtlingsgespräche). Dieser Status des "Exclus de la légalité" ermöglicht es, sich auf dem Arbeitsmarkt als Billigarbeitskraft jagen zu lassen. Die "Illegalen" tragen ihre Haut zu Markte". Diese Ausbeutbarkeit wird verstärkt durch die Polizeijagd, so dass die Beute in einem ständigen Wach- und Angstzustand leben muss. Die Kontrolleure können überall und jederzeit auftreten.

Ein zentrales Kapitel widmet der politische Philosoph Chamayou der "Jäger-Beute-Dialektik". Er steht dabei in der Tradition Canettis (Masse und Macht). Seine Frage ist brisant: Wie entwickelt der Gejagte eine "subjectivité politique" in der Situation des "Beute-Seins". Die Jagd ist bekanntlich dissymetrisch. Der "Beute-mensch" hat nur EINE Wahl: die Flucht. Das bedeutet einen ständigen "Wachzustand", er wird "animalisiert", von seiner Gruppe isoliert, jeder für seine eigene Haut (Canetti). Auch auf einem Sklavenschiff hat er nur EINE Wahl (Leben oder Tod). Das Leben als Sklave bedeutet dasLleben eines "mort viivant", eines lebenden Toten. Wie also kann dieses "Leben" aufgehoben werden? Nicht mit den Hegelschen Operatoren Arbeit und Disziplin, sagt Chamayou.

Da ist zunächst die Flucht. Die Freiheit, im HIER unmöglich, nimmt den Aspekt des ANDERSWO an. Die Herren reagieren, besser: lassen reagieren. Sie setzen Menschenjäger ein, empathische Jäger mit Bluthunden, die die Wolfsmenschen hetzen. Die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik wird zu einem Schema "à 3 termes". Es ist eben kein Duell. Und der Flüchtling muss aus der Situation des "Ich BIN für sie" herauskommen. Er muss sich mit den Augen der Jäger sehen. Aus der Angst muss Vernunft werden. Er antizipiert, entwickelt eine "semiotische Kunst", die Herrschaft über die eigenen Spuren. Und er wird als Beute - in seinem Bewusstsein - zum Jäger. Der Schritt zur Guerilla ist getan. Chamayou zeigt dies am Beispiel der Sklavenaufstände im Gefolge der Französischen Revolution. Aus der normalen Menschenjagd wird ein "kynegetischer Krieg" - mit den Konstituenten Waffengleichheit, Vermittlung durch einen dritten Aktanten, Mutation der Beute zum Feind, Verzicht auf die "noblen" Elemente der Jagd.

Es ist die klassische Situation. Das Wild wird zum Jäger, der Jäger zum Wild. Auch die Armen brauchen Zerstreuung, zitiert der Autor Jean-Claude Van Damme im Film "Menschenjagd", bevor er den armen Jäger hetzt. Und damit beginnt die Kritik. Die Rache des Beute-Menschen ist eine mimetische Rache. Die Jagd selbst wird damit nicht aufgehoben. Chamayou erwähnt die Revolutionen, die die Form riesiger Menschenjagden annahmen. Luzide nennt er dies die letzte Form der jagenden Gewalt. Meines Erachtens hätte er hier noch stärker auf das dritte Element der Menschenjagd eingehen sollen: auf die den Herrn vertretenden Jäger.

Insgesamt erwartet den Leser ein historisch und philosophisch spannendes Buch, das man sich manchmal ausführlicher gewünscht hätte. Es ist zudem gewürzt mit kritischen Appercus zu Hegel, Carl Schmitt und Agamben. Eine deutsche Übersetzung wäre wünschenswert.

(1) Grégoire Chamayou, Les chasses à l'homme. Histoire et philosophie du pouvoir cynégétique. Paris 2010 (La fabrique)

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