Wie hältst du's mit dem Totalitarismus?

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Eine etwas lange Rezension.

Man kann darauf wetten. Jede Diskussion über das vergangene Jahrhundert, über den untergegangenen "realen Sozialismus", über Kapitalismus und Faschismus, über die Achtundsechziger, über die Linke (ob Partei oder nicht) gerät irgendwann an den T-Point, dann nämlich, wenn Wort "Totalitarismus" fällt und jemand behauptet, irgendwie sei Rot ja doch wie Braun. Mißstimmung kommt auf, und die Diskussion ist dann in der Regel schnell beendet. Noch ein paar Invektiven. Für die einen ist der Begriff ein bürgerlicher Kampfbegriff und sein Verwender ein Kalter Krieger oder im besten Fall ein Bewohner des "Grand Hotel Abgrund" (Lukács). Für die anderen ist gerade die obsessive Abwehr des Totalitarismus ein Indikator für denselben.

Dabei schien bis in die achtziger Jahre die Totalitarismustheorie mausetot. Wer wissenschaftlich und politisch etwas auf sich hielt, lächelte nur noch müde und von oben herab über ihre letzten Vertreter, die sowieso von der CIA gesponsert waren. Das änderte sich schlagartig mit der Implosion der Länder des "realen Sozialismus". Der Wind of Change pfiff auch die alten Melodien der fünfziger Jahre. Und plötzlich waren es die Linken, die ziemlich nackt da standen. Hatte der SPD-Veteran Schumacher doch recht mit seiner Definition der Kommunisten als "rotlackierte Nazis"? Entsprachen die Kriterien der TT nicht allzu deutlich den Herrschaftselementen des untergegangenen "Sowjetimperiums"? Reichte da nicht ein Blick in die Stasi-Akten, um "Auschwitz in den Seelen" zu entdecken? Waren die Two Ways of Life Trumans also die einzig wahre Alternative im zwanzigsten Jahrhundert? Die französischen Medien und ihre Intellektuellen waren sich da völlig sicher. Schon vor dem Paukenschlag des "Schwarzbuchs des Kommunismus" hatte der berühmte Revolutionsexperte Francois Furet den "kriminogenen Charakter" der kommunistischen Ideologie diagnostiziert.

Und während unsere Nachbarn beim liberalen Furet und später bei den exmaoistischen Konvertiten des Schwarzbuchs lasen, was sie auch vorher schon immer gesagt hatten, mussten wir uns mit Nolte begnügen. Der Bolschewismus ist also "ursprünglicher" als der Faschismus, der Massenmord an den europäischen Juden also ein abgeleitetes Verbrechen, eine Imitation des bolschewistischen "Klassenmords", was man jetzt wissenschaftlicher Soziozid nennt. Zwar stellten sich die Verfassungspatrioten Habermas und Wehler der Nolteschen Perspektive vehement entgegen - und doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass -warum auch immer - Teile der bundesdeutschen Intelligenzia der extremistischen Totalitarismusvariante Noltes nicht ganz abgeneigt sind - auch, wenn mandies entrüstet von sich weisen würde. Schließlich ist man weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind. Und schließlich hat die 68-er Bewegung in den RAF-Terror geführt - linke Revolutionen, bringen sie nicht immer Terrorphasen mit sich: die Terreur der Jakobiner, die Commune de Paris, die Oktoberrevolution - ganz zu schweigen von Mao, den Vietkong, den Roten Khmer. ist doch logisch - oder? Und hat eine hessische Nachwuchspolitikerin nicht in einer von Prof. Jesse betreuten Dissertation nachgewiesen, dass es eine Affinität der PDS zum Totalitarismus gibt, weshalb sie ihrer Parteivorsitzenden die Gefolgschaft verweigern musste?

Es ist also an der Zeit, zu überlegen, wie man hinsichtlich des Totalitarismus redlich argumentieren kann? Ohne diese entsetzlichen Aufrechungen nach dem Muster: "Unseren" Millionen Opfern setzen wir eure Abermillionen Opfer entgegen. Bei Losurdo (1), dessen kenntnisreiche Überlegungen ich nicht klein reden möchte, schwingt das mit. Sicherlich hat er recht, wenn er den "Revisionisten" à la Furet vorwirft, dass von ihnen "eine von einem Ausnahmezustand in einer Situation aktueller Gefahr beurteilte Tradition einer anderen Tradition entgegengehalten wird, die ausschließlich von den Epochen der Normalität her beurteilt wird." Das heißt, wir sehen die "Glorious Revolution" oder den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, nicht aber die Unterjochung der Iren und Schotten, nicht den amerikanischen Bürgerkrieg, geschweige denn die atemberaubenden Opferzahlen des erzkapitalistischen Imperialismus. Dafür legen wir den Finger in die klaffenden Wunden des Jakobinerterrors, des stalinistischen Wütens oder der chinesischen Kulturrevolution.

Losurdo rückt sicherlich die Verhältnisse zurecht, doch kann sie eine Linke, die immer auch humanistisch ist, nicht zufrieden stellen. Eine Aufrechnung mag ideologisch und politisch V erbohrte zum Verstummen bringen - eine redliche Auseinandersetzung muss aber weiter gehen. Die Scham darüber, dass diejenigen, welche die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein für allemal abschaffen wollten, zu Verbrechen fähig waren, die wir nur allzu gern als genuin faschistisch bezeichnen, darf nicht verdrängt werden.

Das neue Buch Enzo Traversos könnte uns aus dem Dilemma befreien (2). Er geht über die Ansätze sowohl eines Habermas als auch eines Losurdo hinaus. Als Historiker weigert er sich, "in posttotalitärer Empfindsamkeit eine ethisch-politische in eine historische Kategorie zu verwandeln." Kritische historische Analyse muss sowohl eine "ideologische Stigmatisierung" als auch eine "blinde Verteidigung" überwinden. Dafür ist für Traverso ein Perspektivwechsel notwendig, von der Fokussierung auf die Opfer, die den Historiker "in eine Art Anwalt der Erinnerung verwandeln" zu einer historischen Täteranalyse, ohne jedoch in die Falle zu tappen, in der ein Nolte wartet.

Traverso geht heuristisch vom Konzept des europäischen Bürgerkriegs aus. Er stellt einen Zyklus von Krisen, Kriegen und Revolutionen fest, der sich wiederum in drei Phasen einteilen lässt: von der Oktoberrevolution bis zum gescheiterten Hamburger Aufstand 1923, die Zeit des spanischen Bürgerkriegs und der zweite Weltkrieg selbst. Diese Phasen sind eng mit einander verwoben. Damit ist eine in alle drei Phasen manifest werdende Dialektik einer ungeheuren Gewalt verbunden. Traverso stellt dies für die erste Phase exemplarisch an den Bürgerkriegen in Deutschland und Ungarn, in Finnland (wo - wenig bekannt - der weiße Terror 20000 "Roten" das Leben kostete) und vor allem im revolutionären Russland dar. Er belegt die Komplexität des Geschehens, in dem sich soziale, politische und nationale Konflikte "überlagerten". Gegen Furet wird deutlich, dass die kommunistische ideologie zwar bei der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" (Lenin) eine Rolle spielte, dies aber - und das ist thematisch relevant - in einem bestimmten und bestimmbaren historischen Kontext. Einem Kontext, "in dem aus der internationalen kommunistischen Bewegung eine Verteidigungsarmee der bedrohten Revolution, aus der bolschewistischen Erfahrung ein Modell für die Revolution in Europa und aus dem bewaffneten Aufstand ein normatives Paradigma wird." Ein Paradigma mit Folgen, möchte man hinzufügen: Die "Methoden und Praktiken des Grabenkriegs wurden auch auf die Zivilgesellschaft übertragen."

Eine von den Akteuren weitgehend akzeptierte Terrorbereitschaft bricht sich Bahn: "Es herrscht hier das Gesetz: Töten oder getötet werden ... Dieser ständige leichte Blutgeruch, der hier in der Luft hängt, erzeugt in uns einen Geisteszustand, aus dem der Terror notwendigerweise hervorgehen muss" (Victor Serge), zit. S. 83). Traverso zeigt auf, wie der mühsam implementierte Zivilisationsprozess im Bürgerkrieg regrediert. Diese Gewaltexzesse entstehen im Status des "leeren Throns", im Schwebezustand nach dem Verlust des staatlichen Gewaltmonopols. Es wird aber auch deutlich, wie zum Beispiel die anarchische Gewalt in Spanien während der Erholungsphase des republikanischen Staates endete, während der Terror der franquistischen Antirepublikaner mit ihrer staatlichen Konsolidierung zunahm.

Traverso zeigt überzeugend das fatale psychohistorsiche Erbe des Ersten Weltkriegs auf. Die Angst als Signatur der Zeit. Am Beispiel der italiensichen Arditi wird die ideologische Arbeit des Faschismus deutlich: Die Angst wird transformiert zur konkreten Furcht (vor dem Kommunismus, ich ergänze mit Theweleit: vor den roten "Flintenweibern"), und diese in Hass. Allegorien werden generiert, Leviathan und Behemoth beim rechtsextremen Schmitt und beim linksliberalen Neumann. Sie figurieren auch in der bildenden Kunst und im Film.

Jünger und Schmitt, aber auch Trotzki und Gramsci betonen die schöpferischen Tugenden der kämpferischen, auch der terroristischen Subjekte. Das bedeutet für Traverso aber nicht, dass les extrêmes se touchent (von eher irrelvanten Episoden abgsehen). Im "Zeitalter der Extreme entstand eine "Katastrophensituation", die extreme Lösungen produzierte. Das Zeitalter der liberal-bürgerlichen Demokratie schien passé. Die Zahl der links engagierten Intellektuellen vor allem nach 1933, war Legion. Der spanische Bürgerkrieg überzeugte viele von der Richtigkeit des Engagements. Antifaschisten waren sie alle. Die Identifizierung von Antifaschismus und Kommunismus ist eine nachträgliche Projektion für Traverso. Man könnte - Nolte persiflierend - behaupten, dass der Antifaschismus historisch "usprünglicher" als der Kommunismus sei.

Aus der komplexen Dialektik zwischen Faschismus und Kommunismus ergibt sich ein Ansatz der Erklärung des Verschweigens der stalinistischen Massenverbrechen. "Die Verdrängung des Stalinismus entsprach der Schwere der faschistischen Bedrohung" (S. 297). Traverso verweist auf das Versagen und teilweise Überlaufen der wirtschaftliberalen Eliten in der Zwischenkriegszeit hin. Heute muss man natürlich von Selbsttäuschung sprechen, fassungslos den Kopf schütteln, wenn man die stalinschen Elogen Aragons, Brechts oder auch Blochs liest. Aber es ist dies ein, sagen wir, unhistorisches Kopfschütteln: "Der Kampf gegen den Faschismus benötigte eine Hoffnung, eine emanzipatorische und universelle Botschaft, die damals nur das Land der Revolution von 1917 anzubieten schien" (S. 301). Dass diese Hoffnung ausgerechnet das stalinistische Paradigma war, bezeichnet Traverso als "die wahre Tragödie des 20. Jahrhunderts" (ebd.). So ist es in der Tat.

Die zweite antifaschistische Blindheit bezieht sich auf den Charakter des Holocaust, einer Blindheit, der Traverso leider nur einen kurzen Abschnitt widmet. Er findet die Ursache im Fortschrittsglauben vieler Antifaschisten, für welche die Faschisten auch in der NS-Variante nur Repräsentanten der Gegenaufklärung waren. Dass Auschwitz, wie Adorno und Horkheimer belegten, ebenfalls ein Produkt der Moderne war, war für die Antifaschisten im damaligen historischen Kontext undenkbar.

Traverso legt ein Buch vor, dem man nur viele Leser wünschen kann, auch im Sinne einer Historisierung politischer Theorien. Er zeigt beeindruckend, wie erkenntnisbereichernd kritische analytische Geschichtsschreibung sein kann. Er belegt am Material, dass eine eingehende Beschäftigung mit der Dialektik von Faschismus und Kommunismus eben nicht in die Nolteschen Fallen führen muss. Er selbst ist weiterhin ein Linker, ein weiser Linke ohne Zweifel. Dass er auch den eigenen politischen Weg historisiert, versteht sich bei diesem Anspruch fast von selbst.

Ja, und wie soll man es nun mit den Totalitarismusvorwürfen halten? Nun, nach der Lektüre Travrsos sollte man mit Gelassenheit reagieren. Die Vorwürfe ernst nehmen, die Sachverhalte historisieren (was denn sonst?) und - vorsichtig - ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft bedenken. Das ist viel und wenig zugleich, setzt aber historische Bildung und (!) die Fähigkeit zur Scham voraus.

Epilog

Mit dem Stichwort historische Bildung bin ich bei einem Ralf Hanselle wohl an den Richtigen geraten, der sich in der Frankfurter Rundschau vom 27. März d.J. an einer Rezension des Traverso-Buches versucht. Er glaubt den Autor metaphorisch zum "Steinewerfer" auf Ernst Nolte machen zu können, indem er "Noltes Grundkonzept, das den Faschismus als 'Antimarxismus' begreift, für zweifelhaft hält." Wie kann man nur! Zudem "will Traverso bei Nolte einen apologetischen Ansatz erkannt haben." Das "will" der Traverso aber nur, denn dass Nolte apologetisch verfährt, stimmt natürlich nicht. Hanselle weiß das besser. Er weiß auch, dass Traverso Mitglied der trotzkistischen LRC ist, der aber - Trotzkisten sind auch keine Marxisten mehr - "nicht die Wirkkraft des Faktischen, sondern das Walten großer Geister und Ideen ... hinter der Geschichte erkennt," und der dann auch noch "sein Untersuchungsgebiet (Hanselle schreibt wirklich ...gebiet) durch schöngeistige Texte zu flankieren sucht." "Schöngeister" sind sie also, die Schmitt und Trotzki, die Jünger und Benjamin, die Gramsci und Ortega y Gasset. Gipfel der "Rezension" ist die Applikation des Höhlengleichnisses. Für Hanselle sitzt Traverso nämlich in einer "Ideologenhöhle" - "und dort sollte man nicht mit Steinen werfen" - schreibt er, doch, wirklich! Man sollte ein Buch über "Rezensionen von ungelesenen Büchern" schreiben! Also, ich merke selber: die oben von mir postulierte historisch gesättigte Gelassenheit ist nicht einfach!

Literatur

(1) Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, Köln 2007 (ital. 2002)

(2) Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg. Berlin 2008 (frz. 2007)

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