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Streikkultur Streiks, Fakultätenbesetzungen, Demonstrationen, Einsatz der Ordnungskräfte – in Frankreich fließt Maienluft. Anlass für einen Rückblick auf den großen Streik 1968

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Kein Dokument gibt den Geist des Mai 68 besser wieder als der kurze Dokumentarfilm La reprise du travail aux usines Wonder (In den Wonder-Fabriken wird die Arbeit wieder aufgenommen).

Ein altes Fabrikgebäude, auf dem Dach eine Banderole Wir geben nicht auf. Wir gehen nicht rein. Wir sehen eine Menschenmenge vor dem Eingangsgitter. Plötzlich ertönt ein Schrei: Nein, ich gehe' da nicht rein. In diesen Knast setze ich meinene Füße nie mehr! Die Kamera zeigt eine junge Frau in weißer Jacke. Zwei Männer reden ihr zu, Gewerkschaftler. Das da ist der letzte Dreck! Alles ist zum Kotzen! Ich geh' da nicht rein! ruft die Frau. Sie weint. Die Männer versuchen sie zu beruhigen. Es ist doch nicht alles vorbei. Das ist doch nur eine Etappe. Sie haben Zugeständnisse gemacht. Es gibt 10 Prozent mehr. Sie können nicht mehr machen, was sie wollen. Das ist doch ein Sieg! Die Frau spricht von Dreck, ihrem Ausgeliefertsein und Tricksereien bei der Abstimmung. Ein junger Mann, wohl ein Student, tritt hinzu. Die Männer diskutieren – allgemein – über die Macht der Unternehmer. Kann man ihnen trauen oder nicht? Plötzlich hört man ein deutliches Ich bitte, diejenigen, die bei Wonder arbeiten, in Ruhe einzutreten. Ich wiederhole: Treten Sie in aller Ruhe ein. Man sieht einen bebrillten älteren Mann im Anzug, den Patron. Kurzer Suspens. Dann folgen die Arbeiter und Arbeiterinnen stumm der Aufforderung. Nacheinander betreten sie unter den Blicken des Patrons das Gebäude dem anderen betritt das Gebäude. Der schaut schließlich noch einmal auf die Straße , bevor auch er eintritt. Ende des Films. Arbeiter werden nur gefilmt, wenn sie nicht arbeiten. Mit dem Eintritt verlassen sie den öffentlichen Raum.

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Aufgenommen wurde die Szene wurde am 10. Juni 1968. Drei Wochen hatten die Wonderarbeiter den Betrieb besetzt, nun aber mehrheitlich für die Wiederaufnahme der Arbeit gestimmt. Die junge Frau und ihre Kollegen wussten, welche Arbeitsbedingungen sie in der Batteriefabrik erwarteten. Daran änderte auch die Lohnerhöhung nichts. Die schönen Worte der Arbeitervertreter schon gar nicht. Nach der plötzlichen Hoffnung auf ein anderes Leben wurde der Arbeiterklasse (und vor allem den Frauen) der Grund ihrer Existenz klar gemacht: Treten Sie in aller Ruhe ein.

Der Streik geht weiter

Die Bilder der Barrikadenkämpfe verdecken zumeist die Bilder des Generalstreiks vom Mai-Juni 68, und diese verbergen wiederum eine ganze Kette bedeutender Streiks im Jahr davor, vor allem im Westen Frankreichs – stets geprägt von Auseinandersetzungen mit den CRS. So im Oktober 1967 in Le Mans, wo Bauern, Arbeiter und Angestellte gegen die Verordnungen zur Sozialversicherung protestieren. Im Januar 1968, in Caen, wo vor allem die jungen Hilfsarbeiter der Auto- und Elektroindustrie gegen die Verschärfung des Arbeitstaktes und die niedrige Bezahlung kämpfen. Die Unternehmer setzen „Gelbe“ ein. Angesichts ihrer Aussperrung ziehen die Streikenden in die Stadt. Vor der Präfektur kommt es zu harten Kämpfen mit den CRS. Europe 1 und andere Sender berichten. Der Kampf dauert 5 Stunden. Es gibt mindestens 70 Verletzte. Der aus dem Jahr 1947 stammende Slogan „CRS=SS“ wird hier wiedergeboren. Der Streik nimmt bestimmte Momente des Mai 68 vorweg: die Solidarität der Bevölkerung (Studenten und Schüler sammeln für die Streikkasse, Bauern und Fischer bringen Lebensmittel) und der besondere Aktivismus der jüngeren Arbeiter, die noch nicht gewerkschaftlich "genormt" sind und durchaus antiautoritär auftreten.

Nach den Gewaltexzessen der „Nacht der Barrikaden“ vom 10. Mai 68 in Paris rufen, auf Initiative der kommunistischen CGT, die großen Gewerkschaften zu einem eintägigen Generalstreik und Solidaritätsdemonstrationen auf. Am 13. Mai protestieren Hunderttausende in der Hauptstadt, in der ersten Reihe der "Gauchiste" (linksextreme) Cohn-Bendit und der kommunistische CGT-Generalsekretär Georges Séguy. Beide sind sich in herzlicher Abneigung verbunden. An der Demonstration nehmen auch alle relevanten Politiker der Linken teil (allerdings in den hinteren Reihen). Und am Abend liefert liefert das Journal des staatlichen Senders ORTF ein schönes Beispiel des Zahlenkriegs. 172.000 Teilnehmer wollen die Reporter gezählt haben, obwohl selbst die Pariser Polizeipräfektur von 230.000 ausgeht. Ergebnis des Fakens: Am folgenden Tag beginnt der Streik der ORTF-Mitarbeiter.

Der Generalstreik vom 13. Mai wirkt als Katalysator. Schon am 14. Mai wird – nach einer langen Konfliktgeschichte - die Flugzeugfabrik Sud-Aviation in der Nähe von Nantes besetzt. Die Direktion wird „sequestriert“ (festgesetzt). Der Raum und die Produktionsmittel gehören von nun an den Arbeitern und Angestellten. Nantaiser Studenten organisieren einen Solidaritätsmarsch von der Universität zur Fabrik. Sie diskutieren die ganze Nacht mit den Streikposten. Trotz scharfer Kritik durch Georges Séguy (über Radio), wird die Festsetzung der Direktion nicht aufgehoben. Auch die CGT-Basis setzt sich über ihren Generalsekretär hinweg.

Am 15. Mai verlassen junge Arbeiter von Renault-Cléon in der Nähe von Rouen die Fertigungsbänder, besetzen die Büros und sequestrieren ebenfalls die leitenden Kader. Am 16. Mai stehen alle Räder in den Renaultwerken still. Auch im öffentlichen Dienst wird massenhaft gestreikt. Am 17. Mai sehen die Fernsehzuschauer verlassene Bahnsteige und Gleise ohne Züge, Bilder, die sich noch heute im kollektiven Gedächtnis wiederfinden (weshalb die SNCF-Direktion zu Beginn des gegenwärtigen Streiks France 2 verboten hat, auf dem Bahngelände zu filmen). Der Pilgerzug nach Lourdes darf selbstverständlich fahren.

Treibende Gewerkschaft des Generalstreiks ist die CFDT, und nicht die millionenstarke CGT. Viele junge Arbeiter streiken zum ersten Mal, und dann gleich in dieser Wucht. Ein Teilnehmer berichtet rückwirkend über den symbolischen Akt der Besetzung:

Man kann das Revolutionäre an einer Betriebsbesetzung nicht genug unterstreichen. Wenn man die Direktion aus seinem Unternehmen wirft, wenn man die Büros besetzt, die die Arbeiter höchsten im Augenblick ihrer Entlassung betreten dürfen, wenn man die rote Fahne hisst, das Symbol des Klassenkampfes der Arbeiter, macht man das nicht, um ein paar Sous mehr zu erhalten.

Die Aneignung der Arbeitsstätte, die Emanzipation von der Macht des Patrons und der „kleinen Chefs“, die ihre Wichtigkeit krawattesk unterstreichen, verweisen auf die Möglichkeit einer anderen Welt, die eine Zeitlang als real erlebt wird. Ihre rebellischen Ansprüche, die Ablehnung von Hierarchie durch die 18 bis 20jährigen verunsichern jedoch die älteren Arbeiter, vor allem aber die Kader der CGT. Teilweise versuchen diese, Kontakte mit den Studenten, diesen „Bürgersöhnchen“, zu verhindern. Im Hauptwerk Renault-Billancourt, "der roten Festung" und Hochburg der CGT, ist Studenten der Zugang zu den Fabrikhallen untersagt. Die CGT-Führung fürchtet durch Studenten provozierte spontaneistische Aktionen („Abenteurertum“), die vom vorgeschriebenen, dem legalenWeg abweichen könnten. Der Politologe und Sartre-Antipode Raymond Aron urteilt im Figaro:

Zu keinem Zeitpunkt haben die kommunistische Partei und die CGT zum Aufruhr beigetragen. Zu keinem Zeitpunkt haben sie die gaullistische Herrschaft stürzen wollen... Ihr konstantes Ziel war es eben nicht, „die Revolution“ zu machen, sondern sich auf der Linken nicht von den Studenten, Maoisten und jungen Arbeitern überrennen zu lassen.

Der Historiker Eric Hobsbawm, Zeitzeuge des Mai 68, analysiert:

Die französische KP scheiterte nicht nur als Revolutionspartei, sondern auch als Reformpartei. Sie hinkte ständig den Massen hinterher, verkannte, bis die Barrikaden errichtet waren, die Bedeutung der Studentenbewegung und verkannte auch die Bereitschaft der Arbeiter zum unbeschränkten Generalstreik, bis die spontanen Sitzstreiks ihren Gewerkschaftsführern die Augen öffneten, und sie war wiederum überrascht, als die Arbeiter die ihnen präsentierte Schlichtungsvereinbarung ablehnten.

Hobsbawm schreibt – 34 Jahre nach den Ereignissen – über seine eigene Erfahrung mit Vertretern der kommunistischen Partei im Mai 68:

Und tatsächlich hat mich damals nichts so schockiert wie die Versammlung, zu der ich und einige weitere Marxisten vom Institut Thorez eingeladen waren. Niemand schien von dem, was draußen vor sich ging, Kenntnis zu nehmen. Haben wir nichts zu dem zu sagen, fragte ich, was auf den Straßen passierte, auf denen wir zu dieser Versammlung gegangen waren?

Die (un)mögliche Einheit intellektueller Infragestellung des Systems und des Kampfes der Arbeiter bestimmt - negativ wie positiv - das Denken der Protagonisten. Die KP und die CGT wollen sie , wenn nicht verhindern, so doch kontrollieren (aus innen- und außenpolitischen Gründen), die nichtkommunistische Linke, mehr oder weniger offen, fördern, und die regierenden Gaullisten instrumentalisieren, um sie zu verhindern.

Retour à la normale

Die vom 25. bis 27. Mai mit der Regierung und den Unternehmerverbänden unter dem Druck des Generalstreiks ausgehandelten Abmachungen bedeuten zweifellos materielle Fortschritte. Im oben erwähnten Film weisen die CGT-Vertreter die Wonder-Arbeiterin stolz darauf hin. Sie haben es schwarz auf weiß. Und: Wir werden wachen! Doch die junge Frau ist von alledem nicht so überzeugt. Ebenso wenig wie die Arbeiter des Renault-Hauptwerks Billancourt, vor denen Georges Séguy am Morgen des 27. Mai die Verhandlungsresultate verkündet: Es gibt starken Applaus bei den Punkten Lohnsteigerung, Erhöhung des Mindesteinkommens, Arbeitszeitverkürzung, mehr gewerkschaftliche Rechte in den Betrieben, doch plötzlich geht die Ankündigung, die Unternehmer seien bereit, 50 Prozent Streikentschädigung zu bezahlen, in lauten und wütenden Protesten der Basis unter. Die Abstimmung ergibt: Der Streik geht weiter. So wie in den meisten Großbetrieben Frankreichs. 9 Millionen Arbeiter haben die Wirtschaft paralysiert.

Es wird dramatisch. Die Regierung steht auf der Kippe. Innerhalb weniger Tage ist sie gleich zweimal gescheitert: politisch (eine sehr schwache Rede De Gaulles vom 24. Mai ist ohne Wirkung geblieben) und sozial, denn mit der Weiterführung des Generalstreiks verpufft auch die Methode der Zugeständnisse. Doch währt das Machtvakuum nur kurz. Charles de Gaulle versichert sich der Unterstützung des Militärs (für den Fall der Fälle). Am 30. Mai verkündet er in einer großen Rede die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen im Juni. Damit werden die politischen Entscheidungen auf ein Terrain verschoben, das der General beherrscht. Und so präsentiert der Après-Mai 68 noch einmal einen Gaullismus in Hochform. Schon am 30. Mai zeigt sich das „wahre“ Frankreich: Fast eine halbe Million Menschen demonstrieren für Ruhe und Ordnung, für die Wiederaufnahme der Arbeit, für die Nation, für den General.

Virtuos spielen die Gaullisten mit den Ereignissen. Bei einer Studentendemonstration in Lyon wird ein Polizist getötet. Es entbrennt eine wilde Schlacht zwischen den CRS und den Demonstrierenden. Bei Auseinandersetzungen in Paris wird ein junger Mann durch einen Granatensplitter getötet. Die Behörden sprechen allerdings vom Messerstich eines Demonstranten. Bewusst erzeugen sie die Angst vor einem Bürgerkrieg mit den „Katangas“,

dem Abschaum aus der Unterwelt von Paris, der mit todbringender Wut kämpft und den Anarchisten, die gut auf den Straßenkampf vorbereitet sind, die Guerilla,

so die netten Worte des Innenministers. Sie sind an die gerichtet, denen die Schrecken der Kolonialkriege noch in den Knochen stecken. Und sie zeigen Wirkung.

In vielen Bereichen wird nach Betriebsverhandlungen und Abstimmungen die Arbeit wieder aufgenommen. Zwecks Beschleunigung der „Reprise du travail“ statuiert die Regierung Exempel in der Autoindustrie: In der Nacht vom 6. zum 7. Juni umzingelt eine Tausendschaft von CRS Renault-Flins (im Westen von Paris). Maoistische Studenten und Schüler kommen den Arbeitern zuhilfe. Sie werden von den CRS gejagt. Ein Schüler springt in Panik ins Wasser und ertrinkt. Am 10. Juni ruft die Direktion der Peugeotwerkstätten in Sochaux die CRS. Bei den Auseinandersetzungen kommen zwei Arbeiter zu Tode. Es gibt 84 Verletzte. Diese Repressionen provozieren wütende Barrikaden- und Straßenkämpfe in Paris. Die spielen wiederum den Regierenden in die Hände. In einem großen Fernsehinterview beklagt sich der mit „mon général“ angesprochene Präsident über die „Subversion“:

Eine Explosion hat sich ereignet, im universitären Milieu provoziert durch einige Gruppen, die sich an der Verneinung, der Anarchie, der schwarzen Fahne delektieren...Und dasselbe passiert in bestimmten Fabriken, bei den jungen Arbeitern... Der kommunistische Totalitarismus hat sich entschieden, alles im allgemeinen Streik zu ertränken. Das ist die Paralyse.

Der Ministerpräsident Pompidou fordert auf einer Pressekonferenz:

An die Arbeit, das ist die Pflicht Frankreichs. Er dekretiert: Die Regierung Frankreichs ist nicht die Regierung der Studenten.

Und die kommunistische Partei? Die ruft wie die CGT zur Wachsamkeit gegenüber den Linksradikalen auf und … zur Wiederaufnahme der Arbeit. Am 11. Juni streiken immer noch eine Million Arbeiter. Die Leitung von Sud-Aviation organisiert am selben Tag eine Abstimmung über die Wiederaufnahme der Arbeit im Rathaus. Die Streikenden stürmen das Gebäude, ersetzen die Trikolore durch die rote Fahne und verprügeln (die meisten kaum, einige mehr) die Arbeitswilligen. Jedoch ergibt eine Befragung in der Fabrik eine schwache Mehrheit für die Wiederaufnahme. Am 12. Mai Ab dem 17. Juni arbeitet auch Sud-Aviation wieder „normal“.

Die Regierung nutzt das Verbot jeder Demonstration während des Wahlkampfs. Am 16. wird die Sorbonne evakuiert. Und in der dritten Juniwoche ist alles wieder beim Alten: bei Renault-Billancourt wehen am 18. Juni in einen imposanten Zug von 15.000 Streikenden zur „Arbeiterfestung Billancourt“ noch einmal die roten Fahnen. Ein letztes Mal.

Wie zu erwarten gewinnen am 30. Juni die Gaullisten die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Noch am Vortag ist ein junger Kommunist beim Ankleben von Wahlplakaten von Rechtsradikalen erschossen worden.

Zu der Zeit hat eine junge Arbeiterin einer Batteriefabrik schon wieder 14 Tage ihres Lebens für das Wohl ihres Patrons in ihrem „Knast“ verbracht, unter wahrhaft frühkapitalistischen Bedingungen, wie man heute weiß. Jedoch mit etwas mehr Lohn. Und einen Gewerkschaftsvertreter in ihrem Betrieb. Bis heute kennt man nur ihren Vornamen: Jocelyne. Sie hat wohl nicht lange bei Wonder gearbeitet. Aber auch das weiß man nicht genau. Geblieben sind die Bilder einer Frau, die nach einigen Wochen der „neuen Idee des Glücks“ in die alte Welt der Ausbeutung zurückkehren soll, als ob nichts gewesen wäre.

Kristin Ross, Mai 68 et ses vies ultérieures, Paris 2010

Jean-Pierre Le Goff, Mai 68, Paris 2002

Eric Hobsbawm, Mai 1968 (1969), in ders., Ungewöhnliche Menschen, München 1998

Michèle Zancarini-Fournel, Les luttes et les rêves, Paris 2016

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