DER MYTHOS VON MUSTAFA SHOKAI

Eine Kontroverse Mustafa Shokay, eine historische Figur, wird bald achtzig Jahre nach seinem Tod noch immer sehr widersprüchlich beurteilt!

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In Kasachstan, seinem Herkunftsland, werden Straßen nach ihm benannt und Denkmäler für ihn errichtet. In anderen ehemaligen Sowjetländern wird er oft als faschistischer Kollaborateur gebrandmarkt. In dieser Diskussion gibt es scheinbar keine Gleichgültigkeit, es gibt entweder Befürworter oder Gegner. Das ist ein guter Grund sich anlässlich seines nahen achtzigsten Todesjahres mit der oft unkonventionellen und vielschichtigen Persönlichkeit von Shokay erneut zu beschäftigen.

Leider interessieren sich heute nur noch wenige Menschen für die historische Biografie von Mustafa Shokay vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Er war Politiker, Journalist, Antisowjetiker, Emigrant, Verfechter des Lebens seines Volkes und vieles mehr.

Das Hauptinteresse in den letzten Jahren galt ob und wie produktiv Shokay mit Hitler-Deutschland zusammengearbeitet hat. War er ein Anstifter (oder ein „Kollaborateur“, wie man heute eher sagen würde), oder nicht.

GEDACHT, ABER NICHT GETAN

Zunächst sollten wir uns vielleicht mit dem Begriff „Kollaborateur“ befassen. In der juristischen Auslegung des Völkerrechts bedeutet dieser Begriff die bewusste und freiwillige Zusammenarbeit mit dem Feind in dessen Interesse und zum Nachteil des eigenen Staates. Hier beginnen die Schwierigkeiten.

Wenn wir die Chronologie der Ereignisse verfolgen, ergibt sich ein sehr gemischtes Bild. Am 22. Juni 1941, dem Tag des Angriffs auf die Sowjetunion, führten die Nazis im besetzten Paris eine Operation durch, um prominente Persönlichkeiten der Emigration festzunehmen, darunter auch den zum damaligen Zeitpunkt französischen Staatsbürger Mustafa Shokay.

Die Festgenommenen wurden in ein Schloss in Compiègne gebracht, wo man sie unter verhältnismäßig recht milden Bedingungen festhält. Deutschland sieht sie als potenzielle Verbündete. Über seinen Aufenthalt dort äußert sich Shokay eher positiv. „Ich habe einige sehr interessante Menschen getroffen, sowohl Russen als auch Ausländer“, schrieb er in einem Brief an seine Frau Maria. „Ich fühlte mich dort seelisch verjüngt, erinnerte mich an die Studentenjahre, an Vorträge und Treffen in St. Petersburg. In Compiègne wurden unter freiem Himmel wunderbare Vorträge, politische Debatten organisiert“.

Trotz aller nahezu Begeisterung weigerte sich Mustafa Shokay, im Radio eine Propagandaansprache zu halten. „Solange ich meine gefangenen Landsleute nicht sehe, werde ich nicht agitieren“, schrieb er in demselben Brief an seine Frau.

Die Illusionen verflüchtigten sich jedoch rasch. Im Gegensatz zu anderen nationalistischen Führern erkannte Shokay sehr schnell, dass es Hitlerdeutschland nicht um Befreiung ging. Seine relativ loyalen Angebote zur Ausbildung des turkischen Militärs wurden von Deutschland ignoriert. Stattdessen wurde Mustafa Shokay in eine Sonderkommission aufgenommen und besuchte persönlich die Kriegsgefangenenlager für Rotarmee-Soldaten. Was er sah, schockierte ihn. Die Haftbedingungen und vor allem die Behandlung von Turk- und anderen Völkern waren so, als wären sie arische Sklaven.

Es folgte ein persönlicher Brief an seinen Freund und Stammesgenossen Vali Kayumkhan, der bis heute von Anhänger der UdSSR bzw. anderer Gegner Shokais gerne als Beleg seiner wahren Gesinnung sehen. „Ja, wir haben keinen anderen Weg als den antibolschewistischen Weg, außer dem Wunsch nach dem Sieg über Sowjetrussland und den Bolschewismus. Dieser Weg wird, ungeachtet unseres Willens, von Deutschland aus geebnet. Und er ist übersät mit den Leichen der in Debica Erschossenen. Schwer, lieber Vali, ist unsere Aufgabe. Aber wir müssen unsere Aufgabe trotzdem fortsetzen, ohne umzukehren“.

Man beachtet aber die Umstände zu wenig unter denen dieser Brief geschrieben wurde. Der Brief eines gefährdeten Zivilisten, der Hitlers Vernichtungsmaschinerie gegenübersteht und die Erschießungen und andere Auswüchse gesehen hat. Auf der einen Seite der Waage stand das reale Leben junger Asiaten und anderer Betroffener, auf der anderen Seite der abstrakte Staat Kasachstan, in dem Shokay seit 20 Jahren nicht mehr gewesen war.

Trotz alledem wählte Mustafa Shokay, wie viele andere auch, den Weg des klassischen Intellektuellen. Er hatte nicht die Kraft, dem Hitlerismus zu widerstehen. Er hat sich einfach geweigert, an diesem System teilzunehmen, was er letztlich mit seinem Leben bezahlt hat. „Ich kann das Angebot …, die Turkestanische Legion zu leiten, nicht annehmen und lehne eine weitere Zusammenarbeit ab. Ich bin mir der Konsequenzen meiner Entscheidung bewusst“. Auch das ist ein Original Zitat.

Wie es endete, ist bekannt. An dem Tag, an dem die Gründung der Turkestanischen Legion de Facto verkündet wurde, brachte man Mustafa Shokay ins Krankenhaus.

Fünf Tage später, am 27. Dezember 1941, starb er dort an Typhus, so die offizielle Version.

Seine Witwe, Maria Shokay, geborene Gorina, war immer überzeugt, dass ihr Mann vergiftet worden war. Trotzdem aber, der Name Mustafa Shokay wurde später von Hitlerdeutschland für seine Propaganda weithin verwendet. Die Verwendung des Namens eines Toten, der sich nicht mehr wehren konnte, war weitaus effizienter, als einen unkooperativen Lebenden zu überreden für Hitler einzutreten.

Zusammengefasst kann man sagen: Mustafa Shokai wurde von den Anhängern Hitlerdeutschlands praktisch als ehrenhafte Geisel genommen. Er ist nie freiwillig auf die Seite Hitlers übergetreten und hat ihm nie bedenkenlos seine Dienste angeboten! Seine Aktivitäten dauerten mehrere Monate und umfassten Besuche in Konzentrationslagern, mehrere persönliche Briefe, Arbeitsverweigerung und Tod im Krankenhaus.

So wem hat Mustafa Shokai geschadet?

Es ist es nicht korrekt, wenn Mustafa Shokay von Bürgern eines Landes der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt wird, indem beispielsweise noch immer versucht wird, einem der wahren Kollaborateur des Faschismus, Vlasov, zu rehabilitieren, in dem Denkmäler für jemanden wie Krasnov errichtet und ebenso Gedenktafeln für General Mannerheim, einen der aktiven Organisatoren der Blockade der ehemaligen Hauptstadt.

Im Gegensatz zu all den oben genannten hat Shokai niemandem etwas zuleide getan. Dies wird auch durch Dokumente bestätigt. Am 18. Mai 1948 wandte sich das Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR an seine Berliner Vertretung mit der Bitte, „eine Bescheinigung über das kompromittierende Material über Mustafa Shokaev (red. Shokay), geboren am 25.12.1890, auszustellen“, worauf die Berliner Verbindungsstelle Sektion 4 der UdSSR, nach gründlicher Prüfung offener und geheimer Akten deutscher Stellen antwortete, dass solche „Informationen selbst in den streng geheimen Akten nicht vorhanden sind“ (RGVA. F. 1358k. Op. 3 D.45b.B.).

GEBURT EINER LEGENDE

Lange Zeit geriet der Name von Mustafa Shokay in Vergessenheit. Das Tabu wurde erst in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR aufgehoben.

Damals war es in vielen Nachfolgestaaten der UdSSR üblich, nationale „Volksführer“ zu idealisieren, die den Bolschewismus um jeden Preis bekämpften und bereit waren, sich zu diesem Zweck mit jedem zu verbünden.

Im Baltikum wurden die „Waldbrüder“ rehabilitiert; in Russland wurden General Vlasov sowie Krasnov und Shkuro entlastet; in der Ukraine wurden Bandera und Shukhevich gelobt.

Auch in Kasachstan wurde intensiv nach einer solchen Gallionsfigur gesucht. Lokale Nationalisten — um nicht schlechter dazu stehen sein als die anderen neuen Staaten und um zu zeigen, dass das Phänomen des Kollaborationismus massenhaft und international war, und es so indirekt rechtfertigen zu können.

Die Medien der 1990er Jahre, die eine neue und ungeahnte Freiheit erlangt hatten, veröffentlichten massenhaft phantastische Werke über pseudohistorische Themen. Heute sind diese Autoren oft nicht mehr auffindbar, und viele der Publikationen, in denen solche Mythen veröffentlicht wurden, wurden eingestellt und verschwanden oft, ohne archiviert zu werden.

Die „Mode“ der Verherrlichung nationalistischer Kollaborateure (eben echter Kollaborateure!) ist ebenfalls vorbei. Doch leider ist so manches Klischee von damals bis heute erhalten geblieben.

Mustafa Shokay wurde also stillschweigend in diese Reihe der der Täter aufgenommen. Obwohl er nicht wie Vlasov den militärischen Eid verriet, nicht wie Krasnov und Shkuro Hitler diente, kein nationalistisches Untergrundnetzwerk schuf und nicht wie Bandera und Shukhevich zur Vernichtung unerwünschter Nationen aufrief.

Woher nahmen die Pseudo-Historiker der 90er Jahre ihre Inspiration und auf welcher Grundlage schrieben sie ihre Werke, wenn es damals kaum echte Informationen gab? Überraschenderweise stammten sie aus der sowjetischen Literatur, wenn auch in einer völlig anderen, verdrehten Interpretation.

Die Legende von Mustafa Shokay, als einem Nazi-Kollaborateur, entstand bereits zu Sowjetzeiten, was im Prinzip verständlich und erklärbar ist. Wie man in jenen Jahren zu sagen pflegte: Wenn der ideologische Feind nicht kapituliert, wird er vernichtet. Auch moralisch und posthum.

Das Buch von Serik Shakibayev „Der Fall von „Großturkestan““ ist ein klarer Beweis dafür. Darin wird Shokay als Hauptideologe, Inspirator und quasi als Bannerträger der Turkestanischen Legion dargestellt. Viele Gegner, die sich auf das Buch von Shakibayev berufen, scheinen aber leicht zu vergessen, dass dieses Werk, das den Anspruch erhebt, dokumentarisch zu sein, eine Menge Fehler enthält.

Vielleicht reicht schon die Tatsache, dass Mustafa Shokay dem Buch zufolge bis zum Frühjahr 1942 überlebt hat, um Zweifel an seiner Objektivität zu wecken.

Wie kam es zu diesem seltsamen, absurden Fehler?

Schließlich war Shakibayev ein gebildeter und professioneller Schriftsteller, trotz aller Ideologie in seinem Werk. Leider deutet das Todesdatum, das der Autor seiner Figur gegeben hat, darauf hin, dass es sich nicht um einen Zufall handelt. Die künftige Turkestanische Legion wurde genau zur gleichen Zeit gegründet und ausgebildet. Hätte der Autor das tatsächliche Datum seines Todes veröffentlicht, wäre es etwas problematisch gewesen, Mustafa Shokay zu beschuldigen, die Legion gegründet zu haben.

Und woher stammte die sowjetische Legende? Leider, wie die Forschung zeigt, kurioserweise aus Hitlers Propaganda. Nach dem Tod von Mustafa Shokay wurde in seinem Namen Propaganda für die Turkestanische Legion betrieben. Da man erkannte, dass die Lebenden nicht überzeugt werden konnten, wurde die Autorität des verstorbenen Führers genutzt, um zu agitieren und das erfolgreich!

So traurig es auch wäre, dies einzugestehen, aber viele, einschließlich der Kommunisten, der Anhänger und Gegner der UdSSR, der Liberalen und der Demokraten, wiederholen den falschen Mythos schon seit einigen Jahrzehnten. Zuerst durch die Hitler-, dann durch die sowjetische Propaganda, dann durch die ungebildeten Pseudohistoriker.

Es ist an der Zeit, dass wir endlich einmal innehalten und über die Persönlichkeit von Mustafa Shokay unvoreingenommen und unbelastet nachdenken!

Als eines lebendigen, gefühlsbetonten, rebellischen Menschen und nicht als eines Elements eines Denkmals. Wer also war Mustafa Shokay? Ein Wissenschaftler, ein Publizist, ein Politiker, ein Humanist? Ja. Ein Patriot? Zweifelsohne war er das. Ein Verräter? Nein. Seine Aktivitäten im Jahr 1941 schadeten weder Frankreich oder gar der Sowjetunion, dessen Staatsbürger Shokay nie gewesen war.

Seit dem Tod von Mustafa Shokay sind bald 80 Jahre vergangen. Viele historische Dokumente wurden freigegeben und der Zugang zu Informationen steht jetzt offen. Aber immer noch wiederholen viele, aus welchem Grund heraus auch immer, mit bedenklicher Hartnäckigkeit die Denkmuster erst der Hitler- und dann der sowjetischen Propaganda. Mache sicherlich auch in positiver Gesinnung, aber meist im negativen Sinne.

Es wäre an der Zeit neue und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, jetzt wo man alle Daten zur Hand hat und sich unvoreingenommen mit Mustafa Shokay zu befassen.

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