Atomwaffen aus der Türkei abziehen

Incirlik Sind die Atomwaffen in Europa sicher? Die gefährliche Situation in der Türkei wirft viele Fragen auf. Es ist höchste Zeit, die US-Atombomben aus Incirlik abzuziehen.

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Noch immer sind im türkischen Incirlik US-Atombomben stationiert. Das ist gerade jetzt hochgefährlich
Noch immer sind im türkischen Incirlik US-Atombomben stationiert. Das ist gerade jetzt hochgefährlich

Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images

In der Türkei sind 50 US-Atombomben unter NATO-Befehl stationiert, nur 110 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Der Incirlik-Stützpunkt, in dem sie sich befinden, verfügt seit dem 18. Juli 2016 über keinen Strom mehr und wird mit einem Notstromgenerator betrieben. Nach dem Putsch durfte für einige Tage niemand den Stützpunkt verlassen. Der türkische Kommandeur des Stützpunktes General Bekir Ercan Van und neun weitere Offiziere wurden verhaftet. Das US Central Command bestätigt laut Aviation Weekly, dass alle Flugaktivitäten gestoppt wurden, weil der türkische Luftraum für eine kurze Zeit geschlossen wurde. Das Befehlszentrum für US-Streitkräfte im Außenbezirk von Stuttgart EUCOM erhöhte die Alarmstufe auf „FPCon Delta“, die normalerweise für einen terroristischen Angriff verwendet wird. Ein Sprecher der EUCOM sagte, sie seien bemüht, die Sicherheit der Truppen, ihrer Familien und der Zivilisten auf dem Stützpunkt sowie die Sicherheit der Anlagen selbst zu gewährleisten. Präsident Erdogan hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt, während er Zehntausende Staatsangestellte verhaftet, suspendiert oder entlässt.

In einer solchen hochgefährlichen Situation sollten wir uns Gedanken um die Sicherheit der 50 US-Atombomben machen: Was haben die Atombomben in der Türkei überhaupt zu suchen? Einige Experten haben bereits gefordert, die B61-Atombomben umgehend abzuziehen. Beim Warschauer Gipfel erklärten die NATO-TeilnehmerInnen, „dass alle Bestandteile der nuklearen Abschreckung der NATO zuverlässig, sicher und effektiv bleiben“. In diesem Sinne rüsten die USA die B61-Atombomben bereits fleißig auf, sodass Europa in den 2020er Jahren eine nahezu komplett neue Atomwaffe bekommen wird. Hinter der Zuschreibung "Sicherheit" steht allerdings ein großes Fragezeichen.

Zwar hat die NATO laut Hans Kristensen von der Federation of American Scientists in Incirlik das Atomwaffenlager bereits mit einem Doppelzaun versehen, Fluter und Einbruchmeldevorrichtungen neu ausgestattet und die gleichen Baumaßnahmen sind auch auf dem US-Stützpunkt Aviano in Italien im Gange. Aber diese Vorhaben werfen auch die Frage auf: Wie schlecht war es zuvor um die Sicherheit der Atomwaffen bestellt und wie sieht es mit der Sicherheit in Büchel in der Eifel aus? Denn dort lagert die NATO die gleichen Atombombentypen ebenso wie in den Stützpunkten in Belgien und den Niederlanden. Die „Blue Ribbon“ Überprüfung der US-Luftwaffe im Jahr 2008 ergab, dass die „meisten“ US-Luftwaffenstützpunkte in Europa nicht die Sicherheitsstandards erfüllen, die den Vorgaben des US-Verteidigungsministeriums entsprechen. Sind die Zäune in diesen Stützpunkten um die Atomwaffenlager unbelichtet, ohne Einbruchsvorkehrungen? Das wissen wir leider nicht. Denn alle Details der Stationierung von US-Atomwaffen in Europa unterliegen der Geheimhaltung, obwohl die NATO vollmundig erklärt, dass alle ihre Maßnahmen „defensiv, verhältnismäßig und transparent“ seien.

Die sogenannte nukleare Teilhabe der NATO ist alles anderes als transparent. Die wenigsten Menschen in Europa wissen überhaupt von der Existenz der 180 B61-Atombomben in Europa, jede mit einer maximalen Sprengkraft, die 13 Hiroshima-Bomben entspricht. Denn die Frage der nuklearen „Abschreckung“ wird in den Ländern, in denen sich Atomwaffen befinden, systematisch verdrängt. Niemand problematisiert ihre Existenz, als Problem wird höchstens erachtet, dass andere Länder wie Iran oder Nordkorea in den Besitz von Atomwaffen kommen bzw. sind. Oder dass Russland die Atomwaffen aufrüstet. Das massive Aufrüstungsprogramm der USA wird als „Lebensdauerverlängerung“ verniedlicht. Das neue Trident-System der Briten, das gerade vom Parlament im Schatten des Brexit-Traumas verabschiedet wurde, wird das Land in die Lage versetzen, für das nächsten halbe Jahrhundert Massenvernichtung im großen Stil auszuüben. Theresa May hat öffentlich bestätigt, sie könne sich vorstellen, Hundertausende von Menschen mit Atomwaffen umzubringen.

Bei einer solchen Verdrängungsleistung stellt sich die Frage der Sicherheit auf einer anderen Ebene. Es geht hier nicht allein um einen Zaun. Wenn man sich weigert, hinzuschauen, ist alles Mögliche denkbar. So hat sich in den letzten Jahren Schlampigkeit im Hinblick auf die Bewachung und Wartung von Atomwaffen eingeschlichen. Wachsoldaten schlafen im Atomwaffensilo mit offener Tür ein. Marschflugkörper werden ohne Autorisierung kreuz und quer durch die USA geflogen. Der britische Whistleblower McNeilly berichtet von katastrophalen Zuständen an Bord der Trident-U-Boote in Faslane. Und diese Woche war in den Medien zu lesen, dass ein Trident Atom-U-Boot schon wieder ein Schiff gerammt hat. Eine Verstärkung der Zäune wird an diesem systematischen Versagen nichts ändern. Sind die Atomwaffen also wirklich sicher?

Ja, sagen alle Sprecher der Militärs und Ministerien. Alles in Ordnung, keine Bange. Laut dem US-Haushaltsantrag aus dem Jahr 2014 hat die NATO seit 2000 mehr als 80 Millionen US-Dollar in eine verbesserte Infrastruktur der europäischen Atomwaffenlager gesteckt. Noch weitere 154 Millionen US-Dollar sind für Sicherheitsverbesserungen vorgesehen, um die Anpassung an die strengen Vorgaben des US-Verteidigungsministeriums zu erfüllen. Dennoch war Elaine Bunn, stellvertretende Staatssekretärin im US-Verteidigungsministerium und verantwortlich für Fragen zu Atomwaffen, sich nicht so sicher. Sie sagte, dass die tatsächliche Summe nicht zu beziffern sei, da die finanziellen Mittel für die Stützpunkte in Europa in der Regel aus den Haushalten der jeweiligen Staaten bereitgestellt werden, in denen die Atomwaffen lagern. Von Transparenz kann also keine Rede sein.

Die derzeitige Situation wirft zudem eine weitere Frage auf: Ist es überhaupt sinnvoll, taktische Atomwaffen in Europa zu stationieren? Die NATO-Rechtfertigung lautet, dass die nukleare Teilhabe eine Art „Kitt“ für die Allianz bedeute. Weil die sogenannten Gastgeberstaaten – darunter auch Deutschland – jährlich bei der Nuklearmanöver „Steadfast Noon“ den Einsatz von Atomwaffen mit ihren Jagdbombern und Piloten üben oder alle NATO-Staaten an der Nuklearen Planungsgruppe teilnehmen, ist die Rede von einem „nuklearen Bündnis“. Ich kann es nicht besser beschreiben als die NATO selbst in ihrer Gipfelerklärung: „Das Ziel der Bündnispartner ist es, die Abschreckung als ein Kernelement unserer kollektiven Verteidigung zu verstärken und zur unteilbaren Sicherheit des Bündnisses beizutragen. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben. Die strategischen Kräfte des Bündnisses, insbesondere die der Vereinigten Staaten, sind der oberste Garant für die Sicherheit der Bündnispartner. Die unabhängigen strategischen nuklearen Kräfte des Vereinigten Königreichs und Frankreichs nehmen eine eigenständige Abschreckungsrolle wahr und tragen zur Sicherheit des Bündnisses insgesamt bei. Die verschiedenen Entscheidungszentren dieser Bündnispartner tragen zur Abschreckung bei, indem sie das Kalkül möglicher Gegner erschweren. Das nukleare Abschreckungsdispositiv der NATO beruht zum Teil auch auf vorwärtsdislozierten Kernwaffen der USA in Europa und auf Fähigkeiten und Infrastruktur, die von den betreffenden Bündnispartnern bereitgestellt werden.“

Im Übrigen bedeutet „vorwärtsdisloziert“ – wie auch im Kalten Krieg – dass die Atomwaffen näher an der Frontlinie des Gegners stationiert sind. Damit ist nach wie vor Russland gemeint. Im Fall der Türkei befinden sich die Atomwaffen tatsächlich nah am Kriegsgeschehen in Syrien, ganz zu schweigen von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Türkei selbst. Das NATO-Land ist also erheblichen Gefahren ausgesetzt. Eric Schlosser schreibt im New Yorker Magazin: „mit nur einigen Stunden und der richtigen Ausbildung könnte jeder einen Schacht öffnen, eine B61-Atombombe aufmachen und die Sicherheitsvorrichtung umgehen. In Sekunden ist es möglich, einen Sprengsatz auf dem Schacht zu platzieren, die Bombe zu zerstören und dabei eine tödliche radioaktive Wolke freizusetzen.“ Er erinnert daran, dass 2010 eine Gruppe von FriedensaktivistInnen über den Zaun im Kleine Brogel-Atomwaffenstützpunkt in Belgien stieg, in den zweiten Zaun ein Loch schnitt, in ein Schutzgebäude ging, in dem Atomwaffen gelagert wurden und Anti-Atom-Aufkleber an die Wände klebte. Danach posteten die FriedensaktivistInnen ihre Exkursion auf YouTube. Der einzige Wachsoldat, dem sie begegneten, war nicht bewaffnet.

Die Rolle der Atomwaffen in der NATO und in allen Atomwaffenstaaten wächst wieder. Im Kontrast dazu wachsen auch die Forderungen der atomwaffenfreien Länder dieser Welt, die bei weitem die Mehrheit darstellen, nach einem Atomwaffenverbot. Die Definition von Sicherheit unterscheidet sich in diesen beiden Gruppen maßgeblich. Länder ohne Atomwaffen fühlen sich von der Existenz der Atomwaffen in anderen Ländern existentiell bedroht. Wenn in einem Land, in dem sich Atomwaffen befinden, ein Putsch stattfindet, eine Terrorgruppe angreift, ein Fehlalarm geschieht, jemand einschläft oder die Technik versagt, haben sie keine Kontrolle mehr über ihre Sicherheit. Wenn wir nicht endlich zu einem Verbot von Atomwaffen kommen - wie es 93 % der Menschen in Deutschland und 127 Staaten weltweit verlangen, spielen wir mit katastrophalen humanitären Folgen in globalem Ausmaß.

Xanthe Hall, Atomwaffenexpertin der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges e.V.)

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Geschrieben von

xanth

Ich bin Geschäftsleiterin der IPPNW sowie Vorstandsmitglied der International Campaign to Abolish Nuclear weapons (ICAN) - Deutschland.

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