Die Logik der Abschreckung – wohin führt sie?

Atomare Drohungen Nordkorea demonstriert, wohin die nukleare Abschreckung uns führen kann - zu einer Atomkatastrophe.

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Eingebetteter MedieninhaltEs bewegt sich was. In diesen Tagen klagt die Republik der Marshall-Inseln vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Atomwaffenstaaten, weil sie ihr im Atomwaffensperrvertrag verankertes Abrüstungsversprechen nicht gehalten haben. Gleichzeitig verhandelt die UN zur Zeit, zum ersten Mal über konkrete juristische Maßnahmen für die Abschaffung der Atomwaffen. Allerdings bleiben die Atomwaffenstaaten diesen Verhandlungen fern. Parallel dazu spitzt sich die atomare Bedrohungslage immer mehr zu. Die USA und Russland reden nicht mehr über Abrüstung, sondern rüsten mit massiven Modernisierungen der Atomwaffen auf - mitten in zwei heißen Konflikten um die Ukraine und Syrien. Und Nordkorea demonstriert, wohin die nukleare Abschreckung uns führen kann.

Die Medien machen Kim Jong-Un zur Lachfigur. Doch das ist gefährlich. Ein Land wie Nordkorea, geführt von einem diktatorischen Familienclan, der sich seit den 1950er noch im Krieg befindet und jetzt über Atomwaffen verfügt, ist nicht zum Lachen. Die IPPNW hat in der Nordkorea-Krise im April 2013 ausgerechnet, was Seoul erwarten würde, wenn Nordkorea eine einzige Atombombe mit einer Sprengkraft von nur 10 Kilotonnen auf die südkoreanische Hauptstadt abwerfen würde. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte wurden allein in den ersten vier Monaten etwa 140.000 Menschen sterben. Hinzu kämen mehr als 1 Million Menschen, die aufgrund der Druckwelle und der großen Hitze schwere Verletzungen oder Verbrennungen erleiden oder Opfer der radioaktiven Strahlung werden würden.

Wir haben vergessen, wie zerstörerisch Atomwaffen sind. Viele Menschen denken, Atombomben sind nur größere Bomben. Dabei vergessen sie die enorme Hitze, die bei der Explosion erzeugt wird und schlimme Verbrennungen verursacht. Oder die Radioaktivität, die viele Menschen einen qualvollen Tod an der akuten Strahlenkrankheit bereitet sowie die Langzeitfolgen für diejenigen Opfer, die nicht sofort sterben. Wir sollten jegliche Drohung des Einsatzes mit Atomwaffen sehr ernst nehmen, egal wer sie ausspricht. Die humanitären Folgen einer einzigen Atomwaffenexplosion würden eine Katastrophe verursachen und jegliche medizinische Hilfe praktisch außer Kraft setzen.

Als es um den Verdacht ging, der Iran würde eine Atombombe entwickeln, reagierte die Welt beinnahe hysterisch. Im Vergleich zu dieser Reaktion bleiben die USA erstaunlich gelassen, wenn es um Nordkorea geht. Zunächst wurde behauptet, Nordkorea sei nicht in der Lage, eine Atomwaffe überhaupt zu entwickeln; die Atomtests wären womöglich getürkt oder misslungen. Dann hieße es, der letzte Test könnte auf keinem Fall von einer Wasserstoffbombe stammen. Außerdem sei das Land nicht zu der notwendigen Verkleinerung der Atombombe fähig, um sie auf einer ballistischen Rakete zu montieren.

Dennoch funktioniert die Abschreckung anders. Wenn es möglich ist, dass das Land (oder auch ein nichtstaatlicher Akteur) schon in der Lage ist, eine Atombombe einzusetzen, egal wie, ändert sich die Lage maßgeblich. Nordkorea handelt "logisch" – im Sinne der Abschreckungslogik. Auch wenn „Experten“ meinen, die Abschreckung Nordkoreas sei nicht glaubwürdig. Sie muss ernst genommen werden, da die humanitären Folgen so gravierend wären für die Menschheit.

Über mehr als zehn Jahren arbeitet das Regime an der Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffe und setzt dazu alles in ihrer Macht stehende ein – auch auf Kosten der Bevölkerung. Samantha Power, UN-Botschafterin der USA, sagte dazu kürzlich: „Das chronische Leid der Menschen in Nordkorea ist das direkte Ergebnis des Handelns der Regierung, die ihren Atomwaffen und ballistischen Raketenprogrammen mehr Priorität einräumt als den Grundbedürfnissen ihres Volkes.“ Allerdings erlaube ich mir hier die Bemerkung, dass die USA planen, in den nächsten dreißig Jahren bis zu einer Billion US-Dollar in ihr Atomwaffenprogramm zu stecken und ebenfalls zu wenig für die Grundbedürfnisse eines erheblichen Teils der US-Bevölkerung sorgen. Denn der Besitz von Atomwaffen stellt nicht nur eine unmittelbare Bedrohung für Menschen dar, er zieht Mittel von anderen wichtigen Aufgaben ab.

Die Eskalation der Lage auf der koreanischen Halbinsel lockt einige Befürworter der atomaren Abschreckung aus ihren Verstecken, die sich jetzt in ihrem Glauben bestätigt fühlen. Wegen Kim Jong-Un (oder Putin, der auch als Buh-Mann fungiert) müssen wir die Atomwaffen unbedingt beibehalten. Aber die Geschichte zeigt uns, dass diese Abschreckung nicht funktioniert: Wenn sie beidseitig eingesetzt wird, führt sie zu einer unhaltbaren Eskalation und Aufrüstung, schließlich zu einem Wettrüsten. In dieser Lage passieren Fehler und Unfälle, die uns zusätzlich bedrohen. Die Dokumentation solcher Fehler im Kalten Krieg zeigen, wie nah wir schon am Atomkrieg vorbeigeschrammt sind. Wollen wir dahin wirklich wieder zurück?

Aus der Konfliktbearbeitung und Mediation ist bekannt, dass man bei der Konfliktbearbeitung zunächst auf die Bedürfnisse der Akteure schauen sollte. Nordkorea hat seine Hauptforderung beständig wiederholt: Das Land will endlich ein Friedensabkommen mit den USA. Ähnlich wie beim Iran sollten die USA über ihren Schatten springen und direkte Gespräche über ein solches Abkommen aufnehmen. Die gefährlichen Militärübungen, die sie jährlich mit Südkorea durchführen, sollten abgesagt werden. Sie sind nicht notwendig. Kim Jong-Un weiß allzu gut, was die USA anrichten könnten. Vor allem jegliche Pläne, die Atomanlagen Nordkoreas zu bombardieren, gehören in den Mülleimer. Kim Jong-Un immer mehr in der Ecke zu zwingen, endet in mehr als Tränen. Am Ende dieses Weges könnte eine atomare Katastrophe drohen.

Eine Gesamtlösung des nuklearen Problems liegt in weiter Ferne. Aber eins können jetzt alle Staaten verabreden, zur Not auch ohne die Atomwaffenstaaten: Atomwaffen können – wie biologische und chemische Waffen – verboten werden. Dieser Schritt ist für viele noch schwer vorstellbar, da wir seit über 70 Jahre mit dem Damoklesschwert eines Atomkrieges über unseren Köpfen leben. Aber früher dachten wir auch, es sei unmöglich, B- und C-Waffen oder Landminen zu verbieten. Und heute haben wir Verträge, die wir – wie in Syrien – anwenden können.

Wir stehen in der Geschichte an einer Kreuzung. Die Logik der Abschreckung führt zum Wettrüsten; die Logik des Friedens zum Verbot von Atomwaffen und einer Kriminalisierung des Besitzes aller Massenvernichtungswaffen. In welcher dieser beiden Welten wollen wir leben?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

xanth

Ich bin Geschäftsleiterin der IPPNW sowie Vorstandsmitglied der International Campaign to Abolish Nuclear weapons (ICAN) - Deutschland.

xanth

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