Ausgangssperren sind sinnlos

Lockdown Angela Merkel und Karl Lauterbach befürworten sie, an manchen Orten gibt es sie bereits. Doch ein genauer Blick zeigt: Ein wirksames Mittel gegen Corona sind sie nicht
Die Corona-Pandemie ist ein Innenraum-Problem, Ausgangssperren sind eine Klassenfrage
Die Corona-Pandemie ist ein Innenraum-Problem, Ausgangssperren sind eine Klassenfrage

Foto: Imago/imagebroker

Angesichts steigender Fallzahlen und dem exponentiellem Wachstum der Virusmutation B 1.1.7 in Deutschland diskutiert auch die Bundesregierung über Ausgangssperren. Angela Merkel meint: „Ausgangsbeschränkungen können ein ganz wirksames Mittel sein.“ Und Karl Lauterbach (SPD) ist sich sicher: „Portugal hat durch einen kurzen harten Lockdown B117 besiegt und bisher keinen Rückfall. War vorher Hotspot der Welt. Ausgangssperren in allen stärker betroffenen Regionen waren ein zentraler Bestandteil.“ Stimmt das? Sind Ausgangsbeschränkungen tatsächlich ein wirksames Mittel? Beweisen die Entwicklungen in Portugal genau das? Ein genauer Blick – nicht nur auf Portugal – zeigt: So einfach ist es nicht.

In der Tat – Portugal wurde von B 1.1.7 hart getroffen: Auf dem Höhepunkt der dritten Welle registrierte das Land 13.000 Neuinfektionen und 221 Covid-19-Tote pro Tag. Um zu verstehen, wie heftig diese Zahlen sind: Auf Deutschland hochgerechnet wären das ein Sieben-Tage-Schnitt von mehr als 110.000 Neuinfektionen und rund 1.800 Tote pro Tag. Der Tag mit den bisher höchsten Zahlen hierzulande verzeichnete 25.000 Neuinfektionen und 900 Tote.

Zum Beispiel Portugal

Doch die Menschen in Portugal haben das exponentielle Wachstum des Virus gebrochen. Das Land hatte Ende Januar noch eine Sieben-Tage-Inzidenz von 840. Zwei Monate später, am 28. März, betrug dieser Wert 28. Die gute Nachricht: Auch B.1.1.7 kann besiegt werden. Nur mit den Ausgangssperren hat das Ganze wenig zu tun. Warum? Ausgangssperren waren in Portugal schon vor der zweiten und vor der dritten Welle in Kraft. Sie waren in unterschiedlichen Abstufungen, meist jedoch an Wochentagen zwischen 23 Uhr und 5 Uhr sowie an Wochenende zwischen 13 Uhr und 5 Uhr verhängt. Doch diese Ausgangssperren schützten die Menschen dort weder vor der zweiten noch vor der verheerenden dritten Welle.

Was aber brachte dann die Wende in Portugal? Mit genauerem Blick auf die Mobilitätsdaten fällt auf, dass sich die Mobilität der Bevölkerung vom 15 . Januar an deutlich reduzierte. Dies war der Moment, in dem die Regierung eine „Verschärfung“ des Lockdowns verfügte. Dies beinhaltete die Schließungen von Schulen, Kitas, Bars oder Restaurants – welche zuvor stets geöffnet waren – sowie eine Verpflichtung zum Homeoffice. Aber was war besonders effektiv? Die Mobilitätsdaten geben entsprechende Hinweise, ein Wert fällt dabei besonders auf: In der Zeit zwischen 15. Januar und 15. März sank der Mobilitätswert in Bezug auf Arbeitsplätze auf bis zu minus 46 Prozent in der Spitze – ein so niedriges Aufkommen, wie es nur am Neujahrstag erreicht und nur im ersten Lockdown übertroffen worden war. Noch wichtiger aber: Nahezu den gesamten Februar über lag die Mobilitätsreduktion in Bezug auf Arbeit in Präsenz kontinuierlich bei 40 Prozent und mehr; im darauffolgenden März bei deutlich mehr als minus 30 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert in den vergangenen vier Wochen nur bei weniger als minus 20 Prozent. Ebenso nicht unwichtig: Die Mobilitätstrends für Orte wie Restaurants, Cafés und Einkaufszentren sanken in Portugal von minus 22 auf minus 67 Prozent.

Das zeigt: Ausgangssperren haben wenig Einfluss auf das Infektionsgeschehen und sind keine zentrale Variable, um die Pandemie nachhaltig einzudämmen. Nicht nur die Erfahrungen in Portugal zeigen das. In allen europäischen Ländern, in denen Ausgangssperren angewandt wurden, hatten sie wenig Einfluss darauf, das exponentielle Wachstum des Virus zu brechen – das gilt für Italien, Frankreich und Spanien, aber auch für Polen, Tschechien und Belgien. In all diesen Ländern gab es nationale Ausgangssperren. Trotzdem wurden diese Länder sowohl von der ersten und der zweiten Welle als auch jetzt von der dritten Welle hart getroffen. Um ein exponentiell wachsendes Virus zu stoppen, braucht es keine Ausgangsperren, sondern das schnelle Unterbrechen von Infektionsketten.

Kontakte zu reduzieren, ist dabei ein wichtiges Element. Wo also entstehen viele Kontakte? Im „COVID-19 Snapshot Monitoring“ der Universität Erfurt, des Robert Koch Instituts und anderer Institutionen, der Langzeitbefragung COSMO, wird das Offensichtliche nochmals herausgestellt. Dort heißt es mit Blick auf das Hochinzidenzgebiet Thüringen: „Viele Kontakte bestehen außerdem weiterhin am Arbeitsplatz – 55 Prozent der befragten berufstätigen Thüringer/innen haben täglich mit mehr als 5 Personen so nahe körperlichen Kontakt, dass eine Ansteckung mit dem Coronavirus möglich wäre.“

Ein Innenraum-Problem

Für diese Erkenntnis braucht es allerdings keine Studien. Eigentlich reicht der gesunde Menschenverstand: Es ist absurd, Menschen zu verbieten, sich in ihrer Freizeit draußen aufzuhalten, und gleichzeitig Millionen von Beschäftigten zu zwingen, in Werkshallen und Dienstleistungsbetrieben mit hunderten Menschen in einem Raum weiterzuarbeiten.

Der Physiker und Aerosol-Experte Gerhard Scheuch sagt: „Nächtliche Ausgangssperren sind absurd!“. Für ihn ist die Corona-Krise ein „Innenraum-Problem“. Dies sei seit dem Frühjahr 2020 bekannt, als in einer Studien von Wissenschaftler:innen aus China festgestellt worden sei, dass von mehr als 7.000 Infektionen nur eine einzige im Freien stattfand, so Scheuch im Deutschlandfunk Kultur. Die Übertragung des Virus über Aerosole finde auch über indirekte Ansteckungen statt: „Stellen Sie sich vor, ich sitze acht Stunden in einem Büro und arbeite und ich puste meine Viren in den Raum und lüfte nicht. Dann verlasse ich das Büro, abends kommt die Putzkolonne, kein Mensch ist in dem Büro, man ist niemandem begegnet, man hat keine Maske auf. Die Putzkraft putzt das Büro und infiziert sich, obwohl sie überhaupt niemandem begegnet ist. Deswegen werden wir dieser Pandemie nur alleine über Kontaktbeschränkungen nicht Herr, weil diese Aerosole einen ganz anderen Ansteckungsweg verfolgen. Das muss gar nicht ein direkter Kontakt sein, das kann auch durchaus ein indirekter Kontakt sein.“

Diese Position ist keine Einzelmeinung. Die Gesellschaft der Aerosolforschung hatte bereits im November 2020 ein Positionspapier veröffentlicht, das deutlich beschreibt, dass das Infektionsrisiko ein Innenraumproblem ist.
Eben darum die Innenräume der Arbeitswelt in den Blick zu nehmen statt über Ausgangssperren zu diskutieren, müsste eigentlich auf der Hand liegen.

Villa oder Butze

„Physische Distanz“ und „Kontaktreduzierung“, das haben etliche Virologen und Medizinerinnen erklärt, setzen keine Isolation in der eigenen Wohnung voraus. Im Gegenteil: Solange die AHA-Regeln eingehalten werden, ist es sehr empfehlenswert, sich nicht ständig in Innenräumen aufzuhalten. Dabei wirklich hilfreich sind technisch-medizinische Mittel wie kostenfreie FFP-2-Masken und Schnelltest für alle. Ausgangssperren gehen nicht nur am Problem vorbei, sie schaffen auch zahlreiche neue Probleme: Für viele Menschen, gerade alte und kranke, oder Menschen mit Kindern, bedeuten Ausgangsbeschränkungen soziale Isolation. Gleichzeitig sind Ausgangssperren eine Klassenfrage: In einer Villa mit Garten oder einer großen Wohnung mit Balkon lässt sich eine Ausgangssperre leichter ertragen als alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung.

Zudem sind Ausgangssperren ein weitreichender Grundrechtseingriff, der die Bevölkerung empfindlich trifft. Der Blick in andere Länder zeigt, auf welch problematische Weise sie mitunter durchgesetzt werden: Spanien griff auf die Armee zurück und lässt die Bevölkerung mit Drohnen überwachen. Israel hat seinem Geheimdienst Zugriff auf sämtliche Ortungsdaten der Mobiltelefone gewährt, um Ausgangssperren durchzusetzen. Alle Bewegungen der Bürgerinnen und Bürger werden überwacht. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Viele Regierungen (egal, ob harte Bekämpferinnen des Virus oder nicht) nutzen die Pandemie, um ihre rassistische, unsoziale und undemokratische Politik zu verstetigen oder sogar auszubauen. Dies ist aber ein Kennzeichen des aus den Fugen geratenen Katastrophenkapitalismus und nicht ein unabdingbares Feature vernünftiger Seuchen-Prävention.

Dass Angela Merkel und Karl Lauterbach an diesem Mittel festhalten, hat vor allem einen Grund: Sie wollen die Wirtschaftsbosse schonen. In den Innenräumen von Fabriken, Büros oder Logistikzentren sollen die Vielen weiter Profite für die Wenigen schaffen. Der Lockdown der Bundesregierung ist deswegen so ineffektiv, weil er wesentliche Bereiche der Wirtschaft ausspart. Nur 13 Prozent der Wirtschaft sind direkt von ihm betroffen. 87 Prozent der Wirtschaft produzieren weiter, als gäbe es die Pandemie nicht. Die Debatte über Ausgangssperren lenken von genau diesem Problem ab.

Lesen Sie unter diesem Link mehr zu einer von Karl Lauterbach in Bezug auf Ausgangssperren empfohlenen Studie.

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