Der Bluff mit den Sanktionen: Strafen als Ausdruck imperialer Politik
Meinung Ökonomische Strafmaßnahmen gegen Staaten sind keine friedliche Alternative zum Krieg. Im Augenblick haben sie ein Ausmaß erreicht wie noch nie seit 1950
Güterstau in Kaliningrad aufgrund der Sanktionen, Juni 2022
Foto: Vitaly Nevar/Reuters
All die Hoffnung, dass Sanktionen ein friedliches Mittel in der Außenpolitik kapitalistischer Staaten darstellen könnten, ist verständlich. Viele Menschen wünschen sich eine Welt ohne Unterdrückung, Gewalt und Krieg. Um ihre imperialen Interessen zur Geltung zu bringen, knüpfen die Herrschenden an diesen Wünschen an. Regierungen wollen „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ oder, wie Außenministerin Annalena Baerbock es jüngst formulierte, mutig handeln, „geeint für die Menschlichkeit“. In der wertgebunden betitelten Außenpolitik spielen Sanktionen eine herausragende Rolle. Sanktionen, so das Versprechen der Regierenden, würden die Kosten für völker- und menschenrecht
chtswidriges Verhalten erhöhen und dazu beitragen, dass sich das Kalkül politischer Akteure ändere.Ist das wirklich so? Was ist der eigentümliche Charakter von Sanktionen? Erreichen sie ihre angeblichen Ziele? Wer ist berechtigt, Sanktionen auszusprechen? Und was sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen in einer Welt, in der die Klassenspaltung zwischen Arm und Reich immer weiter zunimmt und in der wenige reiche, viele ärmere Länder dominieren?Der Einsatz von Sanktionen hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Die Wochenzeitung Economist resümierte 2021: „Sanktionen sind heute ein zentrales Instrument der Außenpolitik von Regierungen.“ Das bestätigt die Global Sanctions Database (GSDB), eine Datenbank, in der alle Sanktionen seit 1950 dokumentiert sind. Die New York Times hat diese Daten bis 2019 visualisiert, woraus sich ein beeindruckendes und verstörendes Bild ergab. Erfasst wurden mehr als 1.100 Fälle. Danach hatten die USA mit einem Anteil von 42 Prozent klar die meisten Sanktionen verhängt, gefolgt von der EU mit zwölf und den UN mit sieben Prozent.„Smarte“ Varianten?Was die Daten zudem erkennen lassen: In den Sanktionsregimen spiegeln sich die imperialen Kräfteverhältnisse. Reiche Länder sanktionieren arme. Aber arme Länder sanktionieren so gut wie nie die reichen. Die Autoren der GSDB bilanzieren: „Länder aus Nordwesteuropa verhängten die meisten Handelssanktionen in Afrika. Gleichzeitig hat jedoch kein einziger Staat aus Afrika ein Handelsverbot gegen einen nordwesteuropäischen Staat verhängt.“ Dieser Umstand deutet auf eine Leerstelle in den Debatten um das Für und Wider von Sanktionen: Die globalen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse spielen darin kaum eine Rolle – das gilt auch für die Diskussionen innerhalb der Linkspartei. Wer aber Sanktionen nachhaltig für linke Politik einschätzen und bewerten will, braucht eine Antwort auf die Frage, wie Sanktionen im globalen Machtgefüge imperialer Staaten eingesetzt werden. Bevor die Frage – ob Sanktionen aus linker Sicht überhaupt ein friedliches Mittel der Außenpolitik sind bzw. welche Art von Sanktionen aus linker Sicht grundsätzlich auszuschließen wären – beantwortet werden kann, braucht es eine Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich Imperialismus? Und welche Rolle spielen Sanktionen in diesem System?Imperialismus beschreibt nicht nur eine bestimmte gewaltsame Politik oder die Tatsache, dass mächtige Nationen wie die USA oder Deutschland über kleinere Nationen bestimmen können. Kernaussagen der marxistischen Imperialismus-Theorie besagen: Die Zuspitzung der wirtschaftlichen Konkurrenz im Kapitalismus schlägt in politisch-militärische um und nimmt die Form eines globalen Systems konkurrierender kapitalistischer Staaten an, welche die Welt unter sich aufteilen. Diese Aufteilung, die der relativen Stärke der großen Mächte zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht, ändert sich, weil im Konkurrenzkampf um Einflusssphären, Absatzmärkte und Rohstoffe ständig gerungen wird.Staatliche Sanktionen entsprechen in diesem Kontext der imperialistischen Logik und sind Ausdruck derselben. Sie sind in diesem System ein integraler Bestandteil des Kräftemessens imperialistischer Staaten, wie das die Daten der GSDB veranschaulichen. Sie zeigen, dass es einen sprunghaften Anstieg mit den Verschiebungen im globalen Machtgleichgewicht ab Mitte der 1980er Jahre gibt. Die Verschärfung des Konkurrenzkampfes in der multipolaren Welt drückt sich darin aus. Über 150-mal hat allein der UN-Sicherheitsrat im vergangenen Jahrzehnt wirtschaftliche Restriktionen beschlossen.Noch nie in der Geschichte des Kapitalismus waren derart viele und derart unterschiedliche Sanktionen in Kraft wie im Augenblick. Oder wie es Jacob Lew, ehemaliger US-Finanzminister und Ex-Stabschef des Weißen Hauses, 2016 auf den Punkt brachte: „Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben die Vereinigten Staaten den Einsatz von Wirtschaftssanktionen verfeinert, sodass dieses Instrument nun genutzt wird, um ein beträchtliches Druckmittel zur Unterstützung von Verbündeten und zur Erreichung außenpolitischer Ziele gegen schlechte Akteure zu haben.“Das wirft die Frage auf, wirken Sanktionen, und wie wirken sie? Yoto Yotov, einer der GSDB-Autoren meinte: „Wir haben keinen Zweifel daran, dass Sanktionen wirtschaftlich sehr, sehr schmerzhaft sind“, aber das bedeute nicht unbedingt, „dass sie ihre endgültigen Ziele erreichen werden.“Klar ist: Die Regierenden in den von Sanktionen betroffenen Ländern werden zwar konzentriertem Druck ausgesetzt, eine substanzielle Veränderung ihrer Politik findet freilich so gut wie nie statt. Ebenso wenig müssen von Sanktionen betroffene Staatsführer inneren Machtverlust fürchten. Eines der eindrücklichsten Beispiele hierfür ist Nordkorea, das sich seit Jahrzehnten mit einem Wirtschaftsboykott der USA wie des gesamten Westens konfrontiert sieht, ohne dass die Macht des Regimes dadurch schwer erschüttert ist.Placeholder image-1Ein Blick in die Geschichte von Sanktionen zeigt: Sie sind keine friedliche Alternative zum Krieg, sondern oft nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Sie wurden zur Vorstufe einer Eskalation, an deren Ende ein Krieg stand. Beispiel Irak: Ende 1990 beschlossen die Vereinten Nationen, den Irak mit Sanktionen zu belegen. Dieser „Wirtschaftskrieg“ dauerte dreizehn Jahre und war unfassbar brutal. Unter diesen Sanktionen starben mehr Menschen als durch die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Die Wirtschaft des Irak wurde systematisch angegriffen und den Menschen die Chance auf Entwicklung genommen – Unicef beziffert die Zahl der toten Kinder auf mehr als eine halbe Million. Der damalige Diktator Saddam Hussein und die ihn stützende Elite herrschten in jener Zeit ungehindert weiter. Im Irak folgte auf diese für die Menschen katastrophalen UN-Sanktionen 2003 der Angriffskrieg der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ – mit abermals Hunderttausenden von toten Irakern.Heute argumentieren Befürworter von Wirtschaftssanktionen, man habe aus dem „Fiasko“ Irak gelernt. Statt wirtschaftlicher Totalblockaden stehe ein breites Arsenal intelligenter Druckmittel zur Verfügung, bei denen die Zivilbevölkerung verschont bliebe. Doch der Glaube, „gezielte Sanktionen“ würden nur die politisch Verantwortlichen eines Landes treffen, ist falsch. Klar: Anders als bei den Sanktionsregimen in den 1990er Jahren tauchen heute etwa Nahrungsmittel oder Medikamente nicht auf den Sanktionslisten gegen Russland auf. Aber führt das im Umkehrschluss auch dazu, dass die dortige Bevölkerung nicht ins Fadenkreuz der Sanktionen gerät?Wladimir Putin wird nicht arbeitslosSanktionsbefürworter machen um diese Frage lieber einen großen Bogen. Hier betreten sie dünnes Eis. Schon zu Beginn des Sanktionsregimes mehrten sich Berichte in westlichen Medien, dass die Zivilbevölkerung besonders von den Strafmaßnahmen betroffen sei. Die Zeit schrieb Anfang März 2022: „Leer gekaufte Läden, rasant steigende Preise: Die Sanktionen treffen die russische Bevölkerung hart.“ Es ist nicht Wladimir Putin, der arbeitslos wird, wenn westliche Konzerne ihre Zelte in Russland abbrechen. Und es ist auch nicht Ex-Staatschef Dmitri Medwedew, der unter höheren Preisen leidet.Aber nicht nur die russische Bevölkerung ist betroffen. Weil Russland ein tief in den Weltmarkt integriertes Land ist, haben die Sanktionen dramatische Auswirkungen auf Arme und Lohnabhängige weltweit. Das reicht von den gestiegenen Energiekosten über die Schwierigkeiten für Millionen von Wanderarbeitern aus den einstigen Sowjetrepubliken, die dringend benötigten Rücküberweisungen für ihre Familien zu tätigen, bis hin zur Krise in der globalen Ernährungsversorgung. Die Sanktionen gegen Russland sind sicher nicht die alleinige Ursache der Probleme, aber sie vertiefen die globale Armut.Das Ziel, der russischen Ökonomie schwer zu schaden, wird insofern nur erreicht, wenn sogenannte Kollateralschäden in Kauf genommen werden. Die in den Sanktionsregimen festgeschriebenen Ausnahmeregelungen für humanitäre Güter ändern daran wenig. Sie dienen zur moralischen Beschwichtigung westlicher Gesellschaften. Mit dem Verweis auf Ausnahmeregelungen wird das Image der Strafmaßnahmen aufpoliert. „Eine Sache müssen wir alle verstehen: Heutige Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden sind vergleichbar der mittelalterlichen Belagerung von Städten, um sie zur Kapitulation zu zwingen“, schrieb der amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas im Juni 2019, nachdem er im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates die Folgen der US-Sanktionen gegen Venezuela und Ecuador untersucht hatte.Im Parteiprogramm der Linkspartei steht: „Neben der Kritik an Gewaltakteuren und an gewaltfördernden Machtstrukturen geht es uns um die Aufklärung über tiefere Zusammenhänge von Konfliktursachen.“ Dies sollte die Richtschnur der Partei bei der Debatte und ihrer Intervention zum Thema Sanktionen sein. Öffentliche Aufklärung sollte zeigen, wie die Sanktionsregime imperialer Staaten die Grenze zwischen Krieg und Frieden verwischen. Sie normalisieren einen Zustand, den der britische Linksliberale Edmund Morel 1920 als „Friedenskrieg“ bezeichnet hat. In diesem Zustand werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die darauf abzielen, die wirtschaftlichen Potenziale und Ressourcen eines anderen Landes in Zeiten des nominellen Friedens zu verringern oder gar zu zerstören. Dabei rechtfertigen die Regierenden ihr Handeln mit der Wahrung der Völker- und Menschenrechte, obwohl es eigentlich um die Behauptung des Sanktionen verhängenden Landes in der imperialen Konkurrenz geht.„Krieg ist Frieden“, mit dieser Losung bombardiert der „Große Bruder“ in George Orwells Roman 1984 seine Untertanen im Reich Ozeanien. Die Umdeutung der Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil in der Fähigkeit von Imperien, ihre Macht zu zementieren. Will nun die Linke Geschichte schreiben, ist sie gefordert, die verbalen Täuschungen ihrer Zeit achtsam zu entschlüsseln. Das gilt für Putins Regime allemal. Aber der Sanktions-Bluff des Westens sollte dabei nicht fehlen.Placeholder authorbio-1
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