Ein Leben nach diesem Kapitalismus

Gastbeitrag Sogar Reiche fühlen sich bedroht von den Unsicherheiten, die das gegenwärtige System erzeugt. Dessen Ende müsste mit einer Neufassung des Gesellschaftsrechts beginnen
Im roten Bereich: der Kapitalismus. Wenn wir nicht das Ende der Welt erleben wollen, müssen wir anfangen, uns das Ende des Kapitalismus vorzustellen
Im roten Bereich: der Kapitalismus. Wenn wir nicht das Ende der Welt erleben wollen, müssen wir anfangen, uns das Ende des Kapitalismus vorzustellen

Foto: LIU JIN/AFP via Getty Images

Die Niederlage von Labour und Jeremy Corbyn in Großbritannien hat das Momentum der radikalen Linken schwer erschüttert – zugleich aber steht der Kapitalismus unter starkem Beschuss, vor allem von unerwarteter Seite her und vor allem in den USA, wo es auf die Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen 2o20 zuläuft. Milliardäre, Konzernbosse und sogar die der Finanzindustrie gewogene Presse haben mit Intellektuellen und Anführern lokaler Gemeinschaften geradezu eine Symphonie von Vorwürfen erhoben, die auf die Brutalität, Grobheit, Unhaltbarkeit des gegenwäritgen Rentier-Kapitalismus hinweist. „Das Geschäft kann nicht wie gewohnt weitergehen“, scheint selbst in den Vorstandsetagen der mächtigsten Konzerne ein Gefühl zu sein, das derzeit sehr in Mode ist.

Von lustlos bis lächerlich

Zunehmend gestresst und einigermaßen schuldbeladen fühlen sich Ultra-Reiche bedroht von der erdrückenden Unsicherheit und Prekarität, in welche die Mehrheit abrutscht. Wie Karl Marx vorhergesagt hat, bilden sie eine übermächtige Minderheit, die sich als regierungsunfähig gegenüber polarisierten Gesellschaften erweist – unfähig, denjenigen eine verlässliche Existenz zu garantieren, die keine Vermögenswerte besitzen. Verbarrikadiert in ihren „Gated Communities“, befürworten die Klügeren unter diesen Uber-Reichen einen neuen „Stakeholder-Kapitalismus“ und fordern sogar höhere Steuern für ihre Klasse. In der Demokratie und im Umverteilungsstaat erkennen sie die bestmögliche Versicherungspolice für sich selbst. Gleichzeitig befürchten sie, dass es in der ihrer Klasse begründeten Natur liegt, sich die Versicherungsbeiträge zu sparen...

Die vorgeschlagenen Gegenmittel reichen von lustlosen bis zu lächerlichen. Die Forderung an die Vorstände, nicht nur Aktionärsgewinne im Blick zu haben, wäre wunderbar, wäre da nur nicht dieser Umstand, dass allein die Aktionäre über die Vergütung und die Amtszeit der Vorstände entscheiden. Ebenso wäre der Ruf nach einer Begrenzung der exorbitanten Macht der Finanzwelt großartig, gäbe es da nicht noch eine weitere unbequeme Tatsache: Die meisten Unternehmen werden von Finanzmarktakteuren getrieben, die im Besitz des Großteils von deren Aktien sind.

Sich dem Rentier-Kapitalismus entgegenzustellen und Unternehmen zu formen, für die soziale Verantwortung mehr als ein Marketing-Gag ist, erfordert nicht weniger als eine Neufassung des Gesellschaftsrechts. Um die Ungeheuerlichkeit dieses Unterfangens zu erkennen, hilft es, zu dem Punkt in der Geschichte zurückzukehren, an dem handelbare Aktien den Kapitalismus zur Waffe gemacht haben – und uns zu fragen: Sind wir bereit, diesen „Fehler“ zu korrigieren?

Wir schreiben den 24. September 1599. An diesem Tag wurde in einem Fachwerkgebäude vor Moorgate Fields, unweit des Ortes, an dem Shakespeare um die Vollendung seines Hamlet rang, eine neue Art von Unternehmen gegründet, dessen Besitz in winzige Stücke zerlegt wurde, die wie Silberstücke frei gekauft und verkauft werden konnten. Der Name? Die East India Company.

Die die Freiheit verhöhnen

Handelbare Aktien haben die Geschichte angeheizt. Sie ermöglichten es privaten Unternehmen, größer und mächtiger als Staaten zu werden. Die verhängnisvolle Heuchelei des Liberalismus bestand darin, die tugendhaften Metzger, Bäcker und Brauer aus der Nachbarschaft abzufeiern, um dahinter die schlimmsten Feinde des freien Marktes zu verteidigen: Firmen wie die East India Company, die keine Nachbarn kennen, keine Moral und kein Gefühl respektieren und vor nichts zurückschrecken, um Preise festzulegen, Konkurrenten zu verschlingen, Regierungen zu korrumpieren und die Freiheit zu verhöhnen.

Dann, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, entstand eine Allianz aus Elektromagnetismus und Aktiengesellschaft, um die Welt des real existierenden Kapitalismus zu schaffen. Als die ersten vernetzten Mega-Unternehmen wie Edison, General Electric oder Bell gegründet wurden, ging der durch marktfähige Aktien freigesetzte Geist noch einen Schritt weiter: Da weder die existierenden Banken noch die Investoren genug Geld hatten, um sich in die vernetzten Mega-Firmen hinein zu pflügen, entstand die Mega-Bank – ein globales Kartell von Banken und Schattenfonds mit jeweils eigenen Aktionären.

Eine beispiellose Neuverschuldung wurde so zu einem Hebel, der Werte aus der Zukunft in die Gegenwart transferiert, in der Hoffnung, genügend Gewinn zu erzielen, um die Zukunft zurückzuzahlen. Mega-Finanzierung, Mega-Equity, Mega-Pensionsfonds und Mega-Finanzkrisen waren die logische Folge. Die Crashs von 1929 und 2008, der Aufstieg der Facebooks, der Googles und der Amazons – worauf unter anderem eben jene heutige Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus beruht – wurden unausweichlich.

Kein Kuschelkapitalismus

In diesem System, für das etwa die „liberale Demokratie“ nicht mehr als eine belächelte Etikette ist, sind die Rufe nach einem Kuschelkapitalismus eine Beleidigung der Logik und nicht mehr als eine Modeerscheinung – vor allem in der Realität nach 2008, die die totale Kontrolle der Gesellschaft durch Mega-Firmen und Mega-Banken bestätigte. Wenn wir nicht bereit und willens sind, das Gesellschaftsrecht umzuschreiben, das die 1599 erstmals entfesselten handelbaren Aktien verbietet, werden wir nichts Nennenswertes an der Verteilung von Reichtum und Macht ändern, die manche Reichen und Mächtigen im zurückliegenden Jahr 2019 geschmäht haben.

Die Demokratie braucht ein Verbot handelbarer Stimmrechte, um funktionieren zu können. Etwas Ähnliches gilt für den Besitz von Unternehmen. Wie das funktionieren kann? Stellen Sie sich vor, dass für Aktien dasselbe gilt wie für Stimmen bei einer Wahl: dass sie weder gekauft noch verkauft werden können. So wie Erstsemester bei ihrer Anmeldung einen Bibliotheksausweis erhalten, so erhalten neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihrem Einstieg in ein Unternehmen eine einzige Aktie, die eine einzige Stimme gewährt, die sie bei den Abstimmungen aller Mitglieder abgeben können, die über alle Angelegenheiten des Unternehmens entscheiden – von Management- und Planungsfragen bis hin zur Verteilung der Nettoeinnahmen und Boni unter den Kolleginnen und Kollegen.

Köstlich langweilig und stabil

Plötzlich macht der Unterschied zwischen Profit und Lohn keinen Sinn mehr; Unternehmen werden geschrumpft, was den Wettbewerb am Markt befördert. Bei der Geburt eines Kindes eröffnet die Zentralbank automatisch einen Treuhandfonds oder ein persönliches Kapitalkonto, der bzw. das regelmäßig mit einer bedingungslosen Grund-Dividende gefüllt wird. Wenn das Kind zum Teenager wird, legt die Zentralbank ein kostenloses Girokonto an.

Die Arbeitnehmer bewegen sich frei von Unternehmen zu Unternehmen und tragen ihr Treuhandkapital mit sich, das sie kommerziell entweder an das Unternehmen, in dem sie arbeiten, oder an andere verleihen können. Da es keine Aktien gibt, die man mit massivem fiktivem Kapital aufladen kann, wird die Finanzierung automatisch köstlich langweilig – und stabil. Die Staaten senken alle persönlichen Steuern und Umsatzsteuern und besteuern stattdessen nur noch Unternehmenseinnahmen, Grundstücke und Aktivitäten, die dem Gemeingut schaden.

Das ist fürs Erste genug Vorstellungskraft. Es geht darum, die Ungeheuerlichkeit dieses Vorhabens anzuerkennen, aber auch die wundersamen Möglichkeiten einer wirklich liberalen, postkapitalistischen, technologisch fortschrittlichen Gesellschaft aufzuzeigen. Diejenigen, die sich weigern, sich das vorzustellen, werden zwangsläufig der Absurdität zum Opfer fallen, auf die mein Freund Slavoj Žižek hingewiesen hat: Eher dazu bereit zu sein, das Ende der Welt zu ergründen, als sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen.

Yanis Varoufakis ist Ökonom, Publizist, Mitglied des Koordinierungskollektivs der Bewegung DiEM25 und Mitglied des griechischen Parlaments.

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