Der unbewusste Verharmloser

Kritik Das inflationäre Hantieren mit der Populismuskeule ist verantwortungslos. Eine Auseinandersetzung mit dem Artikel von Stephan Hebel.

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Stephan Hebel kann nicht wenig. Der gebürtige Frankfurter ist ein politischer Journalist, Redakteur, Kommentator und Autor der Frankfurter Rundschau, seit 1986 als Leitartikler, wie auch der stolze Verfasser bzw. Mitverfasser von acht Büchern. Zu seiner literarischen Tätigkeit, die man unter anderem auch in der Wochenzeitung „Der Freitag“ und der zweiwöchigen Zeitschrift „Publik-Forum“ genießen kann, kommt noch die ständige Mitgliedschaft in der Jury für das Unwort des Jahres und regelmäßige Auftritte im Presseclub der ARD hinzu. Ein erfahrener begabter Journalist ist also Stephan Hebel – ein Mann des geschriebenen und gesprochenen Wortes und in Anlehnung auf den Titel eines seiner Bücher: ein scharfsinniger Beobachter, der politische Propaganda durchschaut und „die wichtigsten Begriffe aus dem Wörterbuch der Irreführung in leicht verständlichen Klartext“ übersetzen kann. Soweit so gut.

Am 20. Mai 2020 ging aber etwas schief in dem florierenden Königreich des Journalisten Hebel als er die hölzerne, wacklige Treppe runter tief in den Keller der Geschichte rannte und aus einem verschimmelten Karton die 1971 verfassten und am 27. Oktober verabschiedeten „Freiburger Thesen“ wieder ans Tageslicht holte. Kaum hatte unser Protagonist den Staub von dem Dokument gepustet, schon lud er seine Feder mit Tinte und ging auf den Bundesvorsitzenden der FDP Christian Lindner los.

Bis dato nichts Ungewöhnliches. Nicht einmal die Vehemenz, mit der Hebels Feder über das Blatt tanzte, zeigte irgendwelche Auffälligkeiten im Vergleich zu anderen extatischen Erregungen, die Lindner als Prototyp des Kapitalisten sonst durch seine bloße Anwesenheit auf diesem Planeten in breiten Kreisen der politischen Linken erweckt. Bemerkenswert hingegen waren in dem unter dem Titel „Der Entwerter“ erschienen Artikel die Zusammenhänge, in denen Hebel das Prädikat „populistisch“ bzw. das Nomen „Populismus“ benutzte. So zum Beispiel warf er Lindner vor, versuche er die Freie Demokratische Partei zu einem „Scharnier zwischen einem bürgerlichen Marktliberalismus und neurechtem Radikalpopulismus zu machen“. Ein paar Zeilen weiter spitzte der Autor seine Pfeile und schoss sie direkt ins Ziel: Lindners Aspirationen seien nicht als Nationalliberalismus zu bezeichnen, sondern „vielmehr am ehesten als marktradikaler Populismus“. „Durch das populistische Agieren auf anderen Schauplätzen“, so Hebel weiter, will der Bundesvorsitzende der Freien Demokraten „bürgerliche Schichten, die sich tendenziell ökonomisch bedroht fühlen – mittelständische Betriebe, Handwerk, Facharbeiterschaft –, von den Ursachen ihrer Probleme ablenken“.

Liest man diese Zitate, bemerkt man rasch, wie schnell und undifferenziert mit der Populismuskeule hantiert wird. Lindners Forderung, die Migration nach klaren Kriterien und in Orientierung auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts (das sogenannte „Kanadischer Modell“) zu regulieren, gilt für Hebel als Beweis für die populistische Neuausrichtung der FDP, ebenso wie Lindners Äußerungen bezüglich der Flüchtlingspolitik seit 2015. Der letztere, so Hebel, hat „kaum eine Gelegenheit ausgelassen, dem Protest von rechts gegen die angeblich so liberale Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Stimme zu verleihen“. Die dünne Beweislage des Journalisten besteht hauptsächlich aus einer aus dem Kontext gerissenen Aussage des FDP-Parteichefs. Diese geht auf das Jahr 2018 zurück und bezieht sich auf Lindners Befürwortung der „Zurückweisungen an der Grenze“. Von wem genau erwähnt der Autor nicht. Von Migranten? Von Flüchtlingen? Von Asylsuchenden? Oder von solchen, die nach der EU-Verordnung 604/2013 – genannt auch Dublin III – sich in dem Land registrieren lassen sollten, in welchem sie zum ersten Mal die Grenzen der EU überschritten (abgesehen von Ausnahmefällen gemäß Art. 17 der Verordnung)? Verschwiegen wird auch, dass Lindner und der FDP die Problematik dieser Verordnung erkennen und dementsprechend auch für eine europäische Lösung plädieren, die die Dublin III Verordnung ersetzen sollte[i] und die Aufnahme von Asylsuchenden absolut einschließt. Die Abweisungen an der Grenze gelten für die Freien Demokraten lediglich als Ultima-Ratio, solange es keine solche europäische Lösung gibt. Denn es ist jedem klar, dass je mehr Asylsuchende Deutschland aufnimmt, desto weniger werden sich andere Mitgliedstaaten motiviert zeigen, sich auf einen fairen Verteilungsschlüssel zu einigen. Und warum auch, wenn die Deutschen das sowie so schon im Alleingang erledigen? Dass die skandinavischen Länder in diese Richtung gingen, verschweigt Hebel[ii]. Naja, vielleicht sind sie auch nur Populisten.

Aber nicht nur das: Merkels Entscheidung im Herbst 2015, den in Ungarn festsitzenden Asylsuchenden die Einreise nach Deutschland zu erlauben, betrachtet Lindner, wie er der ZEIT-Online sagte, als „richtig und vertretbar“. Er hätte damals genau so entschieden[iii]. Beklagt hat er aber nicht die humanitäre Intention, sondern die Tatsache, dass aus einer Ausnahme eine Regel geworden ist, und zwar ohne, dass das Parlament einbezogen wurde.

Es scheint, dass Hebel, der sonst die „wichtigsten Begriffe aus dem Wörterbuch der Irreführung in leicht verständlichen Klartext“ übersetzen kann, seine Leser selbst irreführt. Durch seine inflationäre und populistische Nutzung des Terminus „Populismus“, verharmlost er – wenn auch wider Willen und unbewusst – die echte Gefahr, die von Populisten und Radikalen jeder Couleur ausgeht.

[i] https://www.fdp.de/forderung/faire-verteilung-von-fluechtlingen-europa

[ii] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/daenemark-weist-ueber-7000-menschen-an-grenze-ab-15972316.html

[iii] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/lindner-haette-fluechtlingen-2015-auch-die-einreise-erlaubt-15844665.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. E. Yardeni

Im Zweifel liberal

Dr. E. Yardeni

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