Der Wissenschaftler und die Macht

Corona Unbewusst betreten mehr und mehr Wissenschaftler die politische Arena. Dabei bemerken sie nicht, dass sie zum untrennbaren Teil des Kampfs um Macht geworden sind

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Quer durch die Bundesrepublik etablierte sich in den letzten Wochen ein merkwürdiger Diskurs, der auf einer begrifflichen Verwechslung basiert. In seinem Zentrum stehen das Spannungsfeld und die dialektische Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik – zwei Begriffe, die man voneinander nicht so schwer unterscheiden kann, auch wenn ihre Konturen je nach ideologischer und philosophischer Fasson mal nach rechts und mal nach links geschoben werden können. Die Schwierigkeiten des heutigen Diskurses liegen also woanders, und zwar in den abgeleiteten Begriffen „Wissenschaftler“ und „Politiker“. Denn im Gegenteil zu der hermeneutisch klaren Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik- eine Unterscheidung, ohne die diese Begriffe unbrauchbar wären – kann der Wissenschaftler gleichzeitig auch ein Politiker sein und der Politiker ein Wissenschaftler. Aber nicht nur das: es kann auch passieren, dass der Wissenschaftler politisch agiert, ohne dass es ihm überhaupt bewusst ist. Diese unbewusste politische Aktivität führt oft dazu, dass der Wissenschaftler zu seiner Überraschung erfahren muss, dass er nicht mehr nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach politischen Maßstäben bewundert oder getadelt wird.

Aber wann genau und an welcher Stelle überquert der Wissenschaftler diese Trennlinie? Diese Frage kann man nicht mit mathematischer Genauigkeit beantworten, ich erlaube mir aber trotzdem, diese Linie – wenn auch nur grob – zu zeichnen. Wenn der Wissenschaftler sich in die öffentliche Sphäre aktiv einmischt, indem er medial seine Expertise zur Verfügung stellt, und seine Meinung bezüglich brennender aktueller die Bevölkerung und die etablierte Politik beschäftigenden Fragen, die sich im Rahmen seiner Expertise stellen, nicht nur im engen Kreis der Kenner äußert, sondern auch durch Nutzung der Presse in der breiten Bevölkerung verbreitet – dann überschreitet er die Linie, die die Wissenschaft von der Politik unterscheidet. Um politisch zu agieren, muss man also weder politisch organisiert noch selbst bezahlter oder Hobby-Politiker sein. Eine gewisse Ahnungslosigkeit und gut gemeinte Naivität reichen manchmal völlig aus.

Allerdings nicht in diesem Akt selbst, nämlich in der Grenzüberschreitung, liegt das Problem: die Politik ist schließlich jedem erlaubt und wissenschaftliche Expertisen sind ein Segen und kein Fluch. Davon profitiert die öffentliche Debatte ausdrücklich. Schwierig wird es dann, wenn der die politische Arena betretende Experte selbst nicht bemerkt, dass er nicht mehr in seinem Labor sitzt, sondern sich mittlerweile in eine andere Sphäre begeben hat, in der andere als ihm bekannte Regeln gelten. Symptomatisch für solche Experten und Wissenschaftler ist, dass es ihnen ziemlich lange unbewusst bleibt, dass sie durch ihre Tätigkeit Macht in Anspruch nehmen und an Macht gewinnen – Macht ist bekannterweise der Sauerstoff der Politik und der archimedische Punkt für jede politische Handlungsfähigkeit.

Wer durch seine Expertise dazu beiträgt, dass die Wirtschaft heruntergefahren wird oder dass bestimmte Maßnahmen, die gravierende Auswirkungen auf die Zukunft und Gegenwart hunderttausender von Menschen haben, der befindet sich schon, ohne es überhaupt zu bemerken, in einem Machtkampf mit verschiedenen Sektoren der Gesellschaft und der Wirtschaft. Diese Tatsache macht seine wissenschaftlich basierten Empfehlungen nicht falsch. Er mag bei allem recht haben – er agiert aber politisch. Genau das übrigens machte Christian Drosten als er uns am 15.5.2020 mitteilte, die Lockerungen seien wie ein „Tanz mit dem Tiger“ oder als er sich zehn Tage später für die Öffnung der Schulen und Kitas positionierte, was wiederum als unerlässliche Bedingung für das Ankurbeln der Wirtschaft gilt. Der renommierte Virologe mag vielleicht mit allen seinen Warnungen und Empfehlungen recht haben. An einer Tatsache ändert es nichts: diese Aussage in dieser Form auf dem Blatt oder auf der Internetseite einer etablierten Zeitung ist politisch. Genau so politisch übrigens wie die Expertise seines Kollegen Prof. Meyer-Hermann, der in verschiedenen Talkshows dafür plädierte, die Corona-Maßnahmen in ein paar Wochen zu verlängern. Er mag auch recht haben – vielleicht würde es uns dann besser gehen, vielleicht aber auch schlechter – eins ist sicher: Diese durch Nutzung der Presse verkündete Initiative überschreitet längst die Trennlinie zwischen Politik und Wissenschaft und begibt sich auf ein Terrain, auf dem der Kampf um die Verteilung von Ressourcen und Gütern das tägliche Brot ist.

Dass die politisch engagierten Wissenschaftler nun im politischen Jargon und in der sonst in der Politik gewöhnlichen Vehemenz angegriffen und kritisiert werden, soll also keinen wundern. Denn nicht als Wissenschaftler werden sie kritisiert, sondern als politische Akteure. Und das sind sie auch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. E. Yardeni

Im Zweifel liberal

Dr. E. Yardeni

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