Kulturschaffende sind wir alle oder keiner

Politik und Kultur Warum es Kultur gibt aber keine "Kulturschaffenden" - eine Auseinandersetzung mit einem ausgrenzenden Begriff

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„Der Inbegriff der von dem Menschen ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur“, so schrieb der deutsche Philosoph, Soziologe und Anthropologe Arnold Gehlen in seinem bahnbrechenden Buch „Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt“ (1939/1940). Interessant ist diese Definition vor allem, weil sie deskriptiver und nicht normativer Natur ist. Sie bewertet nämlich nicht, sondern beschreibt. Zu der Kultur gehört so gesehen alles, was der Mensch schafft oder je erschaffen hat, und zwar jeder Mensch. Von Werkzeugen, Waffen und Besteck, über Literatur und Theater bis hin zu Ampeln, Korsetts und Verhüttungsmitteln – das ist alles Kultur. Auch unser Verhalten prägt und macht die Kultur aus. Die Deutschen trinken Bier im Stadion – die Israelis hingegen setzten auf Sonnenblumenkerne. In einem Land steht man Schlange, in einem anderen kann man die Schlange nur auf dem Felde oder am Zoo sehen. Genau aus diesem Grund auch sucht der Archäologe, wenn er alte Kulturen rekonstruieren will, nach allen Hinterlassenschaften: Der Speer, das ausgegrabene Theater und die entdeckten Töpfe sind gleichwertig und erzählen aus verschiedenen Blickwinkeln die Geschichte einer Kultur.

Vor diesem Hintergrund kann man sich nur wundern, warum sich der elitäre und abgrenzende Begriff „Kulturschaffende“ bei uns so tief etabliert hat. Aber was versteckt sich eigentlich hinter diesem Begriff? Wer sich selbst „Kulturschaffender“ nennt, der setzt auch voraus – bewusst oder unbewusst –, dass es andere Menschen gibt, die keine Kultur schaffen. Diese Einstellung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn man die „Kultur“ auf einen engen Kreis von Praktiken reduziert, die in das Tätigkeitsfeld der Kulturschaffenden fallen und von ihnen als etwas Erhabenes betrachtet werden. Man muss nicht unbedingt ein Soziologe oder Anthropologe sein, um zu verstehen, welche Praktiken zu diesem engen Kreis gehören. Um das zu erfahren, muss man nicht viel mehr tun, als in die nächste Schule um die Ecke zu gehen – besser, wenn die Corona-Krise vorbei ist. Denn wenn die Kiezschule zu einem „Kulturabend“ einlädt, dann kann man schon im Vorfeld ahnen, was man da in der Aula zu sehen und zu hören bekommen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Bühne der beste Fußballer oder Handy-Zocker des Jahrgangs seine virtuosen Fähigkeiten zeigen wird, ist eher gering. Er und seine Tätigkeit seien keine Kultur. Mit Theater, bestimmten musikalischen Richtungen und Gesang ist eher zu rechnen.

Dass die selbsternannten Kulturschaffenden sich selbst und ihre Branche als etwas Erhabenes betrachten, dass sie diese Tätigkeit – das sogenannte „Kulturschaffen“ – anderen allzu gerne absprechen, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, dass dieser aus- und abgrenzende Begriff mittlerweile in aller Munde ist. Und in diesen Tagen steht er auch auf der offiziellen Webseite der Bundesregierung, wo man „Informationen für Kultur- und Medienschaffende“ finden und dort auch erfahren kann, dass das Hilfsprogramm der Regierung das Ziel verfolgt, „die Zukunft von Kultureinrichtungen zu sichern“. Was sind aber diese Einrichtungen, in denen die Kultur sich so wohl und gemütlich fühlt und wo fühlt sie sich nicht so heimisch, sondern fremd? Und wie kann man diese Frage beantworten, ohne im Vorfeld klar zu sagen, was die Bundesregierung unter Kultur überhaupt versteht und was nicht? Worum genau – um noch ein Beispiel aus dem politischen Feld zu greifen – kümmern sich Kulturministerien? Wer definiert ihre Tätigkeitsgrenzen? Die breite Öffentlichkeit oder der enge Kreis der Kenner der „Kultur“? Nicht wenig Hybris und Hochmut haben hier ihre Hand im Spiel.

Nein. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Ich plädiere eindeutig dafür, dass unsere Theater – um nur ein Beispiel zu nennen – vom Staat finanziert und gerettet werden. Das tue ich aber nicht, weil ich die Theater als einen erhabenen Kulturträger sehe, sondern weil ich sie als Teil der Kultur – neben vielen anderen Teilen wie Gastronomie, Architektur und Sportvereinen – verstehe. Gerettet und unterstützt sollen in dieser Branche nicht DIE KULTUR, sondern Mitarbeiter, die in finanzielle Not geraten sind, werden. Und diese fleißigen Mitarbeiter unterscheiden sich von anderen Mitarbeitern in der Hotelier-Branche oder in der Autoindustrie nicht. Sie dürften ihre Produkte – ihre Theaterstücke – nicht verkaufen, weil ihnen per staatliche Verordnung das Publikum ferngeblieben ist. Deswegen und nur deswegen haben sie die staatliche Hilfe verdient. Auch ohne Oper und Theater gäbe es eine menschliche Kultur. Sie wäre bloß ein Stück ärmer. Genau so arm übrigens, wie in einem Szenario, in dem der Fußball verschwindet würde oder etliche Facetten unserer kulinarischen Welt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. E. Yardeni

Im Zweifel liberal

Dr. E. Yardeni

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