Gottes größter Liebling

Türkei Wenngleich der jüngste Putschversuch des Militärs vereitelt wurde, könnte er den Untergang der türkischen Republik einläuten

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Hat nun einen Blanko-Scheck: Recep Tayyip Erdoğan
Hat nun einen Blanko-Scheck: Recep Tayyip Erdoğan

Bild: Chris McGrath/Getty Images

Es waren vermeintliche Anhänger der Demokratie, westliche europäische Bürger, die hinter vorgehaltener Hand immer wieder in den letzten Jahren nach der Wahrscheinlichkeit eines „von Erdogan erlösenden“ Putsches gefragt hatten und auch jetzt nach dem Putschversuch ihren insgeheimen Wunsch nach einem geglückten Coup von sich gaben. Der jüngste Putschversuch war nur der Auslöser, der mögliche Untergang der türkischen Republik beginnt aber nach und vor allem losgelöst von ihm. Die Ironie des Ganzen liegt in einem Ausspruch, mit dem der Präsident diesen kleinen militärischen Aufstand schon in den ersten Stunden des Putsch-Abends beschrieb: „Ein Geschenk Gottes“. Gemeint ist der Blanko-Scheck der Legitimation des willkürlichen Umgangs mit vermeintlichen Staatsfeinden, den er sich am Putsch-Abend überreicht sah, worüber er seine Freude kaum verbergen konnte.

Europa applaudierte noch für die erfolgreiche Niederschlagung des Putsches im Sinne der Verteidigung der Demokratie, da war vielen türkischen Bürgern schon das eigentliche Trauerspiel hinter den Kulissen bewusst, welches nun anstand. Eine vorangegangene erfolgreiche gigantische Mobilmachung seiner Wählerschaft – drei SMS-Nachrichten bekam der Wähler, mit der Aufforderung, für die Zerschlagung des Putsches und für die Verteidigung der Demokratie auf die Straßen zu gehen –, die zusammen mit den in ihrer Anzahl unterlegenen Bürgern aus den verschiedensten politischen Lagern den Willen des Volkes zum Ausdruck brachten und unter dem Deckmantel der Verteidigung ihrer Demokratie den Machterhalt und -ausbau ihres Präsidenten gewollt oder ungewollt zementierten. Der oppositionellen Bevölkerungsschicht war die aus Teilen von Lynchmobs bestehenden Gruppierungen auf der Straße sofort suspekt, und es schien, als ob derselbe Typus an Leuten, die noch an Ramadan Menschen aufgrund ihres ihrer Meinung nach verbotenen Alkoholkonsums verprügelten, nun mit „Gott ist groß-Rufen“ mehr für den Erhalt und Weiterausbau eines islamischen Staates unter Erdogan auf die Straßen gingen als für eine für alle Bürger geltende freiheitliche demokratische Grundordnung. Es war der Sieg des eigenen Volkes, der vielen Bürgen noch in der Nacht im Halse stecken blieb.

Die Nebenschaubühne mit den anfänglich weit wenigeren Zuschauern feierte hingegen die gewaltige Premiere ihres Trauerspiels: „Endgültige Machtergreifung – die Implementierung eines autoritären Staates“. Alle Weichen hierfür wurden in atemberaubender Geschwindigkeit und innerhalb weniger Stunden gestellt.

Aushebelung der laizistischen Grundordnung

Das Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wurde durch Erdogans Machtapparat umgehend angewiesen, sämtliche Imame zum Gebetsruf und Aufruf zum Widerstand gegen den Putsch aufzufordern. Die Imame kamen dem ausnahmslos nach und riefen Gebete bis in die Nacht hinein, die nur durch ihre Verkündung von Widerstandspropaganda unterbrochen wurden.

Gleichschaltung sämtlicher Medien

Gab es bis vor dem Putsch-Versuch noch einige Medien, die trotz erschwerter Bedingungen einen objektiven Journalismus verfolgten, so wusste man in der Coup-Nacht um die weitreichenden Folgen einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Die Terminologie und die Staatspropaganda in der Berichterstattung entsprach durchgehend die der Erdogans und seiner Anhänger. Ohne die endgültige Beweislage abzuwarten, sprachen alle von der schuldigen Parallelstruktur innerhalb der Armee, die der Gülen-Bewegung angehören soll. Keine Schockstarre, keine Mutmaßungen und anfänglichen Erklärungsversuche, sondern „bekannte und bereits ermittelte Hochverräter und Putschisten“, die zu tausenden innerhalb von 24 Stunden ihres Amtes enthoben oder gar verhaftet wurden.

Die Etablierung eines von Angst dominierten Staates mit totalitären Strukturen

Auch die kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen im Nachgang wird weiterhin getragen sein von der Tatsache, dass diejenigen, die weder pro-Putsch noch pro-Erdogan sind, sich zurückhalten werden, möchten sie nicht in die Riege der Putsch-Sympathisanten gerückt und hierfür belangt werden. Die dadurch entstehende Kontroll- und Machtlegitimation für Erdogan ebnet nun den Weg der zu erwartenden krassen Säuberung innerhalb sämtlicher Institutionen und ermöglicht ihm die Entledigung aller unliebsamen politischen Gegner.

Aushöhlung der Gewaltenteilung

Die Absetzung – und teilweise Inhaftierung – von 2700 Richtern innerhalb von 24 Stunden sind noch viel mehr als der Beweis, dass es unter Erdogan zu einer Verschiebung der Gewaltenteilung kommt. Sie steht für deren künftige und faktische Wirksamslosigkeit, in dem der Rechtsstaat massiv durch die Person Erdogans untergraben wird und gleichzeitig der Polizeistaat an immer mehr legitimierte Macht gelangt.

Verblendung und Täuschung der Gesellschaft

Es liegt in der Natur der Sache, dass mit zunehmender Konzentration der Macht und fehlender Transparenz die Mehrheitsgesellschaft dazu missbraucht wird, sich gegen jegliche Kritik von Außen geschlossen zu wehren. Die geglückte Zerschlagung des Putsches war gleichzeitig die Rückgewinnung des bis dahin zunehmend bröckelnden Selbstbewusstseins der AKP-Anhängerschaft unter den Augen der ganzen Welt.

Spaltung und Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft

Der automatische soziale Kontrollmechanismus sprang mit Beginn des Coup-Versuches an. Innerhalb der Bevölkerung regieren nun die stärksten Waffen: Argwohn, Misstrauen und Angst – die besten Mittel, Bürger folgsam und wachsam zu machen. Zusätzlich ist die große Schwächung des Ansehens der türkischen Armee ein wichtiges Instrument, um den letzen verblieben gesellschaftlichen Konsens außerhalb der AKP-Anhängerschaft zu eliminieren. Gab es bis dato die verschiedensten politischen Lager übergreifende Übereinkunft, dass die Armee im Kampf gegen den Terror stets zu verteidigen sei, so ist nun dieser gemeinsame Nenner soweit aufgeweicht, dass selbst der bis dato größte Nationalist und Befürworter eines starken Militärs Teil des wütenden Mobs sein konnte, der die Soldaten angriff.

Das ist drei Tage nach dem Putsch-Versuch die verheerende Bilanz, gepaart mit einer noch düsteren Zukunftsaussicht – oder mit den Worten eines Autokraten gesprochen: wahrlich ein „Geschenk Gottes“.

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