Es war einmal eine Türkei der Hoffnung...

Geplatzte Träume Der innere und politische Frieden der gegenwärtigen Türkei droht auseinanderzubrechen. Angst und Verzweiflung machen sich breit

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Es lastet eine Ohnmacht auf den Menschen in Istanbul. Wie ein Nebel, der nicht mehr verfliegt
Es lastet eine Ohnmacht auf den Menschen in Istanbul. Wie ein Nebel, der nicht mehr verfliegt

Foto: YASIN AKGUL/AFP/Getty Images

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen öffentlichen Mülleimer, solche, die beispielsweise an Laternenpfählen befestigt werden, in Istanbul gesehen habe. Vor Jahren, erzählte man mir, habe man sämtliche Eimer entfernen lassen, aufgrund der ständigen Terrorgefahr, der das Land schon seit Jahrzehnten ausgesetzt ist. Mit dieser Angst lebten die Istanbuler genauso wie mit der allseits existierenden Angst vor Erdbeben. Ängste, so meinte man, sind diesen Menschen eigen, ich habe sie für ihren souveränen Umgang damit bewundert. Ein Leben mit großem Restrisiko, das war der flapsig aber doch voller Stolz eingegangene Deal, um dafür in der vielleicht aufregendsten Metropole der Welt zu leben.

In den vergangenen Wochen und Monaten spüre ich jedoch eine Ohnmacht der Menschen, ähnlich jener während den Phasen des berüchtigten Windes, des Lodos, der den Istanbuler (Schiffs-) Verkehr regelmäßig zum Erliegen bringt. Ein Stillstand, der dann ausbricht und sich dann verflüchtigt, wenn der Nebel weicht. Ein Zustand des Wachkomas im Herzen der Stadt, ähnlich dem gegenwärtigen: Doch dieses Mal ist es kein Wind und auch nicht von absehbarer Dauer, es ist eine Ohnmacht, die einer langen Schockstarre gleicht: Menschen, die angsterfüllt und verzweifelt sind, ob der sich zunehmend bedrohlichen Lage ihres Landes.

Es gab die Zeiten der Hoffnung, der großen Einigkeit, die nach mehr Demokratie rief und auf dem besten Wege war, endlich den langersehnten inneren Frieden zu bringen: Nur so schien man endlich all den sinnlos getöteten Menschen und ihren Hinterbliebenen der letzten 40 Jahre Bürgerkrieg gerecht zu werden, mit Frieden und Brüderlichkeit, die über jeglichem politischen Machtspiel und Waffengewalt stehen und die für immer siegen sollten.

Heute erkenne ich fast ausschließlich pure Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen, die alles dafür getan haben, dass am Ende die Menschlichkeit, der Frieden und die Demokratie siegen. Diese Bürger mussten in den letzten Jahren miterleben, wie ein vermeintlich demokratischer Politiker zunehmend despotisch agiert, alte Feindschaften erneut aufleben lässt und die vorherrschenden unabhängigen Gewalten auszuhebeln versucht. Dieser Umstand wiegt so viel mehr, als die jahrzehntelangen Bemühungen von denselben, gegen die starren Strukturen des Kemalismus vorzugehen, der auch heute nichts Besseres als den Status quo von damals, sprich der Zeit vor Erdoğan, als Maxime und Ziel zu bieten hat. Der bewegungslose Kemalismus war nicht gnädiger oder gar milder als die heutige Regierung, aber sie war berechenbarer und an sich ihrer Linie treu.

Umso größer ist die Verzweiflung, dass man doch seinerzeit den Geist selbst rief, dessen Unwesen noch lange nicht vorbei zu sein scheint. Ein Land und eine Gesellschaft, die inzwischen tief gespalten ist in zahlreiche Gräben, so dass ein Aufeinanderzugehen kaum noch vorstellbar ist. Diese Schluchten werden neuerdings noch weiter gefestigt und zementiert, denn es herrscht eine alles überragende Angst um das eigene Leben. Und je mehr man sich dort verschanzt und unter sich bleibt, umso größer der Glaube, auch über die anderen siegen zu müssen. Und so ist das Land in die verschiedensten Lager aufgespalten, von regierungstreuen Anhängern, Nationalisten, aufständischen Kurden bis hin zu den oppositionsschwachen Kemalisten und linken Gruppierungen. Zu den durch die inneren Unruhen verursachten ständigen Gefahren um Leib und Seele, gesellt sich ebenso bedrohlich eine weitere: der internationale Terror durch den IS, wobei hier die Haltung der Regierung mehr als fragwürdig bleibt.

Dazwischen rinnt, wie auch im Rest der Welt, der dicke Kloß, der im Hals stecken bleibt, der Funke Hoffnung, die schonungslose Ehrlichkeit und der einzig wahre Wille nach Frieden und Demokratie. Individuen, die mit ihrem puren Menschdasein, mit lebensbejahender Jugendlichkeit die Dinge geraderücken und die Hoffnung nicht verlieren wollen. Menschen, die andere aufrütteln wollen mit der klatschenden Ohrfeige der Wahrheit, die gnadenlos und in aller (sozial-medialen) Öffentlichkeit daherkommt, wie es sich beispielsweise anfühlt den Bruder bei einem Bombenattentat zu verlieren, oder wie es ist, wenn man nur noch die Knochen des eigenen Vaters übereicht bekommt, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. War die Ausgangssperre doch mehr eine Falle, ein Verhängnis als eine Sicherheitsmaßnahme.

In solchen Augenblicken ist er da, der ungemeine Wunsch, dass die Einsicht plötzlich doch noch kommen mag, dass nur Einigkeit und ein politischer Friedensprozess die einzigen Garanten für Stabilität und Frieden sind. Würde da nicht ein Präsident mit Gefolgschaft für noch mehr Chaos und Unruhe sorgen, sei es mit noch mehr militärischer Gewalt oder mit noch mehr provozierenden und demokratieschädigenden Handlungen, die nur seiner Machtansammlung dienen. Lautet seine Rechnung doch wie folgt: Je mehr Instabilität desto bereiter seine Wählerschaft, die Macht ihm zur Konzentrierung zu überlassen, dem vermeintlich einzigen Retter der Nation, die von so vielen Feinden umgeben scheint. Seine Wählerschaft, die ihn so zahlreich gewählt hat, steht ebenso in der Verantwortung und es liegt an ihr, abzuwenden, dass die Türkei ein weiteres gebeuteltes Krisengebiet in der Region wird.

Der Argwohn, der Erdoğan bis dato seitens Europa entgegenschlug, ist politisch verpufft. Man kritisiert ihn nicht mehr, nein, man macht einer Türkei in ihrer demokratisch schwächsten und instabilsten Phase sogar Versprechungen, in absehbarerer Zeit die Beitrittsverhandlungen wieder aufzunehmen. Verraten und verkauft im neuen Europa auf dem Werte-Basar.

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