Europa des Hohns

Demokratie Die Veröffentlichung des kritischen Berichts der EU-Kommission zur Lage der Türkei wurde diese Woche erneut und kommentarlos verschoben. Es ist ein großes Zugeständnis

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Außen hui, innen Pfui. Angela Merkel ist in der Flüchtlingskrise auf Erdogans Kooperation angewiesen und hält sich deshalb mit Kritik zurück
Außen hui, innen Pfui. Angela Merkel ist in der Flüchtlingskrise auf Erdogans Kooperation angewiesen und hält sich deshalb mit Kritik zurück

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung via AFP/Getty Images

Wieder einmal hat uns die politische Realität bulldozerartig überrollt und uns gezeigt, was die EU in nicht schwierigen Zeiten zu sein vorgibt und letzten Endes an diesem Punkt kläglich versagt, nämlich ein Europa der gemeinsamen demokratischen Werte zu sein. Die Veröffentlichung des kritischen, vornehmlich negativen Berichts der EU-Kommission zur Lage der Türkei wurde diese Woche erneut und kommentarlos verschoben, man möchte doch erst die Ergebnisse der Neuwahlen am 1. November abwarten.

Ein sehr großes Zugeständnis, um hier nicht von Fügsamkeit zu sprechen, an einen zunehmend autokratisch agierenden Präsidenten, unter dessen Verantwortung das Land in chaotischen, zuweilen bürgerkriegsähnlichen Zuständen driftet. Ein Land, in dessen Gesellschaft inzwischen friedensstiftende, demokratische und regierungskritische Stimmen gegenwärtig einen sehr hohen Preis zahlen und dennoch unter der stetigen Aufmerksamkeit Europas auf ein Einlenken und Umdenken der restlichen Bevölkerung hoffen.

Inhaltslose Floskel

In solch einer hochsensiblen und instabilen Lage muss dieses Zugeständnis einer wahren Ohrfeige gleichen, die den Anhängern der wahren Demokratie vor Augen führt, dass ein „Europa mit ein und denselben Werten“ kein bedingungsloser Anspruch ist, sondern ebenso als inhaltslose Floskel daherkommen kann. Nicht Neues, weiß man doch, dass eine gemeinsame politische Haltung, und sei dies erst recht mit dem Aufkommen der Flüchtlingskrise, eine riesen Herausforderung darstellt, die bestenfalls in einem minimalen Konsens endet und die notwendige Humanität an vielen Stellen nach wie vor missen lässt. Es geht hier in erster Linie um nationale Interessen, um Grenzen die dicht gemacht werden und letzendes immer wieder um Wählerstimmen.

Angela Merkel, die in den 13 Jahren ihrer Amtszeit gerne neuerdings auch als Pastorentochter betitelt wird, legte in den vergangenen Tagen in Windeseile den väterlichen Nächstenliebe-Mantel ab und begab sich dahin, wo sie sich schon immer am wohlsten fühlt: Auf das Terrain des realpolitischen Kalküls. Dieses Kalkül war es auch, das sie seit dem Beginn der türkischen Bemühungen um einen EU-Beitritt im Jahre 2005 dazu brachte, bis zuletzt einen Beitritt vehment abzuwehren.

Vergleicht man aber die politische Situation damals mit heute, erkennt man ganz klar, dass einhergehend mit der durchgesetzten Verfassungsänderung sowie der Entmachtung des türkischen Militärs seinerzeit in der Tat von einer Demokratisierung gesprochen werden konnte, die ebenso das Potenzial hatte, das Land „europareif“ zu machen. Bedauerlicherweise, so schien es, gewährte die rein politische Berechnung für derlei so gut wie keine Beachtung oder Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, jede Abfuhr von Europa führte zu noch mehr politischer Isolation und zu mehr Resignation eines inzwischen machtgierigen Präsidenten. Hätte man der Türkei seinerzeit reelle Beitrittschancen zugestanden, in dem man noch weiterreichende Veränderungen unterstützt und Zuversicht vermittelt hätte, würde man heute wahrscheinlich nicht ein solches erbärmliches Schauspiel darbieten müssen.

Eine Aussicht auf einen EU-Beitritt für ein Land und für einen despotischen Gegenspieler, dessen Bevölkerung für die Demokratie dieser Tage zu Hunderten sterben, um im Gegenzug bedürftige, flüchtende Menschen davon abzuhalten, ganz gleich mit welchen Mitteln Erdogan das auch immer versuchen wird, zu uns zu kommen? Das ist nicht nur eine Ohrfeige, sondern der allergrößte politische Hohn und Verrat für all diejenigen, die an Menschlichkeit, Rechtstaatlichkeit und Demokratisierung tatsächlich glauben.

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