Ramschware Demokratie

Freiheit Die Türkei hat sich mit dem Wahlergebnis leichtfertig gegen bürgerliche Grundrechte gestellt und damit das höchste Gut einer Republik verhökert

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Am Morgen nach der Wahl sorgt das Ergebnis am Bospurus für Stirnrunzeln
Am Morgen nach der Wahl sorgt das Ergebnis am Bospurus für Stirnrunzeln

Foto: OZAN KOSE/AFP/Getty Images

„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Diese hegel´sche Weisheit steht sinnbildlich für das, was die türkische Gesellschaft nicht zu überwinden gewagt hat, im Gegenteil: Die Notwendigkeit, einzusehen, dass der Partei Erdogans und dem immer gierigereren Größenwahns ihres Präsidenten hätte Einhalt geboten werden müssen. Spätestens bei dieser Wahl. Bedauerlicherweise ist genau das passiert, womit fast keiner gerechnet hat: Die AKP hat mit einer absoluten Mehrheit die größte Bestätigung seitens seiner Wähler erhalten, die sie mehr denn je darin bestärkt, ihren autoritären Führungsstil, der fast ausschließlich in der Person des Präsidenten in Erscheinung tritt, zu untermauern.

In der Tat ist das Ergebnis nicht nur für AKP-Gegner überraschend gewesen. Selbst die optimistischen Prognosen der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung sagten weitaus weniger Stimmen voraus. Auch gibt es nach wie vor ernstzunehmende Stimmen, die von Wahlbetrug und Manipulation sprechen. Man wusste und weiß um die Merkwürdigkeiten, die sich auch dieses Mal rund um die Wahl abspielten und dennoch: Kann eine Wahlmanipulation so groß und so unverhohlen sein, dass sie letztlich mehr als die Hälfte der Stimmen für sich beansprucht? Nein, denn traurigerweise, und das wissen auch die politischen Gegner, entfaltet die Partei eine bemerkenswerte Sogwirkung – obwohl sie die demokratischen Werte kontinuierlich mit den Füßen tritt und die Nation zunehmend polarisiert.

Dieses seit längerem existierende „wir und ihr“ ist mit dem Wahlergebnis endgültig an seinen Tiefpunkt angelangt, geht es denn nur noch darum, Triumphe über die Nicht-AKP-Wähler zu erzielen und diese mundtot zu machen und in Schach zu halten. Eine gemeinsame Vision von Frieden und Stabilität, die alle Wähler eint, gab es mehrheitlich nicht und wird nun auch mit diesem Wahlausgang endgültig in den Wind geschrieben.

Das AKP-Wahllager hält starr an einer autoritären Methodik und Rhetorik des Präsidenten sowie dem Rest der Partei fest. Es lässt sich vielleicht nur dadurch erklären, dass es eine gemeinsame Überzeugung gibt: die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einer vermeintlich wirtschaftlichen und politischen Stabilität, wie man sie vor allem in den ersten Regierungsjahren Erdogans verzeichnen konnte. Viele Menschen glauben sogar, dass diese Stabilität nur durch die Alleinherrschaft der Partei oder gar des Präsidenten Erdogans möglich sei und verweigern sich selbst die Option einer Koalition und damit einer etwaigen Stimmenvielfalt.

Mit der Stimme für die AKP, so könnte man glauben, galt es also in erster Linie einer weiter vorherrschenden politischen Instabilität sowie einer eventuellen wirtschaftlichen Stagnation entgegenzuwirken, ohne jedoch der Tatsache ins Auge zu sehen, dass das Land bereits am Scheideweg seines politischen Systems zu sein scheint, in der sehr viele Menschen bereits einen hohen Preis für den Erhalt der Demokratie bezahlen. Natürlich ist dieses Ergebnis auch dem Nicht-Vorhandensein starker oppositioneller Parteien mit sozialdemokratischem Charakter zu verdanken, die dem Wähler schlicht keine Alternative boten.

Und so ist man nun an den Punkt angelangt, an dem ein Land seine Bürger an den entferntesten politischen Polen wiederfindet und wohl kaum noch imstande ist, diese zu vereinen. An einem Punkt, an dem eine Gesellschaft die demokratischen, republikanischen und freiheitlichen Grundgüter, für deren Existenz und Fortbestand gleichzeitig tagtäglich viele Menschen kämpfen, leichtfertig ablegt und verhökert. „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“, diesen Satz würde J.J. Rousseau für die Türkei wohl ausweiten: Der türkische Bürger lag in Ketten und entschied sich fortan für schwere Bleikugeln, die er bereit war an seinen Ketten zu tragen.

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