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Türkei: Präsidialsystem Die Türkei befindet sich politisch als auch wirtschaftlich auf Talfahrt. Das zu erwartende Referendum zur Verfassungsänderung könnte die Situation weiter verschärfen

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Wir sind in den vergangenen Monaten oft nur fassungslose Zeugen, die mit ansehen dürfen, wie sich die Politik und die Gesellschaft eines Landes in atemberaubender Geschwindigkeit wandeln. Es ist kaum möglich, den sich überstürzenden, schrecklichen Ereignissen, dem fast alltäglichen Terror und dem Putschversuch im vergangenen Sommer mit seinen gravierenden Folgen für die Gesellschaft, zu folgen, geschweige denn diese zu begreifen.

Ob in der Politik des Landes oder zwischen seinen Bürgern, jedes Ereignis hat eine inzwischen weitere Spaltung innerhalb der Gesellschaft zur Folge, die vor allem der Regierungsseite zur eigenen Machterhaltung oder –ausdehnung dient. Und jedes weitere Vorkommnis wird von den Wählern zum Anlass genommen, sich entweder noch weiter von der Regierung und ihren Anhängern zu entfernen, oder umgekehrt, sich ihnen weiter nahtlos anzunähern, ohne jegliche Kritik oder Objektivität zuzulassen. Die Polemik, der Populismus sowie die Verbreitung von Verschwörungstheorien jeglicher Art haben vor allem bei Erdogan-Wählern Hochkonjunktur, gilt es doch, die vermeintlich äußeren Mächte, die es auf Erdogan und die Türkei abgesehen haben, um jeden Preis abzuwehren.

Können türkische Medien schon lange kein unzensiertes Abbild der gesellschaftlichen Meinungsvielfalt wiedergeben, nutzt die Erdogan die instabile Situation für sich aus und gibt vor, dass nur eine zentrale Macht das Heilmittel für den inneren Frieden sei, die sich nach seinen Vorstellungen natürlich nur in seiner eigenen Person umsetzen lässt. Ein Stabilitätsversprechen allerdings, das er schon lange nicht mehr halten kann.

Und je weiter sich das Land auf politische und wirtschaftliche finstere Zeiten zubewegt, desto unüberwindbarer wird die Distanz zwischen den einzelnen Gruppierungen in der Gesellschaft. Der innere Frieden, wenn es ihn denn gibt, liest sich inzwischen also lediglich als die bloße Abwesenheit von Unruhen, jederzeit der Gefahr ausgesetzt, wieder in einen solchen Unruhezustand zu verfallen. Die gegenwärtige politische als auch wirtschaftliche Talfahrt, die noch weiter an Geschwindigkeit zunehmen dürfte durch das zu erwartende und bevorstehende Referendum, das in seinem möglichen Ausgang die Türkei in ihrer bisherigen politischen Form grundsätzlich ändern könnte: die Volkssouveränität, also die Selbstbestimmung durch das Volk, die dann permanent untergraben zu werden droht durch eine mögliche Ungleichgewichtung in der Gewaltenteilung und einen Präsidenten, der dann fast entkoppelt vom Parlament, weitreichende Befugnisse hätte, die seine alleinige Macht noch weiter zementieren dürften. Eine, wenn man so will, furchterregende Vorstellung, da dieser Schritt, einmal gegangen, nicht mehr so einfach rückgängig zu machen sein dürfte.

Derzeit ist leider nicht mehr als eine weitere Verschärfung des vergifteten gesellschaftlichen Klimas zu verzeichnen. Vor allem unter den Anhängern Erdogans ist die Zunahme eines ungesunden Patriotismus bzw. eines kompromisslosen Nationalismus zu beobachten, die gepaart mit einer strengen Auslegung des Islam, das öffentliche sowie private Leben des Einzelnen zunehmend beeinflussen möchten. Der einzige Weg, der den inneren Frieden wieder herstellen könnte, ist der über den Weg des Bewusstseins über die noch existierende Volkssouveränität sowie die eines gemeinsamen Verantwortungsgefühls für die instabile Lage.

So sehr man zurecht Erdogan kritisiert, darf man jedoch nicht vergessen, dass es nach wie vor seine Wähler sind, die voraussichtlich auch bei dem bevorstehenden Referendum mehrheitlich für eine Verfassungsänderung stimmen werden. Sind inzwischen Repressalien und Zensur in Bezug auf die freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit an der Tagesordnung und wissen wir alle, dass Transparenz in Sachen Information anders aussehen, so ist es dennoch fatal, hier und jetzt die Erdogan-Wählerschaft mit Besserwissertum und Isolation abzustrafen, sondern mit ihnen einen gemeinsamen Weg zurück zum (kleinsten) gemeinsamen Nenner zu finden, der die Grundlage aller türkischen Bürger nach wie vor ist: nämlich die republikanische und freiheitliche Grundordnung, die es zu nunmehr zu verteidigen gilt. Auch wenn es schwerfällt: Eine wirkliche Demokratie muss auch islamisch-konservativ geprägte Lebensweisen und Denkrichtungen der Mehrheit aushalten, sofern sie nicht ihre eigenen Grenzen überschreitet und sich somit selbst infrage stellt, stehen die freiheitlichen Prinzipien weiter in keinster Weise und niemals zu Debatte. Eine streitbare Demokratie also, die erst einmal ihrer Selbsterhaltung dienen muss, um für alle gleichermaßen zu existieren, unabhängig der individuellen Präferenzen und Lebensweisen.

Und genau an diesem Punkt befindet sich die große Kluft, die das Land in zwei große Teile spaltet. Eine Annäherung beider Seiten scheint in weite Ferne gerückt, wobei genau diese jetzt notwendiger denn je scheint, wenn es darum geht, die Türkei im Inneren zu befrieden. Sind die Anhänger Erdogans jetzt erst recht bereit, sich für den dessen weiteren Machtausbau weiter abzuschotten und mehr denn je hinter ihm zu stehen, ist auf anderer Seite der überaus große Bedarf an einer wahrhaftigen, überzeugenden Opposition, die alle Gesellschaftsschichten ansprechen könnte, noch nie deutlicher gewesen.

Die größte oppositionelle Partei des Landes, die kemalistische CHP, muss endlich mit ihrer idealisierten Scheuklappen-Politik aufhören, die ähnlich wie die AKP-Politik, oft keinerlei Kompromisse kennt oder duldet. Es ist höchste Zeit, dass sie Konzepte für sämtliche Bürger des Landes entwirft, die auch u.a. den demokratisch gläubigen AKP-Wähler ansprechen, ohne erst einmal zu bestimmen, wie gläubig der Wähler sein darf, oder die ernsthaft und gemeinsam mit den Kurden nach einer wirklichen Friedensllösung sucht. Es ist an der Zeit, vom hohen Ross herunterzusteigen und all diejenigen Bürger einzubeziehen, die vermeintlich nicht in das kemalistische Eliten-Schema passen. Auch das ist ein wichtiger Grund, weshalb Erdogan und seine AKP seit 13 Jahren an der Macht sind: der „kleine konservative Bürger der Mitte“ hat sich endlich verstanden und abgeholt gefühlt, ohne die Arroganz einer Partei zu spüren.

Ferner ist nicht zu leugnen, dass die Rhetorik der CHP-Politik und ihrer Anhängerschaft schon lange als überholt, unzeitgemäß und destruktiv gilt, die nicht mehr zu bieten hat, als stets die einzig politisch geduldete Leitfigur, nämlich Republikgründer Kemal Atatürk, immer wieder ins Feld zu führen, und mit ihm auf Stimmenfang zu gehen. Das führt allenfalls zur weiteren Spaltung der Gesellschaft und nicht zu einer politisch ertragreichen Debatte oder gar mehr Wählerstimmen. Und schließlich gilt leider auch heute noch, dass ein objektiver Umgang mit der Person Atatürk unerwünscht ist. Dabei müsste dies endlich Teil des offenen kritischen Umgangs sein dürfen, damit eine gesunde Loslösung von der Kultfigur in Richtung einer Weiterentwicklung und Optimierung seiner Ideen hin zu einer wirklichen und glaubhaften Demokratie stattfinden kann.

Den Beweis, dass die Oppositionspartei der CHP nicht mehr am Puls der Zeit agiert, lieferten die vielen jungen Wähler, die sich ihrer Freiheiten schon lange bewusst, optimistisch und offen für eine Partei entschieden, die nicht am Status quo der Ära vor Erdogan zu kleben schien. Und auch nicht umsonst sprach die HDP Bedürfnisse von vielen jungen Wählern an, ging es ihr doch um zeitgemäße Inhalte und freiheitliche Werte, die alle Bürger, auch die Minderheiten in der Gesellschaft einzubeziehen versuchte.

Um das vergiftete Klima in der Gesellschaft nicht noch weiter zu belasten, ist es also notwendig, dass die Opposition endlich anfängt, sich zu verändern. Denn wenn es gilt, die Wähler davon zu überzeugen, dass ein „Ja“ zur Präsidialdemokratie einen großen Eingriff in deren Mitbestimmung und Freiheiten bedeuten dürfte, so muss das klare Ziel sein, sämtliche Wählerschichten zu erreichen und diese dort abzuholen, wo sich gemeinsame Wählerinteressen finden, also schlicht und allein in der demokratischen Grundordnung, die jede Sicht- und Lebensweise gleichermaßen legitimiert. Ferner ist es unabdingbar eine neue glaubwürdige politische Personalpolitik zu betreiben, die Schluss macht mit den immer gleichen enttäuschenden Polit-Köpfen.

Schließlich und endlich sollte auch eine Partei wie die CHP Konzepte und Lösungen anbieten, die sowohl wirtschaftliche als auch politische Substanz beinhalten und die für Stabilität und Glaubwürdigkeit sorgen. Eine starke Opposition, die aus allen Gesellschaftsschichten Wähler an sich bindet, ist womöglich der Garant für eine weiter existierende Parlamentarische Demokratie, deren Wähler selbstbestimmt sind und weiterhin bleiben können.

Die selbsternannten Enkel der Osmanen einerseits, die in Erdogan die kompromisslose Erfüllung und Umsetzung ihrer konservativen und islamisch geprägten Ideen sehen, müssen sich wieder ihrer wertvollen freiheitlichen Prinzipien bewusst werden und die am Personenkult klammernden, bisher reformresistenten Kemalisten andererseits, müssen endlich aus ihrem Tiefschlaf erwachen und sich emanzipiert und mit neuer Formierung für eine glaubhafte Demokratie aller einsetzen. Jetzt wäre womöglich die beste und letzte Gelegenheit dafür.

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