Genug, genug, genug! Genug?

Türkei Dieses Mal wird es für Präsident Erdoğan keine Selbstverständlichkeit, die vorgezogenen Wahlen zu gewinnen: Er hat Konkurrenz
Ausgabe 21/2018
Der CHP-Fraktionschef Muharem İnce ist ein ernstzunehmender Rivale für Erdoğan
Der CHP-Fraktionschef Muharem İnce ist ein ernstzunehmender Rivale für Erdoğan

Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images

Der Präsident und die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) galten für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 24. Juni lange als Favoriten. Dass Recep Tayyip Erdoğan dieses Votum vorzog, hatte die Opposition kalt erwischt. Auch war bald klar, dass es eine mögliche Gegenkandidatur des einstigen Staatschefs und Erdoğan-Weggefährten Abdullah Gül nicht geben würde. Der galt vielen als Hoffnungsträger, wollte dann aber im Hintergrund bleiben. Auch konnten sich die Oppositionsparteien, die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP), die national-konservative Gute Partei und die islamistische (Saadet-)Partei der Glückseligkeit (SP) nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, auch wenn sie sich zur „Allianz der Nation“ (Millet İttifakı) zusammenfanden.

Dass überhaupt Chancen für einen Regierungswechsel erwogen werden, ist der Kandidatur von CHP-Fraktionschef Muharem İnce zu verdanken, zweifellos ein ernst zu nehmender Rivale für Erdoğan. Der Physiklehrer versteht sich als Ideenbewahrer des Republik-Gründers Kemal Atatürk, ist ein glühender Patriot, steht aber gleichzeitig für Gewaltenteilung und eine prowestliche Außenpolitik ein. Er ist wortgewandter als sein Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu und kann frustrierte CHP-Wähler zurückholen, die bei den letzten Wahlen oft ferngeblieben sind.

Weil İnce einer sunnitischen Familie aus der Stadt Yalova am Marmarameer entstammt, dürfte er auch für religiös-konservative Milieus annehmbar sein, ebenso für kurdische Wähler. İnce erwarb sich die Achtung vieler Kurden, als er vor zwei Jahren im Parlament gegen die von Staatschef Erdoğan betriebene, auch von der CHP-Fraktion unterstützte Aufhebung der Immunität von – zumeist kurdischen – Abgeordneten votierte. Nach seiner Nominierung besuchte İnce Selahattin Demirtaş, den Co-Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten der HDP (Demokratische Partei der Völker), im Gefängnis. Hinterher hieß es, İnce habe sich für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage ausgesprochen.

Für eine durchaus gehobene Stimmung in den Reihen der Opposition sorgte Erdoğan selbst mit einem Kommunikationsfehler. Auf dem lokalen Istanbuler Parteikongress der AKP, den er nutzte, um sein Wahlprogramm vorzustellen, ließ er wissen, wenn das Volk einmal „genug“ sage, dann werde er zurücktreten. Womit er einen Twitter-Sturm auslöste: Hunderttausende verbreiteten den Slogan „genug“ über Twitter, das türkische Wort „tamam“ wurde mit mehr als einer halben Million Tweets weltweit zum Top-Trend.

Vieles spricht dafür, dass es für Erdoğan und sein Wahlbündnis keinen Spaziergang zum nächsten Wahlsieg gibt, da nach dem Putschversuch 2016 die Wirtschaft allzu sehr ins Schlingern geraten ist. Zwar lag 2017 das Wachstum mit 7,4 Prozent höher als erwartet, doch wurde dafür die Haushaltsdisziplin geopfert. Die expansive Fiskalpolitik, neue Schulden und Subventionen haben die strukturellen Probleme der türkischen Ökonomie weiter verschärft. Die Inflationsrate ist wieder zweistellig (elf Prozent), weil die türkische Währung seit 2016 gegenüber Dollar und Euro zum Sinkflug überging – das Leistungsbilanzdefizit stieg auf 5,5 Prozent des Bruttosozialprodukts, was das Schuldenproblem zusätzlich verschärft hat. Vor zwei Wochen stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s wegen der Inflation die Bonitätsnote für die Türkei von BB/B auf BB-/B herab.

Inwieweit die „Allianz der Nation“ davon profitiert, bleibt abzuwarten. Das Oppositionsbündnis verspricht im Falle eines Wahlsiegs die Rückkehr zum Rechtsstaat, zur Unabhängigkeit der Justiz sowie zur Presse- und Medienfreiheit. Doch über die Gegnerschaft zum autokratischen Präsidialsystem hinaus fehlt die Botschaft. Politisch kohärenter wirkt dagegen Erdoğans „Volksallianz“, die soziokulturellen Differenzen zwischen AKP, MHP und BBP (Große Einheitspartei) sind schwächer als die zwischen der Republikanischen Volkspartei CHP und der Glückseligkeitspartei SP.

Fest steht, dass die Doppelwahl am 24. Juni wieder einmal eine Zäsur sein wird: Der Umbau des Staates zum von Erdoğan gewünschten Präsidialsystem ließe sich abschließen. Auch bei einem Wahlsieg der säkularen und sozialdemokratischen Volkspartei wäre ein Zurück-zum-Parlamentarismus keinesfalls sicher. Triumphiert hingegen die „Volksallianz“ unter dem Dirigat der AKP, dürfte Erdoğan bis 2023 – dem 100. Jahrestag der Republikgründung – sein Projekt einer „neuen Türkei“ endgültig durchgesetzt haben.

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