Medien in Uniform

Fake News Während eines Seminars an der Jerusalemer Universität kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit. Für die Dozentin endet das in einer Schmutzkampagne

Anfang Januar berichtete der israelische TV‐Nachrichtensender Kan über einen Vorfall am Skopusberg-Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem. Eine Studentin sei während eines Seminars wiederholt von einer arabischen Kommilitonin wegen ihrer Uniform belästigt und für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht worden. Anstatt die Soldatin in Schutz zu nehmen, habe ihr die Dozentin mit ihrem aggressiven Verhalten einen weiteren Schlag versetzt.

Als Beleg wurden Teile eines Videos ausgestrahlt, die die Soldatin im Gespräch mit ihrer Dozentin zeigen. Die Dozentin sagt hier unter anderem Folgendes: „Sie können doch nicht so naiv sein und verlangen, wie eine Zivilistin behandelt zu werden, wenn Sie in Uniform erscheinen“. In der Sendung kam ein Vertreter der NGO Im-Tirtzu zu Wort, der das vergiftete Klima an israelischen Universitäten beklagte. Was hier vorherrsche, sei Antizionismus. Die rechtsnationalistische NGO Im-Tirtzu ist für ihre Hetzkampagnen gegen Menschenrechtsorganisationen und kritische Dozenten bekannt. Am Ende der Sendung folgte eine Stellungnahme der Hebräischen Universität, die respektloses Verhalten zwischen Studierenden und Dozenten in allgemein gehaltener Sprache verurteilte.

Was war geschehen?

Wie die Zeitung Haaretz später unter Berufung auf Anwesende berichten würde, ging es am 1. Januar im Masterseminar Kritische Kulturtheorien von Dr. Carola Hilfrich um Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. Während des Seminars habe eine arabische Studentin die theoretische Relevanz des Textes im Kontext einer Gesellschaft unter militärischer Besatzung in Frage gestellt. Unter den dreißig Studierenden befand sich, wie immer in diesem Semester, eine uniformierte Soldatin. So etwas ist normal in einem Land, in dem viele Soldaten an Hochschulen ausgebildet werden oder neben dem Wehrdienst studieren.

Nach Ende des Seminars habe die Offizierin von der arabischen Studentin wissen wollen, was genau mit der Bemerkung über die Besatzung gemeint war. Die Studentin habe das Gespräch abgelehnt – sie habe keine Privatdiskussion über Politik mit einer uniformierten Person führen wollen. Empört sei die Soldatin umgehend zur gemeinsamen Dozentin gegangen, die neben ihrer Lehrtätigkeit Studierende bei Belästigungsfällen unterstützt. Obwohl sie zu einem weiteren Seminar eilen musste, hätte sich Dr. Hilfrich die Zeit für ein Gespräch mit der augenscheinlich besorgten Studentin genommen.

In die Medien gelangte nur ein heimlich gefilmtes Handyvideo der letzten zwei Minuten dieses Gespräches.

Dr. Hilfrich, so sagen es Zeugen, habe der Soldatin in einem abgelegenen Korridor bereits minutenlang vor Beginn der Aufnahme zu erklären versucht, warum die Ablehnung eines Gespräches mit einer Uniformierten keinen Diskriminierungsfall darstelle. Die Dozentin wirkt im Video zwar ungeduldig, was sich aber mit einem ihrer ersten Sätze in der Aufnahme – „Ich muss mich beeilen, ich habe ein weiteres Seminar“ – erklären ließe.

„Ich reiße mir den Arsch auf, um diesen Staat zu verteidigen“

Trotzdem versucht die Soldatin, sie in ein politisches Streitgespräch zu verwickeln. „Ich reiße mir den Arsch auf, um diesen Staat zu verteidigen und verdiene nicht solche Kommentare“, stellt sie fest. Nachdem Hilfrich sie bittet, ihr den Vorfall schriftlich zu melden, hörte man die Soldatin fragen: „Ist das ein Problem, dass ich Uniform trage? Stört es Sie, dass ich eine eingezogene (Soldatin) bin?“.

Die Dozentin versucht daraufhin, erneut den Standpunkt der arabischen Studentin zu schildern: „Für manche Leute ist die Zivilgesellschaft genauso wichtig wie für Sie das Militär. Diese Prioritäten müssen Sie genauso zu akzeptieren und zu tolerieren lernen wie die anderen ihre Prioritäten.“ Der vom Nachrichtensender Kan aus dem Kontext gerissene Satz „Sie können doch nicht so naiv sein und verlangen, wie eine Zivilistin behandelt zu werden, wenn Sie in Uniform erscheinen“, erregte die größten Empörung.

Die Geschichte macht schnell die Runde. Am Tag nach der Sendung verbreiten weitere Medien Kans Version der Geschichte. Eigene Recherchen gab es offenbar nicht. Die Ministerin für soziale Gleichheit, Gila Gamliel vom regierenden Likud, fordert in einem offiziellen Anschreiben an die Universität ein Disziplinarverfahren gegen die Dozentin. An mehreren Hochschulen demonstrieren nationalistische Gruppen in Uniform. Es gibt Gewalt- und Todesdrohungen gegen Dr. Hilfrich, die sich nicht mehr in die Universität traut. Auch ihre deutsche Herkunft wird thematisiert – in Dutzenden Kommentaren im Internet wird sie als Nazi beschimpft, manche fordern ihre Ausweisung .

Die Berichterstattung in der Jüdischen Allgemeinen

Neben der evangelikalen Webseite Israel heute fand es im deutschsprachigen Raum nur die vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebene Jüdische Allgemeine redaktionell relevant, die Geschichte ohne eigene Recherche vor Ort auf ihrer Webseite zu behandeln. Die Darstellung Ralf Balkes übertraf in Unwahrheiten allerdings sogar die ursprüngliche Version von Kan.

Die arabische Studentin wurde bei Balke zu einem männlichen „Araber“, der die israelische Soldatin „mitten im Unterricht“ belästigt und „übergriffig“ beleidigt habe. Dr. Hilfrich, habe die Soldatin wegen ihrer Uniform „gemaßregelt“. Sie wird als „deutsche Dozentin“ und „deutsche Lehrkraft“ tituliert, als wäre sie eine Gastdozentin. Dass sie langjähriges Mitglied der Fakultät ist, seit 2000 in Jerusalem lebt und auf Hebräisch forscht und lehrt, wird nicht erwähnt. Der Vorfall wird damit in ein Schema gepresst, das die Sicht auf den Nahostkonflikt oft heimsucht: „Araber greift Israelin an, und eine Deutsche maßregelt das Opfer anstatt den Täter“.

Im Artikel finden sich weitere Verzerrungen. Balke behauptet, die Soldatin leiste „ganz normalen Wehrdienst“, obwohl die freiwillige Militäroffizierin in der Aufnahme das Gegenteil berichtet. Auch dass sie die Geschichte selber publik gemacht habe, berichtet Balke. Das wäre zumindest gegen die offiziellen Regeln: Als Soldatin darf die Studentin nicht mit Medienvertretern sprechen. Sie verneinte später auch, das getan zu haben. Dass Kommilitonen „das Ganze bezeugen“ können, wie der Artikel behauptet, ist auch falsch. Auf die Handy-Aufnahme wird im gesamten Artikel allerdings kein Bezug genommen. Dafür legt Balke Hilfrich den Satz „Sie verdienen es sowieso nicht, dass ich Zeit dafür aufwende“ in den Mund. Die Stellungnahme der Universität wird so wiedergegeben, als verurteile die Institution das Verhalten der Dozentin und des arabischen „Studenten“ direkt, was nicht der Wahrheit entspricht.

Nur eine Show?

Erst fünf Tage später und nachdem Kommentatoren und rechte Politiker die Geschichte reichlich ausgeschlachtet hatten, veröffentlichten Haaretz und das linke Internet-MagazinSicha Mekomit eigene Recherchen zum Vorfall. Nach mehreren Interviews mit Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern rekonstruierten beide Publikationen unabhängig voneinander den Vorfall. Sicha Mekomit machte öffentlich, dass die Soldatin langjähriges Mitglied der Jerusalemer Sektion von Im Tirtzu ist. Erst vor einem Monat wurde öffentlich, dass anderes Mitglied der Gruppe jahrelang linke Aktivisten bespitzelt und ihre Aktionen heimlich dokumentiert hatte. Ob das Gespräch mit der Dozentin von der Soldatin zum Teil so geführt wurde, als wüsste die Soldatin, das gefilmt wird, wie es das linke Magazin nahelegt, bleibt ungewiss.

Nachdem der tatsächliche Verlauf des Vorfalls, der auch durch eine interne Untersuchungskommission der Fakultät bestätigt wird, an die Öffentlichkeit gelangt war, kam es zu Gegenreaktionen. Studierende der linken Gruppe Zusammenstehen demonstrierten auf dem Skopusberg-Campus gegen die Fake-News-Kampagne und solidarisierten sich mit Dr. Hilfrich.

In einem Brief an die Universitätsmitglieder nannte der Rektor den Fall „Fake News“ und stellte sich solidarisch auf die Seite der Dozentin. Wut richtete sich in den sozialen Netzwerken auch gegen die zahlreichen Journalisten, die die von Anfang an fragwürdige Geschichte ohne eigene Recherche verbreitet und so eine hochgeschätzte Dozentin verleumdet und Morddrohungen ausgesetzt hatten.

Nachspiel

Mittlerweile hat auch die Jüdische Allgemeine in einem Artikel darüber berichtet, dass der Vorfall sich anders abgespielt haben muss, als ursprünglich beschrieben. "Offensichtlich haben verschiedene Medien den Vorfall anfangs verzerrt dargestellt" schreibt Sabine Brandes in der Zeitung. Balkes Artikel ist verlinkt, ein Eingeständnis, dass man zu eben denen gehört, die die Geschnisse verzerrt dargestellt haben, gibt es allerdings nicht.

Der Fall zeigt, wie leicht es ist, Medien in Israel oder Deutschland für aktivistische Inszenierungen zu instrumentalisieren, auch wenn sie klar als solche zu erkennen sind. Sei es aus Faulheit, aus Lust auf eine exklusive Meldung oder aufgrund der politischen Überzeugungen des jeweiligen Journalisten, gelangen immer wieder gut verpackte Videos in die Medien, inklusive Augenzeugen und gewünschten Experten, ohne dass Quellen richtig benannt und eingeordnet werden können. Auf eigene Recherche wird zumeist verzichtet. Infolge dessen ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr NGOs und politische Gruppierungen aller Couleur ihre eigene Dokumentations-Abteilungen aufbauen. Auch ihre Methoden werden selten hinterfragt.

Wenn dann der eigentliche Kontext bekannt wird, ist der Schaden meist schon angerichtet. Richtigstellungen kommen nicht auf die Titelseite, wenn es sie überhaupt gibt.

Der ursprüngliche Artikel aus der Jüdischen Allgemeinen, der auf Facebook meistkommentierte Beitrag jener Woche, steht noch immer unverändert online. Der neue Beitrag wurde kurz vor dem Schabbat auf Facebook gepostet. Am Donnerstag stand er dort, unkommentiert und mit vier Likes.

Yossi Bartal wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 2006 als freier Autor in Berlin-Neukölln. 2018 gab er dem Freitag dieses Interview über den schmalen Grat zwischen Antisemitismus, Israelhass und Solidarität mit Palästinensern in Deutschland

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