Die Geschichte hinter dem Song // Beethoven's »Neunte Sinfonie«

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Am Freitag den 7. Mai 1824 schreibt Ludwig van Beethoven mit 970 Takten Musikgeschichte. Im Wiener Kärtnertortheater präsentiert er seine Neunte Sinfonie, in der er die Ideale der Französischen Revolution hochleben lässt. Mit diesem Meisterstück schafft Beethoven ein Werk, das die Welt bewegt und provoziert, seit es zum ersten Mal erklungen ist.

Als 1789 in Paris die Bastille gestürmt wird ist Beethoven 19 Jahre alt. Es ist der Beginn der Französischen Revolution. Die städtischen Massen und die Bauern fegen die Monarchie beiseite und machen Platz für eine neue Gesellschaft, von der die Revolutionäre erwarten, dass sie »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« bringe.
Beethoven hasst den König, den Adel und die Gesellschaftsordnung, für die sie stehen. Er ist ein leidenschaftlicher Anhänger der Demokratiebewegung. Doch die hoffnungsvolle Periode, die die Französische Revolution einzuleiten schien, endet für ihn – und viele andere – mit einer Enttäuschung. Als Napoléon sich 1804 selbst zum Kaiser krönt, sieht Beethoven die Ideale der Revolution verraten. Er schreibt: »Ist der auch nicht anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher, wie alle Anderen stellen, ein Tyrann werden!«. Es kommt noch schlimmer. Als Beethoven 15 Jahre später die Neunte Sinfonie komponiert herrschen Krieg, Repression und Unterdrückung in Europa. Das Alte erhebt sich, um das Neue zu bekämpfen. 1819 – fünf Jahre vor der Uraufführung der »Neunten« – verfügen die Minister der deutschen Einzelstaaten die »Karlsbader Beschlüsse«. Die demokratisch-liberalen Bewegungen sollen im Keim erstickt werden.

Eine Schlüsselrolle spielt Fürst Metternich, ein Verfechter der alten politischen und sozialen Ordnung, Befürworter der Monarchie und erklärter Gegner der Französischen Revolution. Er will die Uhren wieder auf die vorrevolutionäre Zeit zurückdrehen. Alle Druckerzeugnisse müssen die Zensurbehörde passieren. Liberale und demokratische Zeitungen werden als staatsgefährdend sogar ganz verboten. Über die Pressezensur hinaus werden Vertreter der Opposition verfolgt. Liberale und Demokraten wandern zu Tausenden in die Gefängnisse. Auch an den Universitäten herrscht politischer Zwang. Kritische Professoren verlieren ihre Lehrstühle, rebellische Studierende werden aus den Universitäten geschmissen. Demokratische Strömungen gelten als »zersetzender Zeitgeist«. Für Beethoven hat es den beängstigenden Anschein, als sei alles beim Alten, beim Vorgestrigen geblieben – vergeblich all die Kämpfe, jeglicher Elan und sämtliche Ideale von einer Welt »in der alle Menschen Brüder werden«.

Beethoven will sich dem Konservatismus der Regierenden entgegenstellen – mit seiner Musik. Doch durch seine allmählich fortschreitende Taubheit ist es ihm unmöglich, als Pianist aufzutreten. So widmet er sich vor allem dem Komponieren. Für den mittlerweile in Österreich lebenden Künstler ist ein Gedicht aus den Revolutionsjahren von besonderer Bedeutung: Friedrich Schillers »Ode an die Freude«. Die Verse beschreiben eine Gesellschaft jenseits von Unterdrückung, Hass und Armut – eine Welt von gleichberechtigten Menschen, die durch das Band der Freude und der Freundschaft verbunden sind.

Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng getheilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt. (...)
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!

1786 publiziert, avancierte die Ode schnell zum Volksgedicht. Der Text wurde in Deutschland schon frühzeitig als Bekenntnis zu den Idealen der Französischen Revolution verstanden. Beethoven verehrte den elf Jahre älteren Dichter, der ihm in Worten all das vorgemacht hatte, was er sich für seine Musik wünschte: Radikalität, Entschlossenheit und Freiheit. Beethoven will Schillers »Ode an die Freude« in seiner Neunten Sinfonie vertonen. Mehrere Jahre schreibt und tüftelt er an ihr.

Und dann. Die Uraufführung in Wien. Das Theater ist voll. 2400 Menschen wollen des Komponisten erstes öffentliches Konzert seit acht Jahren erleben. Der Abend wird zu einem Triumph für Beethoven: Applaus, Vivat-Rufe und Tücherschwenken nach jedem Satz, Beifall sogar während der Aufführung. Warum? Er stellt die damalige Musikwelt auf den Kopf – politisch wie künstlerisch. Zum einen hat die Neunte einen ungewohnten Umfang – die Sinfonie dauert doppelt so lang wie Beethovens vorherige. Drei brachiale Instrumentalsätze bauen sich fünfzig Minuten lang zum Finale auf. Grimmig, fast bedrohlich aber auch nebulös und ohne eine einzige wirkliche Melodie erklinkt der erste Satz. Unter dem Donnergrollen der Pauken und Bässe steigert er sich zum Triumph des zerstörerischen Chaos. Trauermarschartig rhythmisierte Motive der Bläser beschließen den ersten Satz. Als »Katastrophe«, als »Vernichtung« und »Zerschmetterung« ist dieser Einbruch charakterisiert worden. Trägt Beethoven musikalisch die Errungenschaften der Revolution zu Grabe? Dann ein Knalleffekt. Plötzlich, abrupt und verblüffend setzt die Pauke ein und eröffnet den zweiten Satz. Im rasenden Tempo, gehetzt, fast atemlos lässt Beethoven sich die Motive entwickeln. Man gewinnt den Eindruck, als breite sich die »Katastrophe« des ersten Satzes wie ein unaufhaltsames Lauffeuer über die Welt aus. Der Dritte Satz, deutlich langsamer, bringt mit harmonischen Klängen eine Atempause.
Doch plötzlich, am Ende des Dritten Satzes, kündigt sich mit zwei Fanfaren, gewissermaßen Weckrufen, schon das Finale und seine aufrüttelnde Botschaft an: »O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.« Was hat Beethoven der »Zerstörung« entgegenzusetzen? Die Antwort, die er gibt, ist in ihrer Eindeutigkeit kaum zu überhören. Im Schlussakt der Sinfonie lässt Beethoven den Chor und die Solisten ausgewählte Strophen aus dem Gedicht »Ode An die Freude« vortragen. Ein Novum, das vor Beethoven undenkbar gewesen war. Denn Vokalstimmen hatten bis dato in einer Sinfonie nichts zu suchen. Damit unterstreicht Beethoven nicht nur die Aussagekraft des Gedichtes von Schiller, sondern schlägt eine neue Seite in der Geschichte der Sinfonie auf. Mit dem Chor betreten die »Massen«, die die Bastille erstürmten, die Bühne der klassischen Musik. Ein Tabu ist gebrochen, eine Grenze überschritten, eine Form gesprengt. Die schlichte, eingängige, sozusagen zum Mitsingen anstiftende Melodik des Finales bekräftigt den anti-elitären, populären Tonfall der Sinfonie: Eine eindringliche Kampfansage an all die »Metternichs« seiner und unserer Zeit. Der Kapitalismus das Ende der Geschichte? O Freunde, nicht diese Töne – würde Beethoven wohl heute sagen – auf dass der Funke überspringt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

YPA

äh wie jetzt...

YPA

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden