Jacek Kaczmarski: »Mury«

Protestsong Die Geschichte hinter dem Song »Mury« von Jacek Kaczmarski

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Am 7. Dezember 1970 gedenkt der damalige Bundeskanzler Willy Brandt im Zentrum der polnischen Hauptstadt vor dem Mahnmal den Opfern des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Das Bild des »Kniefalls von Warschau« geht um die Welt. Was die wenigsten heute wissen: Nur sieben Tage später bricht in Polen erneut ein Aufstand los. Der Musiker Jacek Kaczmarski schreibt den Soundtrack dazu.

Polen ist zu dieser Zeit für viele kein lebenswerter Ort. In dem angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat haben weder die Arbeiter noch die Bauern das Sagen. Eine Clique von Funktionären der »kommunistischen« Partei regiert das Land nach ihren Interessen. Die Bürokratie der Staatspartei kontrolliert die Medien, Gerichte, Polizei und die Armee. Freie Gewerkschaften sind verboten, das Streikrecht existiert nicht mal auf dem Papier. Tausende politische Gefangene sitzen in den Knästen, weil sie gegen das Regime kämpften. Ein Zentrum des Widerstandes gegen die Diktatur ist die Lenin-Werft in Danzig.

Als kurz vor Weihnachten 1970 die Staatsbürokratie die Preise für Lebensmittel um 38 Prozent erhöht, treten die Arbeiter der Werft in einen wilden Streik. Wie ein Lauffeuer breitet sich der Protest auf andere Städten aus: Zehntausende sind in ganz Polen auf den Straßen. Die Streiks, Massenkundgebungen und Demonstrationen in Gdingen, Danzig und Stettin machen die Herrschenden nervös. Um den Protest zurückzudrängen, schlägt der Staat zurück. Die Polizei knüppelt Arbeiter nieder, Soldaten schießen in die protestierende Menge. Nach der Niederschlagung des Aufstandes gibt die Regierung zu, mindestens 49 Menschen ermordet zu haben. Tatsächlich ist die Zahl der Opfer doppelt so hoch, mehrere Hundert werden durch die Staatsgewalt verletzt. Zwar muss danach der Parteichef Gomułka zurücktreten. Aber die Diktatur existiert weiter – eine Niederlage für die Opposition. Sechs Jahre später kommt es erneut zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und dem Staatsapparat. Wieder sterben Menschen, wieder kann die Staatsmacht sich behaupten.

Der Liedermacher Jacek Kaczmarski ist zu der Zeit 19 Jahre alt. Seine Eindrücke vom Widerstand und der Repression verarbeitet er 1978 in seinem Lied »Mury«. Der Text handelt von einem Sänger dessen Lied zum Startschuss des Widerstandes einer Massenbewegung wird. Doch am Ende steht der Sänger wieder alleine da, ohne das die Bewegung erfolgreich war:

On natchniony i młody był ich nie policzyłby nikt / On im dodawał pieśnią sil śpiewał że blisko już świt / Świec tysiące palili mu znad głów unosił się dym / Śpiewał że czas by runął mur oni śpiewali wraz z nim

(Er war jung und voller Ideen, die anderen waren unzählig viele / Er gab ihnen Kraft mit seinem Lied, er sang: »Die Morgendämmerung kommt bald« / Tausende Kerzen entzündeten sie für ihn, über den Köpfen erhob sich der Rauch / Er sang: »Die Zeit ist reif, die Mauern müssen fallen«, sie sangen mit ihm)

Wyrwij murom zęby krat / Zerwij kajdany połam bat / A mury runą runą runą / I pogrzebią stary świat!

(Reiß die Gitterstäbe aus den Mauern / Spreng die Fesseln, zerbrich die Peitsche / Und die Mauern werden fallen, fallen, fallen / Und die alte Welt wird begraben!)

Wkrótce na pamięć znali pieśń i sama melodia bez słów / Niosła ze sobą starą treść dreszcze na wskroś serc i dusz / Śpiewali wiec klaskali w rytm jak wystrzał poklask ich brzmiał / I ciążył łańcuch zwlekał świt on wciąż śpiewał i grał

(Schon bald kannten sie das Lied auswendig und summten nur die Melodie / Auch ohne Worte wusste jeder, was gemeint war, es bewegte die Herzen und durchdrang die Köpfe / Sie sangen also, klatschten im Rhythmus, wie ein Schuss erklang ihr Applaus / Doch die Kette war schwer und die Morgendämmerung ließ auf sich warten, aber er sang und spielte noch immer)

Aż zobaczyli ilu ich poczuli siłę i czas / I z pieśnią że już blisko świt szli ulicami miast / Zwalali pomniki i rwali bruk – Ten z nami! Ten przeciw nam! / Kto sam ten nasz największy wróg! A śpiewak także był sam

(Und sie erkannten, sie waren viele und fühlten ihre Macht / Und mit dem Lied von der nahenden Morgendämmerung marschierten sie durch die Straßen der Städte / Sie brachten Denkmäler zu Fall und rissen Pflastersteine heraus – Dieser ist mit uns! Dieser gegen uns! / Wer allein ist, ist unser größter Feind! Auch der Sänger war allein)

Patrzył na równy tłumów marsz / Milczał wsłuchany w kroków huk / A mury rosły rosły rosły
Łańcuch kołysał się u nóg...

(Er beobachtete den Gleichschritt der Massen, / schwieg vertieft im Donner ihrer Schritte / und die Mauern sie wuchsen, wuchsen, wuchsen / die Kette, sie schaukelte am Bein)

Patrzy na równy tłumów marsz / Milczy wsłuchany w kroków huk / A mury rosną rosną rosną / Łańcuch kołysze się u nóg...

(Er beobachtet den Gleichschritt der Massen, / schweigt vertieft ins Dröhnen der Schritte / und die Mauern sie wachsen, wachsen, wachsen / die Kette, sie schaukelt am Bein)

Der Song:

Den Text des Liedes hat Kaczmarski verfasst. Die Melodie stammt von dem katalanischen Liedermacher Lluis Llach. Er schrieb sie 1968 für den Song »L'Estaca« (»Der Pfahl«) – das Symbollied für den Kampf gegen politische Unterdrückung in Spanien. Der neue Text von Kaczmarski spielt auf Llachs Geschichte selbst an. Llach sang das Lied nicht öffentlich, er spielte die Begleitakkorde an und summte die Melodie dazu, worauf die Zuhörer zunächst in tosenden Beifall ausbrachen.

Dann wurden, während das Lied vorsichtig mitgesummt wurde, tausende Kerzen angezündet und die Menschen bewegten sich im Rhythmus der Musik. Denn das Lied war bis zum Sturz Francos 1975 verboten. Während sich das Original betont kämpferisch gibt, endet der polnische Song »Mury« ohne aktuellen Bezug und pessimistisch.

Trotzdem entwickelt es sich zum Hit der Untergrundszene Polens und Jacek Kaczmarski wird der Barde der Opposition. Seine Lieder werden tausendfach vervielfältigt, von Kassette zu Kassette kopiert und gesungen. Die Liedermacherkultur ist nicht nur in Polen, sondern im gesamten Ostblock sehr beliebt. Gitarre und Stimme reichen aus, um diese Musik zu machen. Die lyrischen Texte bieten die Möglichkeit, trotz der Zensur, Klartext zu reden.

Der Gegner wurde zwar nicht beim Namen genannt, aber die Poesie war ein Vehikel für Angriffe auf das System. So auch bei »Mury«. Es beginnt mit akustischer Gitarre: gezupft, leise, minimalistisch. Der Sänger setzt mit tiefer Stimme ein und singt die erste Strophe. Der Refrain ist anders. Die Gitarre wird laut geschlagen und ein Klavier unterstützt den eindringlichen Wunsch nach dem Sturz der Mauern.

Das Duo holt alles heraus, was es mit zwei Instrumenten zu erreichen gibt. Sie arbeiten mit Pausen und Tempowechseln. Es wird erst laut und dann herrscht Stille. Damit es jeder versteht, wird nach der zweiten Strophe der Refrain in das Nichts hinein gesungen: Zum Nachsingen empfohlen!

Im August 1980 passiert genau das. Als die staatliche Leitung der Lenin-Werft die Streikführerin Anna Walentynowicz feuert, treten alle 16.000 Arbeiter in den Streik und besetzen das Gelände. Auf der Streikversammlung stimmen die Kolleginnen und Kollegen für den unbefristeten Streik. Am Ende des Massenmeetings in den Docks singen Streikende nur ein Lied: »Mury«. Mit ihm begann, was später als Solidarność-Bewegung in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Die Protestbewegung entfaltet sich im ganzen Land. Mehrere Hunderttausend streikten in verschiedenen Städten und unterstützen die 21 Forderungen der Danziger Arbeiterinnen und Arbeiter unter anderem nach Abschaffung der Privilegien für Funktionäre der Staatspartei, Freilassung der politischen Gefangenen, Pressefreiheit, Streikrecht und Recht auf freie Gewerkschaften. Am 31. August 1980 zwingen die Massenstreiks die Regierung zum Nachgeben. Einen Tag später gründen die Streikaktivisten die Gewerkschaft Solidarność. Der Name bedeutet auf Deutsch »Solidarität«. Schnell bilden Arbeiter in ganz Polen Gewerkschaftsgruppen. Ende September sind zehn Millionen Menschen Solidarność beigetreten. Es ist die erste freie Gewerkschaft im Ostblock und das Lied »Mury« wird die Hymne der Bewegung.

Der Künstler: Jacek Kaczmarski (* 22. März 1957 in Warschau; † 10. April 2004 in Danzig) war ein polnischer Sänger, Dichter und Schriftsteller. Er wurde wegen seines Bekenntnisses zum Kampf gegen die stalinistische Diktatur als »Barde von Solidarność« bezeichnet. Am bekanntesten wurde er durch seine Lieder mit sozialen und politischen Themen: Zum Beispiel »Mury« (Mauern).

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Geschrieben von

YPA

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