Kraftwerk "Computerwelt"

Protestsong Die Geschichte hinter dem Song "Computerwelt" von Kraftwerk

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Kraftwerk "Computerwelt"

Foto: Kraftwerk spielt "Computerwelt", Screenshot Youtube

Im Jahr 1981 präsentiert die Band Kraftwerk mit ihrem Album "Computerwelt" eine futuristische Prophezeiung der Rolle von Computern im Kapitalismus. Ihr eigenwilliger Sound stellt nicht nur die Musikwelt auf den Kopf. Mit der gleichnamigen Single kreiert die Band auch den ersten Anti-Überwachungs-Protestsong der Popmusik

Frühjahr 1980: Auf Druck der Presse muss das Bundeskriminalamt (BKA) eingestehen, dass es im großen Stil auf die persönlichen Daten von Hunderttausenden Menschen zugreift. Die Behörde zwingt die örtlichen Strom-, Gas- und Wasserwerke zur Herausgabe ihrer Kundendaten. Angeblich suchen die Beamten nach Terroristen der Roten Armee Fraktion. Die würden nämlich, so die Behörde, zwecks Tarnung »die Vermieter bitten, Kosten für Strom und andere Nebenleistungen im eigenen Namen zu zahlen und dann mit den Mietern zu verrechnen«.

Die gesammelten Daten speichert das BKA in einer zentralen Datei und durchforstet sie nach der Methode der »Rasterfahndung«. Hunderte Bürger, die in das Suchprofil passen, werden von Fahndern besucht und überprüft. Die Antiterroreinheit GSG 9 stürmt die Wohnung eines Rentners, weil dieser seine Miete bar bezahlt und die Telefonrechnung über seine Tochter abrechnen lässt. Als die bundesweite Aktion des BKA öffentlich wird, ist die Empörung groß.

Doch diese Entwicklung ist nicht neu. Schon seit Anfang der 1970er Jahre fahnden Nachrichtendienste und Polizeistellen insgeheim mit Hilfe der Daten von Meldebehörden und Mietwagenfirmen, Fluggesellschaften und Krankenkassen, Arbeitsämtern und Versicherungen. Die technische Weiterentwicklung der Computer potenziert jetzt nur die Möglichkeiten, die Daten zu speichern und zu verarbeiten. Die politischen Weichenstellungen für diese Art der Überwachung beginnen mit der Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im September 1969.

Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der als »Mr. Computer« bekannte Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, feilen am Ausbau des Überwachungsstaates. Die Politisierung Hunderttausender im Zuge der Rebellion von 1968 scheint den Herrschenden Angst zu machen. In der Amtszeit Genschers klettert der Etat des BKA von 22,4 Millionen Mark (1969) auf 75,2 Millionen Mark (1972). Erstmals darf das Bundeskriminalamt nun im Auftrag des Generalbundesanwalts selbständig polizeiliche Ermittlungen führen. Die braune Vergangenheit des BKA interessiert damals niemanden: Noch im Jahr 1959 handelte es sich bei 45 der 47 leitenden Beamten um ehemals hohe Funktionäre des NS-Staats, 33 von ihnen waren vor Kriegsende SS-Führer.

Unter der sozialdemokratischen Regierung entwickelt sich das BKA in der Bundesrepublik zum größten Datenmoloch der Polizei. Bereits im Jahr 1975 kann Genschers Amtsnachfolger, Werner Maihofer, anlässlich der 25-Jahr-Feier des Verfassungsschutzes ein »in der Welt beispielloses nachrichtliches Informationssystem« anpreisen. Von 1969 bis 1980 vervierfacht sich die Zahl der Beschäftigten des BKA auf 3.339 Mitarbeiter.

Kraftwerks Song »Computerwelt« stellt eine Kritik an diesen Verhältnissen dar. Zunächst hört man ihm es nicht an: Das Lied beginnt fast euphorisch, eine funky Bassline mit einem schnellen Beat wird mit einem eher für die Discomusik charakteristischen »Handclap« gemixt. Als wolle die Band sagen: »Computer sind doch gar nicht so schlecht, wir machen ja auch Musik damit!«. Doch dann wird der Sound düsterer. Der Sänger rappt mit tiefer freudloser Stimme die erste Zeile des Songs: »Interpol und Deutsche Bank / FBI und Scotland Yard / Flensburg und das BKA / haben uns‘re Daten da.« Danach erklärt eine verzerrte Roboterstimme: »Nummern, Zahlen, Handel, Leute.« Die Band entgegnet: »Computerwelt / Computerwelt / Denn Zeit ist Geld.«

Zu dem Zeitpunkt, als das Album »Computerwelt« erscheint, sind Kraftwerk bereits Stars. Obwohl es schon das achte Studioalbum der Band ist, gelingt es ihr mit ihrem Sound, die Musikwelt auf den Kopf zu stellen. Die Musiker experimentieren mit Taschenrechnern, elektronischem Kinderspielzeug oder dem Vocoder – einem Gerät, das durch technische Manipulationen der menschlichen Stimme vielfältige Sounds ermöglicht (wie Roboter- oder Micky-Maus-Stimmen). Für die damaligen Verhältnisse ist das revolutionär.

Die Band kommt aus Düsseldorf. Dort entsteht im »Kling-Klang-Studio« das, was Kraftwerk »industrielle Volksmusik« nennt. Der Name der Band »Kraftwerk« passt nur zu gut. Denn die Region, vor allem das benachbarte Ruhrgebiet, ist geprägt von der Chemie- und Metallindustrie, multinationalen Transport- und Energieunternehmen.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass die elektronische Musik ihre Wurzeln in industriell geprägten Städten wie Detroit und Sheffield hat: Hier wurde die menschliche Arbeitskraft früh durch Maschinen ersetzt. Diese Eindrücke erschließen Kraftwerk musikalisch, zu einer, wie sie selbst einmal sagen, »akustischen Darstellung des Ruhrgebietes«. Die Band beschäftigt sich mit der Euphorie und den Ängsten, die der technische Fortschritt heraufbeschwört, und wandelt sie in minimalistische Melodien und knallharte Rhythmen um, die klingen, als stammten sie von einer Maschine. Auch die Bühnenshow von Kraftwerk erinnert an einen industriellen Fertigungsprozess. Ausgefeilte Licht- und Soundeffekte begleiten die Band, die sich auch optisch anpasst: Nach hinten gegelte Haare, starrer ausdrucksloser Blick, mechanische Bewegungen. Oder sie lassen sich gleich von Roboterfiguren doubeln.

Die beiden Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter und Florian Schneider bauen ihr »musikalisches Versuchslabor« Anfang der 1970er Jahre auf, bezeichnen sich als »Musikarbeiter«. Ab 1973 beginnt die Band, den Kraftwerk-Sound ausschließlich elektronisch zu gestalten und dabei melodische Pop-Elemente zu integrieren. Die beiden Gründungsmitglieder der Band heuern Honorarmusiker an. So stößt beispielsweise Wolfgang Flür zu Kraftwerk, der noch im selben Jahr bei einem Auftritt im ZDF ein selbstgebasteltes elektronisches Schlagzeug präsentiert. In den nächsten Jahren leisten die Musiker Pionierarbeit in Sachen elektronischer Musik.

Ihre Technik bauen sie sich meistens selbst. Mit befreundeten Elektrikern und Elektroingenieuren basteln sie an neuen Keyboards und Soundmaschinen. Gleichzeitig widerlegt die teilweise sehnsuchtsvolle Musik, die die Band mit dieser neuen Technik erschafft, das Vorurteil, elektronische Musik sei gefühlskalt. Kraftwerk wandelt den schlechten Ruf der Maschinen.

Mit dieser Art, Musik zu schaffen, hat die Band viele Stilrichtungen beeinflusst. Pop, Hip-Hop, Elektro-Funk, Techno oder House – ein bisschen Kraftwerk steckt überall drin. Ob Depeche Mode oder Daft Punk, David Bowie oder Coldplay, viele Musiker lassen sich direkt oder indirekt von Kraftwerk inspirieren. Der Detroit-Techno-Pionier Juan Atkins erklärt rückblickend: »Computerwelt von 1981 ist die Kraftwerk-Platte, die den Sound der elektronischen Musik von heute am nachhaltigsten beeinflusst hat.«

Auch inhaltlich ist der Song aktueller denn je. Nach wie vor, dient das Mantra »Terrorismusbekämpfung« zur Begründung für die Stärkung der Geheimdienste, für die Verschärfung und Etablierung von Überwachungsprogrammen wie »Prism« und ganz allgemein als Rechtfertigung für den Abbau von Bürgerrechten. Herzlich willkommen in der Computerwelt.

Link zum Song

Der Song: »Computerwelt« von Kraftwerk erscheint im Mai 1981 auf dem gleichnamigen Album. (12" / MC, KlingKlang/EMI/Capitol Records)

Die Künstler: Kraftwerk wurde 1970 von Ralf Hütter und Florian Schneider gegründet und ist vor allem durch die Pionierarbeit auf dem Gebiet des Elektropop bekannt geworden.

Musikstücke von Kraftwerk beeinflussten zahlreiche Musikstile wie Synth-Pop, Electro-Funk oder Detroit Techno. Die New York Times bezeichnete Kraftwerk 1997 als die »Beatles der elektronischen Tanzmusik«.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

YPA

äh wie jetzt...

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