Studentenrevolte 1956 in Temeswar

Ioan Holender Der ehemalige Direktor der Wiener Staatsoper berichtet über seine Teilnahme an der Temeswarer Studentenbewegung

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Vor dem Hintergrund der Ungarischen Revolution entstand im Herbst 1956 in der westrumänischen Stadt Temeswar/Timișoara eine Reformbewegung der Studierenden mit dem Ziel der Erneuerung der rumänischen Gesellschaft. Etwa 3000 Studenten beteiligten sich am 30./31. Oktober 1956 an Protestkundgebungen, in einer Denkschrift forderten sie u. a. den Abzug der sowjetischen Truppen, Arbeiterselbstverwaltung, Meinungs- und Pressefreiheit. Obwohl sie verfassungskonform agierten – die rumänische Verfassung von 1952 garantierte Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit –, stufte das volksdemokratische Regime die Kritik als konterrevolutionär ein und setzte Armee, Geheimdienst und Miliz ein, um die Bewegung niederzuschlagen. Rund 2000 Studenten wurden verhaftet, die Anführer der Revolte zu Gefängnisstrafen bis zu acht Jahren verurteilt. Andere Studenten, wie Ioan Holender (geb. 1935 in Temeswar), wurden exmatrikuliert. Holender verließ Rumänien 1959 Richtung Wien, wo er sich seiner Leidenschaft, der Oper, verschrieb. Von 1992 bis 2010 war er Direktor der Wiener Staatsoper, so lange und so erfolgreich wie kein anderer vor ihm. Ioan Holender ist Ehrenbürger und Kulturbotschafter seiner Heimatstadt Temeswar. (YP.D.)

Ich war im dritten Jahr am Polytechnikum, als ich am 30. Oktober 1956 an einer folgenreichen Versammlung teilnahm. Ich erschien zu jener Sitzung, ohne zu wissen, dass sie nicht von der Partei einberufen, sondern auf Initiative einiger Studenten der höheren Jahrgänge zustande gekommen war. Im Stundenplan war ein Kolloquium bei einem Lektor vorgesehen, der nicht nur wegen seiner Strenge, sondern auch wegen seiner Rolle als fanatischer Aktivist gefürchtet war. Die stattdessen kurzfristig im Amphitheater der Maschinenbaufakultät am Mihai-Viteazul-Boulevard anberaumte Sitzung war also eine angenehme Überraschung. Der Saal platzte aus allen Nähten. Auf dem Podium saßen der Prorektor, der Parteisekretär und zwei mir unbekannte Genossen.

Ich blieb an der Eingangstür stehen und hörte fasziniert die Wortmeldung eines Kommilitonen, der hinsichtlich der Tatsache, dass die Russen unsere Uran- und Getreidereserven plünderten und wir nun sogar außerstande seien, Brot zu backen, weil sogar Mehl Mangelware geworden ist, Erklärungen einforderte. Der Unterschied zwischen offiziellem Diskurs und Wirklichkeit war mir nie so eloquent vor Augen geführt worden wie damals. Von einem Moment auf den anderen war ich gemeinsam mit all den anderen elektrisiert von der Sehnsucht nach Freiheit. Immer mehr Studenten, auch von anderen Fakultäten, kamen in den Saal, drängten die Genossen vom Podium und durch den Hof bis ins Gebäude der Mensa, wo Platz für etwa zweitausend Menschen war. Es war eine außerordentliche Atmosphäre und ich fühlte plötzlich, dass ich an einem Ereignis von allergrößter Bedeutung teilnahm, das ich schon immer erwartet hatte.

Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, stieg ich auf einen Tisch und begann zu sprechen. Ich war von mir selbst überrascht, aber auch von den vielen Stimmen rundum, die laut »Ruhe, der Holi spricht!« riefen. Und so sprach ich über die Ursachen der herrschenden vorrevolutionären Stimmung, über die Tatsache, dass es uns in den Sitzungen nicht erlaubt wurde, über unsere echten Probleme und Anliegen zu diskutieren. Als nach langen Debatten gegen zwanzig Uhr eine Delegation gewählt wurde, die unsere Anliegen der lokalen Zeitung Drapelul Roșu (Rote Fahne) übermitteln sollte, überkam mich plötzlich ein Gefühl der Angst. Ich schlich aus dem Saal und kroch durch ein Loch im Zaun der Uni auf die Straße – eine übliche Abkürzung auf dem Weg nach Hause. Hätte ich den normalen Ausgang genommen, wäre ich sogleich verhaftet worden. Auf den Straßen sah ich Militär und am Fußballplatz neben der Universität standen Kanonen, die ihre Läufe gegen das Gebäude richteten. Allmählich wurde mir klar, was wir ausgelöst hatten und welche Folgen zu erwarten waren.

Am nächsten Tag wurde ich von zuhause abgeholt und verhaftet. Ich war nicht der einzige Student, der diese Erfahrung machte. Man brachte uns mit Lastwagen in eine Kaserne, etwa 18 km von Temeswar entfernt, verhörte uns dort, stellte uns dann in einer Reihe an die Wand und drohte uns mit sofortiger Erschießung, sollten wir nicht gestehen, mit amerikanischen Fallschirmspringereinheiten in Kontakt zu stehen. Dass die Securitate-Offiziere diese Erfindung möglicherweise glaubten, halte ich durchaus für möglich. Umso verwunderlicher war es, dass sie uns am nächsten Tag freiließen. Am 3. November wurden die bis auf weiteres gesperrt gewesenen Hochschulen wieder geöffnet und der Unterricht wurde in der üblichen Art und Weise fortgesetzt. Drei Studenten meines Jahrgangs fehlten; einer von ihnen, Alexandru Dărăban, war derjenige, der über die Uranvorkommen gesprochen hatte. Er wurde später zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Es gelang mir noch, das Semester zu beenden, im Februar 1957 aber bekam ich die Rechnung: Gemeinsam mit anderen Studenten wurde ich wegen »schwerwiegenden Abweichungen von der proletarischen Moral« exmatrikuliert. Damit war mein Schicksal in der Volksrepublik Rumänien entschieden. Als erklärter Klassenfeind und Saboteur des Aufbaus der neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung hatte ich keine Chance mehr. Bis dahin zählte ich zweifellos zu jenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg an den Sozialismus glaubten. Anfang der fünfziger Jahre waren wir alle von der Idee des Aufbaus einer neuen Welt begeistert. Es wurde mir klar, dass es für mich in Rumänien keine Zukunft mehr gab, auch wenn Ende der 1950er Jahre eine – kurzfristige – politische Entspannung einsetzte.


Quelle:
Holender, Ioan: Spuse, trăite, dorite. Amintiri [Gesagtes, Erlebtes, Ersehntes. Erinnerungen], Iași 2011, S. 7, 11, 18-20. Übersetzung aus dem Rumänischen: YP.D. Veröffentlichung in der vorliegenden Version mit freundlicher Genehmigung Ioan Holenders.

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