Aggressorinnen

Kino „Skin“ erzählt von der Metamorphose eines Nazis. Frauen weisen ihm dabei den Weg
Ausgabe 40/2019

Der Blick ins Gesicht ist obligatorisch beim ersten Kennenlernen. Haben Tattoos auf der Stirn oder den Wangen früher oft Ängste ausgelöst, weil sie vor allem von Gang-Mitgliedern getragen wurden, ist spätestens seit Cloud Rap auch diese Hemmschwelle gefallen. Wer allerdings in Bryon „Babs“ Widners (Jamie Bell) Gesicht im Film Skin schaut, der wird unmittelbar mit Hass konfrontiert – der sich gegen Menschen mit anderer Hautfarbe, die LGBTQ-Community und überhaupt gegen Andersdenkende richtet. Widners Zugehörigkeit zum radikalen Neonazi-Verbund „Vinlander’s Social Club“ ist auf den ersten Blick erkennbar; sein ganzer Körper ist übersät von nationalsozialistischen Symbolen und verschlüsselten Botschaften wie etwa der Zahl 33, die für den Ku-Klux-Klan steht.

Das Biopic des israelischen Regisseurs und Enkels von Holocaust-Überlebenden, Guy Nattiv, basiert auf der realen Geschichte des US-Amerikaners Bryon Widner, der sich bereits im Teenageralter rechtsradikalen Kreisen anschloss und sechzehn Jahre lang Neonazi war, bis er nach der Gründung einer eigenen Familie den Ausstieg vollzog. Heute lebt er im Zeugenschutzprogramm und versucht selber, Menschen beim Exit aus der Szene zu helfen.

Diese Liebe kostet

In Skin liegt der erzählerische Fokus auf der Transformation der Hauptfigur, die sich wie beim realen Vorbild fast schon plakativ im Äußeren zeigt: Per Laser werden die Tattoos von Bryons Körper und Gesicht entfernt. Im Film werden diese schmerzhaften Behandlungen immer wieder zwischen die eigentliche Erzählung geschnitten. Diese beginnt 2009 in Ohio mit einem Aufmarsch der White-Supremacy-Bewegung, die auf afroamerikanische Gegendemonstranten trifft. Es kommt zu einer Straßenschlacht, bei der sich Bryon als brutaler Schläger und Hoffnungsträger der „Vinlanders“ hervortut. Nur wenige Szenen später sieht man den Mann in einem OP-Saal. Unterlegt mit klassischer Musik und den schmerzverzerrten Schreien von Widner, tönt laut das surrende, brennende Geräusch der Laseroperation. Der Kontrast zwischen dem unbeugsamen Rechtsradikalen, der seinen Körperschmuck mit Stolz trägt, und dem gequälten Mann auf der Liege könnte kaum stärker sein.

Die Veränderung des Äußeren ist – natürlich – das Ergebnis eines innerlichen Umdenkens. Letzteres beginnt in Skin, als die Hauptfigur auf die dreifache Mutter Julie (Danielle MacDonald) trifft und sich in sie verliebt. Sowohl die Figur Julie als auch die andere wichtige weibliche Bezugsperson von Bryon, nämlich seine Ziehmutter Shareen (Vera Farmiga), sind essenziell für Bryons Metamorphose. Obwohl der Film der Perspektive des männlichen Helden folgt, sind es im Hintergrund die Frauen, denen die wahren Schlüsselrollen für Bryons Entwicklung zukommen. Dabei agieren sie aus konträren Positionen heraus: Julie hat nach der Trennung von ihrem Neonazi-Ehemann der Szene den Rücken gekehrt, während Shareen neben ihrem Mann Fred (Bill Camp) an der Spitze einer rassistischen Gruppierung steht.

Shareen ist Bryons erste Lehrerin. Zusammen mit ihrem Mann nimmt sie den Straßenjungen bei sich auf; sie werden „Ma“ und „Pa“ für Bryon. Jedoch besteht ihre Erziehung darin, ihm Hass auf alles Fremde und andere beizubringen. Shareen, die über ausgeprägte soziale Fähigkeiten verfügt, knüpft ihre Liebe für Bryon außerdem an Gegenleistungen. Deutlich wird das, als Shareen mit Gavin einen neuen „Rekruten“ unter ihre Fittiche nimmt. Der obdachlose Jugendliche wird mit Kosenamen, körperlicher Nähe und neuer Kleidung begrüßt – die Fürsorge geht aber zugleich mit einem rasierten Schädel und Propaganda einher. Die Figur Shareen besitzt durchaus eine genuine mütterliche Wärme, aber diese „funktioniert“ nur im inneren Kreis und nur, wenn Gehorsam nach den Statuten der Splitter-Gruppierung erfolgt. Außenstehenden tritt sie mit Abscheu und tiefem Misstrauen entgegen. Shareen, so stellt der Film klar, beeinflusst nicht nur Bryons Denkweise und Verhalten, sondern eben auch sein Verständnis von Emotionen, die sie streng nach denen unter Gleichgesinnten und denen für „andere“ unterteilt.

Ganz anders Julie, die mit der Zeit genau dieses vorgegebene Muster von Shareen infrage stellt. „Eine echte Familie zwingt dich nicht dazu, etwas schuldig zu sein“, erklärt sie Bryon, als der von seiner Neonazi-Gruppe immer wieder in Beschlag genommen wird. Und sie sagt es nicht nur, sie handelt. Bryon wird Teil ihrer, Julies Familie. Dass die Begegnung mit Julie auf Bryon so große Wirkung hat, liegt also nicht allein am romantischen Gefühl. Julie ist kein leuchtendes Vorbild, auch wenn sie ihre radikale Überzeugung abgelegt hat. Die junge Frau ist auch keine Supermutter: Sie stellt ihre Töchter als Sängerinnen auf einem „Vinlander“-Treff für Bezahlung zur Schau, ihr Wortschatz ist grob und ihren Nachwuchs vernachlässigt sie auch mal für ein heißes Date. Ihre große Stärke aber ist, dass sie ihre Fehler und die dahinter liegenden Muster erkennt. Sie versucht aktiv an ihrem Verhalten etwas zu verändern. Julie ist damit eine Figur, die sich nicht nur gewandelt hat, sondern dabei ist, immer wieder etwas Eingeübtes zu verlernen. Eine Verbündete im doppelten Sinne für den Protagonisten.

Es ist demnach kein Wunder, dass die konfliktgeladenen Begegnungen zwischen Shareen und Julie die eigentlichen Duelle des Films sind, auch wenn die Action sich woanders abspielt. Die Rolle von Frauen in der rechtsradikalen Szene wird nur selten wirklich beleuchtet, in Deutschland gab es Marisa im Film Kriegerin (Deutschland 2011), in American History X von 1998 die Nebenfigur der Stacey; von beiden Filmen lassen sich interessante Linien zu Julie und Shareen in Skin ziehen.

Shareen vs. Julie

All diese Frauenfiguren sind selbst aktive Aggressoren. Sie befinden sich in einem Milieu, das von Männern geprägt ist und spiegeln die Gewalttaten ihres männlichen Umfelds. Sie finden dabei aber durchaus auch ihre eigenen Wege, andere Menschen zu verletzen und Gewalt anzuwenden.

Besonders stark geprägt von körperlicher Gewalt ist die rechtsradikale 20-jährige Marisa aus Kriegerin. Ihre Bereitschaft dazu signalisiert sie bereits durch das Tragen von Muskelshirts und mit einem tätowierten Hakenkreuz auf der Brust. Mit dem Baseballschläger geht sie auf Menschen los, mit ihrem Auto rammt sie afghanische Asylbewerber von einem Roller. Auf die rohe Gewaltepisode folgt aber eine Rückkehr zum Tatort, wo der Anblick von Blut ihr dann eben doch ein Unwohlsein, vielleicht ein Gefühl der Schuld bereitet.

Shareens Gewalt in Skin ist dagegen eher psychologischer Natur – etwa wenn sie Julie dazu bringen will, ihre Beziehung mit Bryon zu hinterfragen und dabei nur subtil mit der Gewalt droht, die die Gruppe, nicht etwa sie selbst, ausführen wird. Selbstzweifel sind Shareen fremd; sie kann abwarten. Julie wiederum hat eine kurze Zündschnur: Als sie einmal wegen ihres Äußeren beleidigt wird, schlägt sie zu, was sie aber eher unzufrieden zurücklässt, obwohl sie als Gewinnerin aus diesem Zweikampf hervorgeht. Stacey in American History X wiederum übt Gewalt in Form von hasserfüllten und degradierenden Reden aus.

Mindestens so typisch wie die Gewaltbereitschaft ist für die Frauen dieser Szene aber ihr hohes Maß an Loyalität. Genau das macht diese Figuren zu wichtigen sozialen Bindegliedern. Ihre Loyalität ist dabei oft genug aufopferungsvoll: Shareen widmet ihr Leben ihrem Fanatiker-Mann; Julie bleibt trotz Lebensgefahr an der Seite von Bryon und Stacy wartet auf Derek (Edward Norton) jahrelang, bis dieser aus dem Gefängnis entlassen wird. Marisa in Kriegerin wiederum hält zu ihrem Nazi-Opa, ob dieser nun Gewalt gegen sie oder gegen ihre Mutter ausübt.

Was Guy Nattivs Film Skin interessant und sehenswert macht, ist, dass er diese Frauenfiguren sowohl in ihrer Ungefälligkeit als auch ihren abweichenden Verhaltensmustern zeigt. Weder Shareen noch Julie repräsentieren das pure Böse oder die heilige Helferin; beides sind „fehlbare“ Charaktere. Obwohl der Film die bekannte, männlich zentrierte Erzählweise fortsetzt, macht er deutlich, wie groß der verborgene Einfluss von Frauen im rechten Milieu sein kann.

Info

Skin Guy Nattiv USA 2018, 118 Minuten

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