Auf den Slapstick folgt das Blutbad

Serie Im Helden der südkoreanischen Teenie-Crime-Serie „Extracurricular“ steckt ein junger Walter White. Spoiler-Anteil: 19%
Ausgabe 20/2020

In einem Kaleidoskop ändern sich Farben und Formen stetig. Man muss das röhrenförmige Gerät nur drehen, und schon gibt es ein neues Mosaik, einen neuen Eindruck. Weshalb es natürlich Absicht ist, dass die Zuschauer, bevor sie zum ersten Mal in das Gesicht von Oh Ji-soo (Kim Dong-hee) schauen, der Hauptfigur der neuen südkoreanischen Teenie-Crime-Serie Extracurricular, zuerst durch ein Kaleidoskop blicken. Die Serie erzählt von einem Musterschüler, der laut seinem Lehrer ein echtes Vorbild ist, während er im Geheimen dunklen Geschäften nachgeht. Die Zuschauer sehen ihn zunächst nur vermummt.

Wie beim Kaleidoskop kommt es auf die Perspektive an; nach außen kann Ji-soo den Schein des idealen Studenten wahren, in Realität verdient er neben der Schule mit einem illegalen Prostitutionsring sein Geld. Er hat eine App programmiert, die Frauen mit potenziellen Kunden verbindet. Das Business läuft gut: Sollte ein Kunde Ärger machen, verlässt sich Ji-soo auf Mr. Lee (Choi Min-soo), einen ehemaligen Elitesoldaten, der die Muskelarbeit erledigt, während Ji-soo als Hirn der Operation unter dem Decknamen „Onkel“ unerkannt im Hintergrund bleibt. Doch dann trifft Ji-soo in der Schul-AG „Club für soziale Fragen“ auf Bae Gyu-ri (Park Ju-hyun), eine Tochter aus gutem Hause, in die er sich verguckt. Was Ji-soo nicht ahnt: Gyu-ri kennt alle Geheimnisse ihrer Mitschüler und weiß sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Es ist der Beginn einer Abwärtsspirale für den cleveren Teenager.

Ein Streber-Underdog mit gut laufenden Untergrundgeschäften, der gemobbt wird von seinen reicheren Mitschülern – der junge Mann mag kein echtes Vorbild sein, als Serienheld aber erfüllt er gewisse Bedürfnisse. Tatsächlich erinnert der verschlossene Ji-soo an eine jüngere Version von Walter White aus der Erfolgsserie Breaking Bad. Ji-soo ist ein guter Junge, der schlechte Entscheidungen trifft, aber für ein ehrenvolles Ziel. Als Sohn eines spielsüchtigen Vaters, der von der Mutter verlassen wurde, träumt Ji-soo vom sozialen Aufstieg. Weggezogen vom unzuverlässigen Vater muss Ji-soo das Geld für Schulgebühren, Verpflegung und Miete nun selbst verdienen. Sein Ziel ist es, sich die Ausbildung an einem guten College leisten zu können. Eigentlich müsste er einem noch viel sympathischer sein als Walter White, denn als verlorener Teenager ist Ji-soo um vieles verwundbarer und fehlbarer als das erwachsene Vorbild. Und mehr noch: Er scheint das selbst zu wissen.

Ungreifbarer Halbwüchsiger

Aber ganz so einfach macht es die Serie einem mit der Identifikation dann doch nicht. Besonders haarig erscheint dabei, dass Ji-soo auch eine minderjährige Klassenkameradin namens Seo Min-hee (Jung Da-bin) als Prostituierte beschäftigt. Diese weiß natürlich nicht, dass er „Onkel“ ist. Sein eigenes Gewissen erleichtert sich Ji-soo damit, dass er sich eher als Sicherheitsexperte und weniger als Zuhälter versteht und sehen will.

Dazu ist Ji-soo kein Krimineller mit „Code“, sondern eben ein Halbwüchsiger, der sich vielleicht etwas zu viel zugemutet hat. Das macht ihn manchmal auch etwas undurchsichtig und ungreifbar für das Publikum. Ähnlich verhält es sich mit den anderen jugendlichen Figuren: Auf den ersten Blick wirken sie schwer zugänglich, ja geradezu gefühlskalt. Aber womit die zehn Episoden der nun auf Netflix zu streamenden ersten Staffel bei der Stange halten, ist das interessante Beziehungsgeflecht, das man erst nach und nach zu durchschauen beginnt. Die Serie wechselt dazu noch ihre Tonlage unglaublich schnell zwischen düsterem Humor und völliger dramatischer Verzweiflung. Auf Slapstickeinlagen kann ein brutales Blutbad mit umherfliegenden Äxten folgen. Ein bisschen erinnert das sogar an das koreanische Filmwunder Parasite (2019), das im Februar überraschend mit dem Oscar ausgezeichnet wurde und ebenfalls das Thema Klassengesellschaft mit einer Mischung aus Humor und Horror anging.

Was Extracurricular explizit nicht sein will, ist ein weiteres schnulziges K-Drama. Die Serie ist zwar nicht ganz so fortschrittlich wie Itaewon Class (2020), in dem zum ersten Mal die marginalisierte Gruppe der schwarzen Koreaner zu Hauptakteuren wurde. Mit Themen wie psychische Gesundheit, gesellschaftlicher Druck, Mobbing und soziale Gegensätze ist Extracurricular aber nah an den zentralen Diskursen des Schulkosmos.

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