Salam aleikum erst mal – ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Dieser Satz ist aus dem Off zu hören, bevor die Kamera den Blick freigibt auf einen jungen Mann mit dichtem schwarzen Bart. Das milchige Bild stammt von einer Videoaufnahme, in der Oray (Zejhun Demirov) kurz von seiner kriminellen Vergangenheit erzählt, aber vor allem von seiner Läuterung. Er habe Freiheit von seinen eigenen Trieben erlangt, und zwar durch den Islam. Aber die Videobotschaft ist kein Fanatiker-Zeugnis. Mehmet Akif Büyükatalays Erstlingswerk Oray nämlich wendet sich demonstrativ davon ab, wie Filme und Serien üblicherweise den Islam thematisieren. Statt den Weg des „Problemfilms“ zu nehmen, führt der Regisseur und Autor in den Alltag von zwei L
g von zwei Liebenden ein. Und der spielt sich in vertraut aussehenden Wohnzimmern mit Eschenfurnier-Romantik ab.Oray lebt mit seiner Frau Burcu (Deniz Orta) in einer kleinen Mietwohnung in Hagen. Abends wird gemeinsam im Bett gelegen, viel zu viel am Smartphone gehangen und über Kleinigkeiten gestritten. Sein Dickkopf, das stetige Grenzen-Austesten und die unbeholfenen Ausraster erinnern an einen Protagonisten aus einem Coming-of-Age-Film. Ein Genre, in dem der Zuschauer meist in einen Mikrokosmos hineingezogen wird, in die Skater-Szene zum Beispiel. Auch in Orays Mikrokosmos treffen sich Gleichgesinnte, nur sind es hier Muslime und Menschen mit Migrationsgeschichte.Eine Irritation entsteht, als Oray im Streit seiner Frau das Wort „Talaq“ auf die Mailbox brüllt und es anscheinend wichtig ist, wie oft er das tut. Der gläubige Oray ahnt Konsequenzen, die ihm ein Imam bestätigt – drei Monate darf er nun seine Frau nicht mehr sehen, da er mit „Talaq“ eine eheliche Zwangspause ausgesprochen hat. Diese Trennung geht so weit, dass jede Berührung zwischen den Liebenden „haram“, also tabu ist.Ist Boxen haram?Der Islam erweist sich als das große Unbekannte in diesem Film; selbst die Figuren sind überfordert. Boxen ist haram, da ist sich Oray sicher, doch der Gelehrte Bilal (Cem Göktaş) widerspricht und animiert seine männliche Gemeinde zum Sport mit Fäusten. Je nach Imam und Gemeinde ändern sich die Auslegungen von Rechten und Pflichten. Orays eigenes Wissen über seinen Glauben wird immer wieder herausgefordert. Allerdings beugt sich der junge Mann dem Trennungsgebot und zieht allein nach Köln.Oray ist zerrissen zwischen seinen Gefühlen für seine Frau und seinem muslimischen Glauben. Das ist der Konflikt, den der Film erzählt. Auch in seinen Stilmitteln wechselt Büyükatalay zwischen Distanz und Nähe zu seinem Helden und lässt so nachfühlen, was es bedeutet, sich mit etwas Fremdem auseinanderzusetzen: ein Manövrieren zwischen Verständnis und Unverständnis.Besondere Aufgaben übernehmen dabei Lichtsetzung und Tonspur: Nach der forcierten Trennung zeigt der Film Oray in tristen, bläulich grauen Bildern. Die Kühle der Farben übersetzt das Innenleben der Figur und spiegelt ihre Auseinandersetzung mit der Strenge der Religion. Auf Musik als Untermalung verzichtet der Film fast zur Gänze, was der Geschichte eine quasidokumentarische Note verleiht. Man hört Straßengeräusche und Menschen, die sich unterhalten. Taucht Musik auf, dann oft als Gesang in einer fremden Sprache – das hebt zwar die Andersartigkeit hervor, aber wenn Oray beginnt, Textpassagen davon zu übersetzen und in betrunkener Ekstase mitzusingen, gibt es wieder eine direkte Verbindung zu seiner Verzweiflung.Wer Oray ist, was ihn bewegt, das schildert der Film vor allem auch durch dessen Interaktionen in seiner brüderlich-religiösen Gemeinschaft. Als Oray am neuen Wohnort in Köln zum ersten Mal den Männern aus der Moschee begegnet, tut sich eine Chance auf Verständigung auf. Noch vor dem gemeinsamen Beten wird FIFA auf der Konsole gezockt. Neben Spaß und Gleichgesinnten findet Oray hier Hilfe für seine alltäglichen Probleme. Durch Kontakte kommt er trotz knapper Finanzen an eine Bleibe auf dem hart umkämpften Kölner Wohnungsmarkt. Und noch in anderer Hinsicht bestärkt die Männergemeinde Oray in einem neuen Selbstbewusstsein: Er blüht als Vertrauensperson für einen jugendlichen Kleinkriminellen auf. Schwierig aber bleibt sein Stand als liebender Ehemann, droht doch seine Gemeinschaft mit Burcu zu zerbrechen. Ein Problem, für das er nur außerhalb des engen Männerverbunds einen willigen Ansprechpartner findet: seinen liberaler eingestellten Freund Tanju (Faris Yüzbaşıoğlu).Büyükatalay erzählt mit Oray nicht nur eine universell nachvollziehbare Geschichte über den Konflikt von Religion und Alltag, er bringt Charaktere auf die Leinwand, wie sie nur selten in deutschen Filmen auftauchen, schon gar nicht in komplexer Form. Da gibt es sowohl strenggläubige als auch liberale Muslime, die ihren Alltag in Deutschland leben; es gibt junge Frauen, die eine Ausbildung machen, und junge Männer, die versuchen, andere von kriminellen Akten abzuhalten. Der Film wartet mit keinem großen Knall auf, sondern konfrontiert den Zuschauer mit einem für westlich zentrierte Menschen fremden Glauben, ohne ihn als antiwestlich oder exotisch auszustellen. Wer als Zuschauer seine Sinne offen hält, erlebt zudem eine berührende Geschichte über den Schmerz, der auf den Verlust von Nähe folgt.Placeholder infobox-1