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Coming of Age Wenn alles gut geht, kann Musik einen ganzen Film tragen – etwa in Jonah Hills Regiedebüt „Mid90s“
Ausgabe 09/2019
Hier riecht’s nach Teen Spirit
Hier riecht’s nach Teen Spirit

Foto: Prod.db/Imago

Es passiert nicht so oft, dass man sich gleich nach dem Kinobesuch den Filmsoundtrack besorgen will. Eine wohlkuratierte Playlist, die die Filmerfahrung durch Musik verlängert, ist ein Hochgenuss. Dazu müssen Musik und Film gleichermaßen den Zuschauer und den Zuhörer auf der narrativen und emotionalen Ebene abholen. Filmwissenschaftler James Monaco hat einmal die ähnlichen Mechanismen der beiden Medien hervorgehoben: Rhythmus, Harmonie und Melodie – damit operiert auch das Kino, das Bilder in einem Rhythmus von 24 Bildern pro Sekunde abspielt. Je nach narrativer „Melodie“ entwickelt sich eine Geschichte.

Der Film Mid90s ist das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill (Superbad, Moneyball), der auch selbst das Drehbuch schrieb. Für den Original-Soundtrack hat er Trent Reznor & Atticus Ross engagiert, die bereits den Score zu David Finchers The Social Network, The Girl with the Dragon Tattoo oder zuletzt den Netflix-Film Birdbox beisteuerten. Herausgekommen ist ein Film, dessen Soundtrack alleine schon die Besprechung lohnt.

Die eigens für einen Film komponierte Musik, der Score, ist meist instrumentell und hat die Aufgabe, zum „Worldbuilding“ des Films beizutragen und dort Bedeutung hinzuzufügen, wo kein Dialog ist. Stücke von bereits populärer Musik, meist in Form von Popsongs, und Score sollen Hand in Hand gehen und im besten Fall wie aus einem Guss wirken. Ein herausragendes Beispiel dafür ist etwa Cliff Martinez’ Score zu Nicolas Winding Refns Drive (2011), der einen Synthie-Raum schafft, in dem der Electro-House von Kavinsky wie eigens dafür komponiert wirkt. Zusätzlich haben Popsongs die Eigenschaft, dass sie getrennt vom Film existieren und so beim Publikum auch Erinnerungen abrufen.

So werden die neunziger Jahre in Jonah Hills Mid90s natürlich vor allem durch Hip-Hop heraufbeschworen – 2Pac, Mobb Deep, A Tribe Called Quest, The Notorious B.I.G oder Wu-Tang Clan waren die Helden dieser Ära. Aber auch die Alternativ-Strömung mit Nirvana, Pixies oder Radiohead wurde nicht vergessen, schließlich trennten die Kids der Neunziger tatsächlich oft weniger strikt nach Genres.

Mit welcher Liebe zum Detail Mid90s gemacht ist, wird schon nach wenigen Sekunden deutlich, wenn zwar keine Musik, aber das Geräusch einer Nintendo-Konsole zu hören ist. Der 13-jährige Stevie (Sunny Suljic) schläft da in Teenage-Mutant-Ninja-Turtles-Bettwäsche und hört auf seinem Disc-Man am liebsten die Musik seines großen Bruders Ian (Lucas Hedges). Dessen Zimmer ist Stevies liebster Aufenthaltsort. An der Wand hängt ein Poster der Wu-Tang-Single C.R.E.A.M, auf dem Boden liegen Air Jordans herum sowie eine Ausgabe des Hip-Hop-Magazins The Source. Die Musik in Mid90s ist Teil der Repräsentation der Zeitgeschichte, aber sie übernimmt auch die Rolle des Erzählers und bestimmt ähnlich wie der Rhythmus in einem Rap-Song grundlegend die Story.

Kuss von einer Rose

Gleich zu Beginn sieht man nämlich auch, wie Stevie von seinem Bruder brutal mit Tritten traktiert wird. Das Verhältnis zwischen ihnen ist destruktiv und angespannt. Aber zugleich belegt das große Interesse des kleinen Stevie für die Musik, die der große Bruder hört, ob nun Fat Joe oder Mobb Deep, eine immer noch starke und unerschütterliche Verbindung. Stevie durchstöbert Ians Mixtapes, und wenn er dabei ins „Headbanging“ ausbricht, wird seine Hingabe körperlich spürbar. Die brutale Auseinandersetzung wurde ohne Musik gezeigt, aber die Liebe zum älteren Bruder ist musikalisch untermalt. Wichtig scheint dabei, dass der erste Musikeinsatz im Film der Score von Reznor & Ross ist. Für die Erinnerung an die Neunziger genauso wie für die Verehrung des großen Bruders ist der Hip-Hop zuständig, aber das Gefühl der Einsamkeit von Stevie wird über den Score erschaffen. Dieses Prinzip zieht sich durch den ganzen Film, wobei der Score immer wieder Schlüsselemotionen wie Traurigkeit, Nachdenklichkeit, zwischenmenschliche Nähe und Hoffnung stützt und herausstellt, während die gezielt eingesetzte 90er-Jahre-Musik den zeitgenössischen Rahmen schafft.

In welch schwierigen Familienverhältnissen Stevie aufwächst, wird durch den Auftritt von Dabney (Katherine Waterston), der Mutter der beiden Jungen, klar. Während eines Geburtstagsessens für Ian in einem chinesischen Restaurant fragt sie ihre Söhne nach Beziehungstipps für ihr eigenes Liebesleben. Den Söhnen ist das peinlich. Die Untermalung dafür ist Seals Schnulzen-Klassiker Kiss from a Rose, was das Unwohlsein der Teenager direkt auf den Zuschauer überträgt: Gibt es etwas Unpassenderes als ein romantischer Song bei einem Geburtstagsessen mit der eigenen Mutter?

Kein Wunder also, dass Stevie auf der Suche nach einer Familie außerhalb der eigenen vier Wände ist. Fündig wird er bei den Skater-Freunden: Ray (Na-Kel Smith), Fuckshit (Olan Prenatt), Fourth Grade (Ryder McLaughlin) und Ruben (Gio Galicia). Als der schüchterne Junge zum ersten Mal den Skate-Shop betritt, ertönt 93 ’Til Infinity von Souls Of Mischief, in dem die Gemeinschaft mit Freunden beschrieben wird, die sich zum Abhängen treffen; also genau das, wonach sich Stevie sehnt. Solche Eins-zu-eins-Übersetzungen zwischen Musik und Bild gibt es häufiger im Film. Etwa auch wenn Herbie Hancocks Watermelon Man ertönt, während Fuckshit sich im Takt des Songs an den Mädchen auf einer Party vorbeimanövriert, Getränke holt und dazu cool seine langen, gelockten Haare schwingt. Jonah Hill hat in Interviews bestätigt, dass Szenen unmittelbar zur Musik geschnitten wurden.

Ein Hip-Hop-Track in Mid90s übernimmt sogar eine Vorhersage-Funktion, die wortwörtlich auf die Story des Films passt. So heißt es in Liquid Swords von GZA: „That was the night everything changed“, und tatsächlich wird eine Nacht für die fünf Freunde zu einer Zerreißprobe, bei der sich ihr ständiger Alkohol- und Drogenkonsum rächt.

Diese extrem dichte Verbindung zwischen Popmusik und Narration schöpft das erzählerische Potenzial der Musik aus, und vermittelt so nicht nur Stevies Geschichte, sondern auch das universelle Gefühl von Coming of Age und Jugendkultur. Die Außenseiter-Rolle, in der man sich als Jugendlicher gefangen sieht, die Probleme in der Familie, der Wunsch nach Ausbruch aus den festgefahrenen Strukturen, nach Geld und Anerkennung: Das alles sind sowohl Themen im Rap als auch die Themen der Jugendlichen.

Der Soundtrack von Mid90s hat so das Potenzial, über Jahre hinweg relevant zu bleiben. Ganz ähnlich wie jene Soundtracks aus den 90er Jahren, die ebenso eng mit Musik und Narration arbeiten: Dangerous Minds, Cruel Intentions oder Natural Born Killers. Ähnlich wie jetzt in Mid90s war Hip-Hop in Dangerous Minds die Musik der Jugendlichen im kalifornischen Klassenzimmer von Louanne Johnson (Michelle Pfeiffer). Der Filmsoundtrack von 1995 landete damals auf dem ersten Platz der amerikanischen Billboard 200, gerade weil die Auswahl von R&B und Hip-Hop die Aggression und gespielte Gleichgültigkeit dieser Generation auf den Punkt brachte. Ob man den Film tatsächlich gesehen hatte, war gar nicht so wichtig, so präzise gaben allein schon Coolios Gangsta’s Paradise oder Don’t Go There von 24k Inhalt und Stimmung des Films wieder.

Dabei ist Jonah Hills Mid90s weniger laut und provokativ als Larry Clarks und Harmony Korines Kids (1995), auch wenn es ihm in ähnlicher Weise um jugendliche Unschuld und das Abnabeln von der Familie geht. Hill gibt in seinem Film der Skater-Kultur viel Raum und geht der Frage nach, warum es eine solche Faszination ausübt, auf einem Stück Holz Tricks zu vollführen. Mid90s zeigt die Skater als die Mittler auf der Straße, die keinerlei Berührungsängste mit anderen sozialen Schichten haben. So kommen ein Stück soziale Analyse, die Beschreibung einer Subkultur, eine Coming-of-Age-Geschichte mit einer Liebeserklärung an die 90er Jahre in Mid90s auf bravouröse Weise zusammen.

Info

Mid90s Jonah Hill USA 2018, 85 Minuten

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