Wohl eher Reichenvertreter

Ökonomie Lea Elsässers Buch bestätigt eine oft geraunte Vermutung: Die Politik hat die Interessen des Kapitals im Sinn
Ausgabe 05/2019
Zwischen diesen beiden Herren liegen nicht nur ökonomisch Welten
Zwischen diesen beiden Herren liegen nicht nur ökonomisch Welten

Foto: Photothek/Imago

Wir leben also in einer repräsentativen Demokratie, schön und gut, nur: Repräsentieren uns unsere Volksvertreter eigentlich alle in gleichem Maße? Oder ist was dran am immer häufiger zu hörenden politikverdrossenen „Die da oben machen doch eh, was sie wollen“? Der Frage, an wessen Interessen sich Politikentscheidungen ausrichten, geht die Politökonomin Lea Elsässer in ihrem Buch Wessen Stimme zählt? nach. Sie macht das mittels einer empirischen Untersuchung der Einstellungen von sechs Berufsgruppen – ungelernte Arbeiter*innen, Facharbeiter*innen, einfache Angestellte, höhere Angestellte, Beamt*innen, Selbstständige – zu über 700 Sachfragen, und dem Vergleich der tatsächlichen politischen Entscheidungen des Bundestags dazu.

Elsässers bitteres Fazit: Die Interessen der unteren Klassen wurden zwischen 1980 und 2013 von keiner Partei in Regierungsverantwortung vertreten. Stattdessen zeigt sich, dass in allen untersuchten Politikbereichen, sowohl in sozialen, wirtschafts- wie auch gesellschaftspolitischen Fragen der letzten 30 Jahre, vorrangig die Interessen der oberen Berufsgruppen umgesetzt wurden: „Politische Reformvorschläge wurden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit umgesetzt, wenn sie eine große Unterstützung unter den Selbstständigen, Beamten oder anderen Gutverdienenden fanden“, schreibt Elsässer, und: „Bei Arbeitern oder Angestellten hat die Unterstützung oder Ablehnung keine Auswirkung auf die Entscheidungspraxis im Bundestag.“

Auf den Punkt gebracht, heißt das: Das, was den Interessen der unteren Klassen entspricht, setzt sich politisch nur durch, wenn es auch den oberen sozialen Klassen genehm ist. Umgekehrt gibt es eine Reihe von Entscheidungen, die für die Interessen der oberen Klassen und gegen jene der unteren Klassen durchgesetzt wurde.

Bezeichnend an Elsässers Ergebnissen ist, dass auch unter der rot-grünen Koalition zwischen 1999 und 2005 und der Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 (mit den SPD-Ministern für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering und Olaf Scholz) die politischen Entscheidungen zugunsten der oberen Einkommensschichten verzerrt blieben. Weder vertrat die SPD ihre alte Kernwählerschaft der Arbeiter*innen, noch unternahm sie Versuche, den Interessen der wachsenden Gruppe einfacher Angestellter politisch eine Stimme zu geben.

Auf die Frage, warum das so ist, antwortet Elsässer vorsichtig: Es sei plausibel, dass der Einfluss wirtschaftsnaher Interessenvertretungen auf die Politik und die gleichzeitige Schwäche von Gewerkschaften ein erklärender Faktor sei. Ebenso die Hypothese, dass der Bundestag die Interessen oberer Berufsgruppen vertrete und unterer ignoriere, weil nur wenige Mitglieder des Bundestags Arbeiter*innen und Angestellte seien. Jedenfalls widerlegt Elsässer die Erklärung, sozialpolitische Maßnahmen im Sinne der unteren Berufsgruppen würden nicht umgesetzt, weil der fiskalpolitische Handlungsspielraum dafür – Stichwort Standortwettbewerb – nicht gegeben sei. Selbst in Zeiten voller Kassen, etwa den 1980ern, fanden ja die Interessen der unteren Klassen kein Gehör. Umgekehrt gab es auch in jüngerer Zeit umfangreiche staatliche Interventionen aufgrund des Drucks der oberen sozialen Klassen.

Elsässers Studie ist eine eindrückliche Aufforderung, an die Ursachen von „Politikverdrossenheit“ zu rühren und keine Zeit mit Symptombekämpfung und Marketing zu verschwenden. Es droht sonst der Demokratie ihr „demos“ abhandenzukommen.

Info

Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland Lea Elsässer Campus 2018, 218 S., 39,95 €

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