Das Fundament der Demokratie

Bildung Selbstbewusstseins und Urteilskraft müssen das Ziel fundierter Bildung sein, damit aufgeklärte Bürger eigenständig Entscheidungen treffen.

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Sehr viele Menschen werden Opfer von Manipulation durch Ideologen unterschiedlicher Couleur, die für ihre zum Teil haarsträubenden Unwahrheiten Zustimmung finden. Das lässt sich beobachten für die Propagandamethoden vergangener oder gegenwärtiger Regime ebenso wie für die fatale Wirkung, die sich über die sogenannten sozialen Medien verbreitet. Dieser Zusammenhang lässt sich aber sicherlich nicht durch gesetzliche Bestimmungen abstellen. Wesentlich liegt der Erfolg der Manipulation darin begründet, dass einer Mehrheit der Bürger das Wissen um politische Zusammenhänge fehlt, weshalb sie keinen eigenen Standpunkt einnehmen. Dazu bedarf es eines Selbstbewusstseins und einer Urteilskraft, die nicht alle entwickeln konnten. Doch dieser Mangel lässt sich beheben, wenn in jungen Jahren eine fundierte Bildung vermittelt wird, die als Basis dient für Aufklärung im Umgang mit den Ereignissen der Zeit. Leider versteht man heute unter Bildung vorrangig ein möglichst umfangreiches Fachwissen, was die Bedeutung umfassender Bildung in den Hintergrund gedrängt hat. Es ist aber gerade in einer Epoche gravierender Umwälzungen wie in der unseren höchst dringlich, dem grundsätzlichen Anspruch aller Zeitgenossen auf Vermittlung von umfassender Bildung gerecht zu werden. Demokratie darf sich nicht in einer Organisationsform erschöpfen, in technischen Einrichtungen wie Parteien, Parlamenten und Regierungen. Ihr großer Vorteil gegenüber anderen politischen Systemen ist gerade, dass aufgeklärte Bürger eigenständig Entscheidungen fällen und die Gesellschaft so am ehesten gute Lösungen für die sich ständig ändernden Umgebungsbedingungen findet. Ausgehend von allgemeinen Gedanken dazu, die sich jene „Dichter und Denker“ gemacht haben, die inzwischen eingehegt und verstaubt einen zweifelhaften Posten im Kosmos des sogenannten Bildungsbürgertums einnehmen mussten, werden im Folgenden Vorschläge gemacht, wie ein gegenwärtiges Bildungswesen gestaltet sein müsste.

"»Kein Mensch muss müssen«, sagt der Jude Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weiteren Sinne wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die Regel desselben. Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ [Vorrecht] ist bloß, dass er mit Bewusstsein und Willen vernünftig handelt. Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen, welches im Rang der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen. […] Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will."
Friedrich Schiller (1759–1805), Beginn der Schrift "Über das Erhabene", 1801

"Es wäre ein großes und treffliches Werk zu liefern, wenn jemand die eigentümlichen Fähigkeiten zu schildern übernähme, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntnis zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen, den echten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit als ein Ganzes zu vollenden. Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigene Natur zu kennen, und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeinen Übersicht."
Wilhelm von Humboldt (1767–1835), aus "Theorie der Bildung der Menschheit", 1795

Friedrich Schiller weist in seiner Schrift "Über das Erhabene", obwohl er das nicht ausdrücklich erwähnt, auf die Grundidee der Demokratie hin, indem er erklärt, "der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf". Und er schließt daraus: "Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben". Dieses Merkmal menschlicher Natur, das den Drang einschließt, keine Macht über sich hinzunehmen, sollte uns als entscheidender Hinweis dafür dienen, dass Demokratie die lebensnotwendige Grundlage bildet, um in der menschlichen Gesellschaft die Würde und das Recht aller zu verwirklichen. Als Mittel zur Verwirklichung dieses Anspruchs schuf der Mensch ein System, das er mit dem Begriff Kultur umschreibt. Dazu merkt Friedrich Schiller an: "Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will." Indem er die Feststellung "der Mensch ist das Wesen, welches will" sogleich wiederholt, zeigt er an, dass er hierin das Merkmal erkennt, das im Zentrum aller Überlegungen zu stehen hat, die sich mit den Möglichkeiten des Zusammenlebens auf unserem Globus befassen. Und denjenigen Teil der Kultur, der ein Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit steuert, sollte man als Demokratie bezeichnen. Jede Kultur ist aber ein Gebilde, das nur unter Einsatz der Kraft menschlichen Verstandes geschaffen wird und zu erhalten ist, was allerdings ausschließlich dann gelingt, wenn die Menschen gelernt haben, "mit Bewusstsein und Willen vernünftig" zu handeln. Damit dies möglich wird, muss der Verstand jedoch erst einmal herangebildet werden; denn er wird in jedem menschlichen Gehirn mit der Geburt lediglich als Möglichkeit bereitgestellt. Ausgereifter Verstand und Vernunft sind Produkte der Erziehung; und Erziehung führt zu Bildung, zu Erkenntnis und Gestaltungskraft, wie Wilhelm von Humboldt, ein etwas jüngerer Zeitgenosse Schillers, sie definiert hat. Während Schiller die im Wesen jedes einzelnen Menschen ruhende Kraft des persönlichen Willens ins Zentrum seiner Betrachtung stellt, spannt Humboldt den Bogen vom Individuum zur Gesellschaft, indem er feststellt, dass alle Menschen ein gemeinsames Erbe besitzen, das es allerdings zu wecken gilt. Wilhelm von Humboldt hat zeit seines Wirkens den Gedanken verfolgt, die Bildung, und zwar die, die gewöhnlich als "Allgemeinbildung" bezeichnet wird, als unabdingbare Voraussetzung für das Dasein aufgeklärter Bürger zu verstehen. Er selbst hat diese Bildung bereits in früher Jugend erlangt, als er mit den wichtigsten Schriften der Aufklärer vertraut gemacht wurde. Und er hat während der Französischen Revolution einige Wochen in Paris verbracht, wo ihn zwar weniger das revolutionäre Geschehen beeindruckte, als vielmehr die dort ins Licht der Öffentlichkeit gelangten Vorstellungen von der Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte, die ihm fortan als Richtschnur galten.

Ausgereifter Verstand und Vernunft sind Produkte der Erziehung

Schiller gab allerdings den entscheidenden Hinweis für die Notwendigkeit zur Übertragung der geistigen Möglichkeiten des Einzelnen, jedes Einzelnen, auf die Ebene des Gesellschaftlichen: Das Anerkennen eines Wesens mit freiem Willen zwingt nämlich zu dem Schluss, dass alle Menschen frei und gleichberechtigt sein müssen und nur in einer Gemeinschaft leben können, wo eine Balance der unterschiedlichen Willensbekundungen herstellbar ist; und das ist Demokratie. Die jedoch braucht "mündige Bürger", die das Zusammenleben in der Gesellschaft mitgestalten. Wilhelm von Humboldt wiederum zog daraus die praktischen Konsequenzen, indem er konkrete Vorstellungen zur Ausbildung im Schul- und Hochschulwesen präsentierte. Seine Anregungen zur Organisation der Schulen, wie sie weitgehend noch heute praktiziert werden (nun aber einer "Überholung" bedürfen!), und zur Einheit von Forschung und Lehre an den Universitäten (ursprünglich: "universitas magistrorum et scolarium" = Gesamtheit, auch Gemeinschaft von Lehrern und Schülern) wurden fundamentale Bausteine des Bildungswesens. Eine Erziehungsform ohne eine für alle Heranwachsenden gleichermaßen angebotene Vermittlung des geistigen Rüstzeugs in sogenannten allgemeinbildenden Institutionen ist bei uns heute gar nicht mehr denkbar. Die Nachfolger Humboldts gingen sogar noch einen Schritt weiter und führten (in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) eine allgemeine Schulpflicht für alle Jugendlichen ein, und zwar für zehn Pflichtschuljahre. – Allen Bürgern Bildung zu vermitteln, wird man verführt festzustellen, sei seit zweihundert Jahren Bestandteil der Bemühungen jeder Staatsführung und werde im Geiste Schillers und Humboldts an mehrgliedrigen Schulen und an Universitäten hinreichend verabreicht.

Heute wird das Bildungsziel als erfüllt erkannt, wenn junge Menschen möglichst perfekt auf das Berufsleben vorbereitet wurden

Doch die tatsächliche schulische und universitäre Erziehung hat die Ideen ihrer Schöpfer offenbar aus dem Blick verloren. Die Organisationsform, wofür Humboldt den Anstoß gab, besteht im Wesentlichen weiter; aber sie ist nicht mehr als aufgeblasene leere Hülle, bestimmt von ökonomischen Einzelinteressen. Das liegt vor allem daran, dass die Ideen, die Schiller und Humboldt formulierten, ihrer Funktion beraubt wurden; denn das Verständnis, was eine Idee ausmacht, ist in unserer Moderne des aufs Technische und Ökonomische konzentrierten linearen Denkens abhandengekommen. Heute wird das Bildungsziel als erfüllt erkannt, wenn junge Menschen möglichst perfekt auf das Berufsleben vorbereitet wurden, was insbesondere verlangt, dass sehr viele Menschen in der Arbeitswelt reibungslos funktionieren. Ganz anders dachten die Aufklärer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Für sie ist eine Idee die umfassende Bezeichnung für eine Art Urbild, das jenseits des Bereichs tatsächlich möglicher Erfahrung als Regulator oder Richtungsweiser Vorbildfunktion übernimmt, ohne selbst als Gegenstand im "wirklichen Leben" zu erscheinen. An der Idee ausgerichtet können wir eine Standortbestimmung im Alltäglichen vornehmen, sie selbst tritt auf der Bühne des Geschehens nicht auf. Das Urbild zu finden und seine Wirkweise zu verstehen, ist Aufgabe der Erziehung.

Hauptziel von Bildung, und zwar im Sinne der Sicherung einer würdigen und gleichberechtigten Existenz in einer Gesellschaft mündiger Bürger muss das Erlangen von Urteilskraft sein, die Befähigung zur sachgerechten Beurteilung einer Situation oder eines Geschehens nach vernünftigen Gesichtspunkten. Diese Befähigung lässt sich nur durch gedankliche Arbeit erlangen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die dann als Maßstäbe wirken sollen. Wilhelm von Humboldt sagt dazu in der eingangs erwähnten Schrift: "Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dieselbe hinaus durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen; diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung". Das sind Aufforderungen zu einem dauerhaften Streben gemäß den Richtlinien einer Idee und keine praktischen Handlungsanweisungen. Und seine gedanklichen Bemühungen auf die Suche nach den Richtlinien zu konzentrieren, ist Voraussetzung dafür, um Urteilskraft zu erlangen. Eine Vermittlung des Wissens aus unterschiedlichen Fachbereichen dient dann als Werkzeug und Anschauungsmaterial, ist also "Beiwerk" im Prozess der Bildung von Urteilskraft.

Diese Befähigung lässt sich nur durch gedankliche Arbeit erlangen

Erkenntnisse zu gewinnen, gelingt allerdings nur, wenn Menschen ausreichend geistiges Vermögen erlangen, welches ihnen gestattet, ihr Denken auf das Fundament der Anerkenntnis von Gewaltfreiheit und gegenseitiger Achtung zu stellen. Dies erscheint "abgehoben", und ist es in gewissem Sinne auch, nämlich abgehoben vom alltäglichen Ansturm der Ereignisse, weil nur hierdurch der Weg frei wird, auf dem man zu geistiger Gelassenheit findet – Friedrich Schiller spricht in diesem Sinne vom "Erhabenen", von den Ideen, die sich über das Erfahrbare "erheben". Nur wer geistig Distanz schaffen kann zum Lauf der Geschehnisse um ihn herum und wer gelernt hat, Zusammenhänge und Ursprünge hinter den Ereignissen zu erkennen, wird zu urteilen in der Lage sein. Hierfür das Rüstzeug zu gewinnen, ist die wichtigste Aufgabe schulischer Erziehung. Die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaftler haben zur Begründung dieser Notwendigkeit eine wesentliche Erkenntnis beigetragen, die es zu beachten gilt. Sie fanden nämlich heraus, dass das menschliche Hirn nur durch Anregung von außen geformt, "gebildet" werden kann. Der Prozess der Bildung durch Anregung beginnt an der Brust der Mutter und endet gewöhnlich etwa im Alter von zwanzig Jahren. Während dieser Phase nehmen das familiäre Umfeld und die Schule maßgeblichen Einfluss auf die geistige Entwicklung der Heranwachsenden. Wir müssen allerdings hinnehmen, dass von der Gesellschaft aus auf die "häusliche Erziehung" nur wenig Einfluss auszuüben ist; denn bei den Erziehenden (die fälschlicherweise Erziehungsberechtigte genannt werden, obwohl sie doch eher Erziehungsverpflichtete sind) handelt es sich ja um bereits Erzogene, die sich – meist zumindest – als mündig empfinden, also selbst nicht mehr viel Lernbereitschaft zeigen. Anders die Schule; deren Funktion und Organisation wird von der Gesellschaft als öffentliche Aufgabe wahrgenommen und kann stets an veränderte Umgebungsbedingungen angepasst werden. Hier ist die Arbeit zu leisten, die, ausgerichtet nach der Idee zur Bildung von Urteilskraft, junge Menschen zu "mündigen Bürgern" erzieht, sie so weit heranbildet, dass sie schließlich aktiv am politischen Prozess teilnehmen können. Mündigkeit ist die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und Unabhängigkeit zu beweisen. Zur Bedeutung des Begriffs Mündigkeit hat Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1783) Folgendes bemerkt: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." – Der von Kant in die Verantwortung genommene Verstand muss aber erst herangebildet werden. Das zu leisten ist Aufgabe der schulischen Erziehung.

Vornan steht die Aufforderung, die Didaktik, die Kunst zu lehren sowie die zu lernen, ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen, die dem Ziel einer Bildung zu Urteilskraft dienen sollen. Zu Lebzeiten Schillers und Humboldts hat der Pädagoge Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) eine sogar unter heutigen Bedingungen immer noch unerfüllte Forderung aufgestellt: Er verwies in seiner Schrift "Anweisungen zur Erziehung der Erzieher" (1806) auf einen Schwachpunkt des Bildungssystems, nämlich die Lehrerausbildung: "Man errichte vor allen Dingen eine Pflanzschule für Erzieher. Man berufe die berühmtesten Erzieher aus allen Weltgegenden zusammen, stelle sie als Lehrer der Erziehungskunst an und gebe jedem tausend bis fünfzehntausend Taler Gehalt [ein Taler entspricht nach heutigem Silberwert etwa 10 Euro], damit er gegen Sorgen gedeckt sei", und er fügte hinzu "ist die Erziehung aber nicht das Wichtigste für den Staat?". Diese Frage müssen wir den "Bildungspolitikern" von heute abermals stellen! – Salzmann formulierte mehrere sehr konkrete Vorschläge zur Errichtung solch eines Instituts, die teilweise nur unter zeitgeschichtlicher Wertung zu verstehen sind, aber alle einem Grundgedanken entspringen: Wer die Erziehung Heranwachsender gestalten will, muss sich zunächst darauf konzentrieren, die Lehrer richtig auszubilden, damit sie dem Erziehungsvorhaben genügen. Und insoweit ist Christian Gotthilf Salzmann ein sehr moderner Mensch, auf den wir heute wieder hören sollten, wo doch in Deutschland allerorten das Wort "Schulreform" bemüht wird. Salzmann kann aus zwei Gründen als Vorbild wirken: Er war zum einen, obwohl Pfarrer, in seinen pädagogischen Ansichten frei von Ideologie, und er war zum anderen kein ausgebildeter Pädagoge, sondern er entwickelte seine erzieherischen Vorstellungen bei seinen eigenen Kindern sowie beim alltäglichen Unterrichten. Im thüringischen Gut Schnepfenthal gründete er eine Schule (finanziert vom Herzog von Gotha) und widmete sich ganz der Pädagogik; sein Pfarramt hatte er deshalb niedergelegt (Nach seinem Tode fielen Salzmanns Gedanken und sein Institut allerdings der idealistischen und nationalistischen Weltanschauung, die schließlich im Wilhelminismus endete, zum Opfer). – Wir sollten jetzt an seine Prinzipien zur Erziehung wieder anknüpfen.

"Ist die Erziehung aber nicht das Wichtigste für den Staat?"

Wahrscheinlich ist die immer noch weit verbreitete Ansicht, die biologische Vorgabe der Menschen lasse nur den Schluss zu, der Spielraum für den Erfolg erzieherischer Maßnahmen sei äußerst gering, eher Ausdruck der gedanklichen Bequemlichkeit als der Erkenntnis. Deshalb findet die Einschätzung, die Bemühungen um eine bessere Bildung großer Teile der Bevölkerung (im Sinne Schillers und Humboldts) bleibe von vernachlässigbarer Wirkung, verbreitet Zustimmung. Dies zu belegen, wird unter anderem darauf verwiesen, dass die Menschen kaum oder gar nicht aus der Geschichte lernten. Und als liefere unsere Gegenwart den Beweis dafür, stellen wir Folgendes fest: Es machen erneut Parolen faschistisch gesinnter Leute die Runde; und das praktisch unmittelbar nach dem Ende der Nazizeit, als ein Regime nationalistischer Verbrecher mit kräftiger Unterstützung durch die Bevölkerung unsägliches Leid über die Welt gebracht hatte. Sie finden heute wieder Gehör, weil die meisten Menschen hierzulande nicht einzuordnen vermögen, warum es damals möglich war, Menschen durch Regierungsterror aus ihrer Heimat zu vertreiben oder gar in den Tod zu jagen, sie industriell zu vergasen. – In Wahrheit haben sehr viele Bürger unserer Republik aber nicht etwa aus der Geschichte nichts gelernt, sondern sie verfügen über keine Kenntnis geschichtlicher Zusammenhänge, geschweige denn dass sie nach den Ursachen der Taten forschen, denen Millionen Menschen ausgesetzt waren (Wer den mageren Geschichtsunterricht in unseren Schulen beobachtet, wundert sich darüber nicht). Das Beispiel mangelnder Bildung in Sachen Geschichte taugt besonders gut, um zu belegen, dass schwache Urteilskraft demokratiefeindliche Strömungen begünstigt; denn um als mündiger Bürger am demokratischen Entscheidungsprozess mitzuwirken, muss wenigstens die Mehrheit Urteilskraft besitzen. Die jedoch wird nicht etwa genetisch verteilt an eine ominöse Elite, sondern sie muss allen erst vermittelt werden. Nur dann, wenn hinreichend gebildete Menschen ein Land bevölkern, kann dort Demokratie funktionieren. Diese Erkenntnis zwingt zu der Schlussfolgerung, dass es die vornehmste politische Aufgabe sein muss, das Bildungswesen einer Gesellschaft optimal zu organisieren; "ist die Erziehung aber nicht das Wichtigste für den Staat?"

Erst sobald diese Erkenntnis die Diskussion um unser Bildungswesen beherrscht, wird es möglich sein, konkrete Vorschläge zu seiner Verbesserung zu behandeln. Hier sollen, um das Vorgeschlagene ein wenig anschaulicher zu gestalten, ein paar kurze Hinweise anzeigen, wohin die Reise gehen könnte:

1. zur Lehrerausbildung

Wer heute Lehrer wird, verlässt die Schule sein Leben lang nicht; denn er besucht nach der Schulzeit eine Schule, die ihn zum Lehrer ausbildet; dann geht er wieder zur Schule und übernimmt sofort einen der verantwortungsvollsten Posten, den unsere Gesellschaft zu vergeben hat. In jedem anderen Beruf wird zur Voraussetzung für die Übernahme verantwortlicher Positionen Erfahrung, also auch Reife der Persönlichkeit, verlangt. Dazu zählt insbesondere das, was man gemeinhin allgemeine Lebenserfahrung nennt. Es bietet sich deshalb förmlich an, dass jemand, der an Schulen lehren möchte, mindestens zehn Jahre Erfahrung in irgendeinem Beruf nachzuweisen hat, was wiederum erfordert, dass Lehreranwärter während ihrer Ausbildungszeit ein angemessenes Gehalt beziehen. Neben der bereits gewonnenen Lebenserfahrung, die vor der Ausbildung erlangt wurde, bietet dieses Verfahren einen weiteren Vorteil: Wer sich in deutlich fortgeschrittenerem Alter zur "Umschulung" auf ein Lehramt entschließt, trifft diese Entscheidung nach reiflicher Überlegung und in sicherlich besserem Wissen um die Tragweite der Berufswahl als ein Abiturient, der vorher ausschließlich das Schulleben kennenlernte. Im Übrigen können aus vielen Berufen auch fachliche Kenntnisse "mitgebracht" werden. Zu fordern ist außerdem, dass Lehrer nicht nur für bestimmte Schulformen und Schulstufen vorbereitet werden sollten, sondern dass sie eine Ausbildung erhalten, die deren Einsatz in allen Bereichen der Schule erlaubt, natürlich fachbezogen.

2. zur Schulart

Ein Schwachpunkt des heutigen Systems ist die Teilung der sogenannten allgemeinbildenden Schulen, je nach Bundesland etwas anders ausgestaltet, in Formen von Grund-, Haupt-, Mittel und Oberschulen, wobei sich letztere obendrein durch die Bezeichnung "Gymnasium" mit dem Mantel des Besonderen zu kleiden versuchen. Wenn man nämlich die Motive des Standesdünkels neutralisiert, gibt es keinen vernünftigen Grund für die Teilung in Schultypen – außer: "das ist historisch gewachsen". Innerhalb der Schule muss selbstverständlich unterschiedlichen Begabungen und Lernfortschritten Rechnung getragen werden. Warum sollte beispielsweise ein Schüler nicht in Mathematik die achte Klasse besuchen und in Deutsch die zehnte, wenn Begabung und Leistungen das angebracht erscheinen lassen? Ganz entscheidend ist es, darauf zu achten, dass Klassen- und ähnliche Verbände in den Schulen klein genug sind, damit Lehrer auf individuelle Bedingungen eingehen können, und dass die Gesamtzahl der Schüler auf einer Schule so gering ist, dass der Schulleitung der erforderliche Durchblick gestattet wird.

3. zu den Inhalten

Der zurzeit angebotene Unterrichtsstoff muss selbstverständlich einer gründlichen Prüfung unterzogen werden, bei der vornan zu ermitteln ist, welche der Fachbereiche dem Hauptziel der schulischen Erziehung dienen, dem Erlangen von Urteilskraft. Ganz oben steht sicherlich das Erlernen des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks auch komplizierter Zusammenhänge in der Muttersprache. Ihr sozusagen angeschlossen sollte die englische Sprache sein, die heutzutage die Funktion einer "Weltsprache" übernimmt, was umgekehrt zu der Feststellung führt, dass weitere Fremdsprachen eher eine Art "Hobby-Charakter" haben und lediglich als freiwillig zu belegende Zusatzfächer angeboten werden können. Einen weiteren Schwerpunkt des Lernangebotes müssen die Naturwissenschaften bilden, und zwar gemeinsam in einem Block von Physik, Chemie, Biologie und Psychologie; gleichbedeutend ist der Geschichtsunterricht mit einem Bestandteil an Anthropologie, dem aus den bereits erwähnten Gründen viel Raum zu geben ist. Und ganz selbstverständlich muss regelmäßiger Sportunterricht für die körperliche Bildung sorgen. – Um die Lerninhalte in "moderner" Form präsentieren zu können, müssen alle Schulen mit den neusten elektronischen Geräten ausgerüstet sein, und es muss der Umgang mit den Methoden der "digitalen Kommunikation" gelehrt werden.

4. zu den Hochschulen

Trotz der Überlegung, die Schule einheitlich (als Gesamtschule) zu gestalten, wird es nicht zu vermeiden sein, den Hochschulbetrieb gesondert zu organisieren. Dafür sprechen mehrere Gründe: Erstens verlässt die Hochschule den allgemeinbildenden Bereich und widmet sich einzelnen Fachbereichen, Fakultäten, obwohl natürlich auch hier die Forderung nach größtmöglicher Verbindung zum Ganzen zu stellen ist. Zweitens ist die Universität auf wissenschaftliche Behandlung ihrer Themen (Forschung und Lehre) ausgerichtet, woraus sich zwangsläufig ein anderer Lehrbetrieb ergibt. Und drittens verlangt die im Verhältnis zu allen Schülern geringere Zahl der Studierenden eine überregionale Organisation. Zu beachten wird jedoch sein, dass alle Fakultäten darauf verpflichtet sein müssen, den Bezug zur Gesamtheit der erzieherischen Aufgaben herzustellen, um den Studierenden die Möglichkeit zu bieten, den Blick auch seitwärts zu richten. Dieser Aspekt des Studierens wird heute kaum beachtet, wo schneller Durchlauf und schmalspurige Berufsvorbereitung das hervorragende Ausbildungsziel darstellen. Die Folge davon ist, dass mit Wissen vollgestopfte "Jung-Fachkräfte" die Hochschule verlassen, die dann stromliniengeschliffen unmittelbar ins Berufsleben gleiten und dort funktionieren. Mündige Bürger, die sich den Angelegenheiten der Gemeinschaft, dem Politischen, zuwenden und im demokratischen Entscheidungsprozess mitwirken, werden in diesem System nicht "gebildet".

Wenn über "Bildungspolitik" gesprochen wird und wenn Vorschläge zur Verbesserung unterbreitet werden, dann bleibt die Diskussion meist am sogenannten Finanzierungsvorbehalt hängen. Damit soll ausgedrückt werden, dass kein "Spielraum" für die erforderlichen Geldmittel bestehe (andernfalls sei womöglich die "schwarze Null" in Gefahr). Genau besehen wird schlicht behauptet, das sei alles zu teuer, ohne dass dafür ein anzulegender Maßstab erwähnt wird. Die zuständigen Finanzminister von Bund und Ländern drehen ihre leeren Kassen um und rufen in die Runde: Wer Geld benötige, habe anzugeben, an welcher anderen Stelle der Haushalte Mittel gestrichen werden sollen. Klingt bei oberflächlicher Betrachtung vernünftig, ist jedoch reiner Unsinn, dem ein wenig Nachdenken auf die Spur kommt. Geld ist nämlich das Produkt politischer Entscheidung und wird aus dem Nichts erzeugt (Das haben die Finanzpolitiker der kapitalistischen Welt in der Zeit nach der "Finanzkrise" 2007 vorgeführt, als sie augenblicklich mehrere Billionen Dollar "produzierten", um den Kasinospielern der "Finanzindustrie" die Pleite zu ersparen – uns "Normalbürgern" allerdings auch). Es geht also nur um die Frage, welche sinnvollen Investitionen getätigt werden sollen, um Bildung anzubieten. Geldmangel stellt überhaupt kein Problem dar; und wir sollten Christian Gotthilf Salzmanns mahnende Frage wiederholen "... ist die Erziehung aber nicht das Wichtigste für den Staat?" und sie klar beantworten: Ja, Erziehung zu mündigen Bürgern ist die Hauptaufgabe jeder Bildungspolitik; denn sie schafft das wichtigste Kapital (Produktionsmittel), das notwendig ist, um zukünftig ein Überleben in einer sich rasend schnell wandelnden Umgebung zu sichern, von deren Gestalt heute noch kaum etwas zu erkennen ist. Die Gesellschaft braucht deshalb Menschen, die in der Lage sind, den Fährnissen, denen sie begegnen werden, Paroli zu bieten; und dafür benötigen sie Urteilskraft aus eigener Bildung.

Es geht um die Frage, welche sinnvollen Investitionen getätigt werden sollen

Sozusagen über allem schwebt eine Gefahr, die zwar erkennbar ist, in der öffentlichen Darstellung jedoch unbeachtet bleibt. Es ist ein Mangel an Bildung, an Urteilskraft, der sehr viele Menschen der Manipulation schutzlos ausliefert. Dabei muss betont werden, dass die meisten Vertreter der gemeinhin für gebildet geltenden "Eliten" dieser Gefahr genauso erliegen wie die sogenannten "Ungebildeten"; denn die ihnen verabreichte geistige Erziehung war mangelhaft und hat sie zu weitgehend kritikloser Anerkennung der herrschenden Verhältnisse gedrängt. Allein die Bereitschaft, Bestehendes hinsichtlich seiner Fortwirkung im Zukünftigen zu hinterfragen, fehlt fast gänzlich; und die Folge ist ein krampfhaftes Festklammern an überkommenen Weltbildern, die Glaubensbekenntnissen gleich verteidigt und jeglicher Kritik entzogen werden. Dieser Zustand wirkt umso fataler, als die derzeit Bestimmenden in der Gesellschaft ihr Weltbild den Nachfolgenden weiterreichen und so für eine "Tradition" sorgen, die zusammengefasst als Konservativismus zu bezeichnen ist. Und der ist schon deshalb so unangenehm, weil auch die Frage, was denn an den "überkommenen Werten" ihren Wert ausmacht, nicht einmal gestellt wird, sondern weil es den selbst ernannten Traditionalisten überlassen bleibt, die Auswahl dessen vorzunehmen, was "erhaltenswert" sei. Völlig unerheblich für diese Grundhaltung ist die Herkunft ihrer Verfechter; denn es kann sich sowohl um "rechte" als auch um "linke" Gedankengebäude handeln, die jeglichem Hinterfragen entzogen werden.

Das wiederum setzt voraus, dass Demokratie wirklich gewollt ist!

Häufig sind Einwände gegen "zu viel Demokratie" zu vernehmen, die mit dem Hinweis darauf begründet werden, die große Masse der Bürger sei gar nicht fähig, an den politischen Entscheidungen mitzuwirken, weshalb man das Geschäft besser den "Experten" überlassen möge. Und da sorge unser Prinzip der Delegation des Bürgerwillens an Parlamentarier für "Stabilität" – allerdings ohne dass dieser Begriff ordentlich definiert wird. Der sich selbst verstärkende Prozess, der sich daraus entwickelt, dass die geringe direkte Einflussnahme der Bürger auf politische Entscheidungen dazu zwingt, das ganze Geschäft fast ausschließlich "hinter verschlossenen Türen" zu betreiben, woraufhin der Bürgereinfluss weiter schwindet und die "Notwendigkeit", ohne Beteiligung der Bevölkerung Politik zu betreiben immer dringender erscheint, beraubt die Demokratie ihres fundamentalen Vorteils gegenüber anderen politischen Systemen. Das kann nur aufgehalten werden, wenn die Überzeugung Platz greift, dagegen einzuschreiten. Das wiederum setzt voraus, dass Demokratie wirklich gewollt ist! Auch die bei uns herrschende Ansicht, dieses von Parteifunktionären geführte Gebilde "parlamentarische Demokratie" sei echte Demokratie, ist zu hinterfragen. Dazu jedoch bedarf es "mündiger Bürger"! Und Mündigkeit erlangen die Menschen nur, wenn sie den Mut aufbringen, sich ihres Verstandes "ohne Leitung eines anderen" zu bedienen. Verstand aber ist das Produkt der Erziehung, und er entsteht nur ganz selten aufgrund einer besonderen Begabung. Das Ausmaß an Verstand, das die große Mehrheit der Menschen benötigt, um sich an den Entscheidungsprozessen in der Gesellschaft direkt beteiligen zu können, ist auf jeden Fall durch Vermittlung von Bildung zu gewinnen.

Der Beitrag erschien auch auf zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

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