Der Bund erwirtschaftet Überschuss – aha?

Geld Nur zaghaft wurde Kritik wurde an der Sparsamkeit der Regierung geübt. Davon, was eine "ordentliche" Haushaltspolitik ausmacht, ist bedauerlicherweise kaum die Rede.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

In den Medien Deutschlands wurde nur zaghaft Kritik daran geübt, dass die Bundesregierung sich damit rühmt, im vorigen Jahr mit ihren Haushaltsmitteln besonders sparsam umgegangen zu sein, wodurch nun ein Überschuss erzielt werden konnte; aber kritisch hieß es dazu lediglich, es sei der Regierenden Pflicht, das Geld der Steuerzahler möglichst zweckvoll einzusetzen und nicht zu horten. Nur gelegentlich wurde darauf verwiesen, dass weit Grundsätzlicheres als der Nachweis sparsamer Haushaltsführung zur Debatte steht. Sparsamkeit ist im Übrigen von jeder Verwaltung als selbstverständliche Pflichterfüllung zu verlangen. Davon jedoch, was eine "ordentliche" Haushaltspolitik ausmacht, ist bedauerlicherweise kaum die Rede.

"Wir hatten ein bisschen Glück, und natürlich haben wir auch gut gewirtschaftet."
Olaf Scholz, Bundesfinanzminister, am 12.01.2020 nach der Bekanntgabe des Jahresüberschusses

"Die Nacht war kalt und sternenklar,
Da trieb im Meer bei Norderney
Ein Suahelischnurrbarthaar. –
Die nächste Schiffsuhr wies auf drei.

Mir scheint da mancherlei nicht klar,
Man fragt doch, wenn man Logik hat,
Was sucht ein Suahelihaar
Denn nachts um drei im Kattegat?"

Joachim Ringelnatz, 1912

Wenn man Logik hat, muss man außerdem fragen: Was treibt einen Finanzminister der Bundesregierung zu der äußerst dämlichen Erklärung, sein Kabinett habe "ein bisschen Glück" gehabt und "natürlich auch gut gewirtschaftet"? Was, wird man verführt leicht verwirrt nachzufragen, sucht Olaf Scholz "denn nachts um drei im Kattegat"? Oder nüchterner: wodurch zeichnet sich der Mann aus, dass er sich der Aufgabe widmen darf, über die Geldangelegenheiten des Staates zu wachen? Ist er etwa doch nur ein im dunklen Meer der Finanzen umhertreibendes Suahelischnurrbarthaar? – Wir können Joachim Ringelnatz leider nicht mehr fragen, wie er das einschätzt. Aber wir müssen wohl annehmen, dass hier "mancherlei nicht klar" zu sein scheint. Beispielsweise bleibt völlig im Dunklen, dass eine Staatsverwaltung nicht wie ein privates Wirtschaftsunternehmen abrechnet und Bilanzen aufstellt, die einen Jahresüberschuss oder einen Fehlbetrag ausweisen, den die Inhaber einsacken, beziehungsweise ausgleichen. Die Kenntnis davon fehlt offenbar allen denjenigen, die derzeit lauthals fordern, die Regierung solle den Überschuss wie den Gewinn einer Kapitalgesellschaft ihren "Gesellschaftern", den Bürgern, ausschütten; manche fordern, sie möge den "Überschuss" für Investitionen einsetzen. Solche und ähnliche Vorschläge zeugen davon, wie wenig die politisch Handelnden über den Zusammenhang zwischen dem Geldschöpfen und dem Steuererheben wirklich wissen. Stattdessen verweisen die medial verbreiteten Darstellungen zum "Überschuss" eher auf die Logik, wie sie Joachim Ringelnatz formulierte; und die, ist zu fürchten, wurde im politischen Betrieb mittlerweile zur Norm erhoben. Sie bleibt aber selbst dann untauglich, wenn "die Nacht kalt und sternenklar" ist.

Was sucht Olaf Scholz "denn nachts um drei im Kattegat"?

Es gilt da wirklich mancherlei klarzustellen. Dazu gehört zunächst, Folgendes ins Blickfeld zu rücken: Wenn in der Öffentlichkeit vom Staat geredet wird, ist fast nie die Gemeinschaft der Bürger, sondern meist die Regierung gemeint. Die wiederum handelt über den Umweg durch ein Parlament (so wir es mit einem demokratisch verfassten Gemeinwesen zu tun haben) ausschließlich im Auftrage der Bürger, deren Angelegenheiten sie wahrzunehmen hat. Das jedenfalls ist die Idee. Und es bedeutet, die Parlamentarier erteilen den Regierenden im Namen und für Rechnung der Bürger Aufträge, die die Verwaltung zu erfüllen hat. Dafür erforderliches Geld stellen die Bürger zusammen mit der Auftragserteilung, und zwar stillschweigend, zur Verfügung; "geschöpft" per Kredit, den sie sich nämlich selbst gewähren. Und den Kredit tilgen sie, indem sie Steuern zahlen. Der Staat, die Regierung, übernimmt es, den Geldfluss zu regeln, was man sich wie folgt vorzustellen hat: Alle durch Gesetze und Verordnungen bestimmten Leistungen, die die Bürger von ihren Verwaltern erwarten, werden mit bei jeder Zahlung "neu erzeugtem" Geld beglichen. Je nach den Bedingungen des Zwecks der bei der Regierung "bestellten" Leistungen, ergibt sich eine unterschiedliche Laufzeit des Kredites. Etwa wie folgt: Wird die Bereitstellung von Infrastruktur (beispielsweise Verkehrswege) beschlossen, dann handelt es sich um eine Investition, deren Nutzung viele Jahre möglich sein wird. Die Summe, die für die Einrichtung bezahlt, neu "geschöpft" wurde, kann also wie bei einem gewöhnlichen privaten Baukredit in Raten, über die Nutzungsdauer verteilt, zurückgezahlt werden. Anderes gilt bei Leistungen, die unmittelbar "verbraucht" werden (Verwaltungsdienste etwa); hierfür wird ein kurzfristiger Kredit gewährt, der im Jahr der erbrachten Leistung zu tilgen ist. Zum Verständnis des daraus zu schließenden Zusammenhanges ist es nicht von Bedeutung, wie dies im Einzelnen abgewickelt wird. Wichtig zu beachten bleibt vielmehr die Tatsache, dass Geld nie privates Eigentum wird, sondern nur zur Nutzung bis zur späteren Tilgung "ausgeliehen" ist. Geld wird vom Staat im Auftrag der Bürger "geschöpft", über die Banken in Umlauf gebracht und schließlich per Steuern "eingezogen". Das "eingezogene" Geld wird dann augenblicklich wieder vernichtet. Dazu eine Anmerkung: Prinzipiell funktioniert das "private" Geldwesen genauso; die Regierung – im Auftrag der Bürger – "schöpft" so viel Geld, wie es der private Wirtschaftsprozess benötigt; auch dieses Geld wird durch Banken per Kredit in Umlauf gebracht; und, sobald ein Teil der Geldmenge die Wirtschaftsleistung übersteigt, wird das "überflüssige" Geld per Steuereinzug wieder vernichtet.

Geld wird vom Staat im Auftrag der Bürger "geschöpft"

Die logische Folge ist, und zwar nicht gemäß der Methode Ringelnatz, sondern nach Einsatz der "denkenden Kunst" (altgriechisch logikē téchnē): Es gibt tatsächlich keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Geldbedarf des Staates und den Steuereinnahmen. Und ebenso logisch ist: Es gibt kein Soll und Haben oder Aktiva und Passiva des Staates, die zu einem Jahresabschluss geführt werden können, weshalb die Feststellung, es sei ein Überschuss "erwirtschaftet" worden, einfach unsinnig ist. Wer sich allein die Frage stellt (und sie zu beantworten sucht), wie Geld entsteht, dem müsste klar werden, warum dies gar nicht anders sein kann. Zur Begründung hilft vielleicht die recht einfach zu gewinnende Erkenntnis, dass in unserer feingliederig verzweigten arbeitsteiligen Wirtschaft nichts geschieht, wenn nicht vorher(!) Geld zur Verfügung steht. Denn niemand wird bereit sein, eine Leistung im Sinne wirtschaftlichen Handelns zu erbringen, wenn er nicht sicher sein darf, dass er mit Geld als Gegenleistung rechnen kann. Das heißt, irgendjemand muss zuvor Geld "produziert" und in Umlauf gebracht haben. Während dies früher den weltlichen oder kirchlichen Fürsten vorbehalten blieb (sie verfügten über die sogenannte Münzhoheit), ist der Akt der Geldschöpfung heutzutage Sache der Gemeinschaft, die dafür sorgen muss, dass stets in dem Umfang Geld bereitsteht, wie es als Gegenleistung für staatliches und privatwirtschaftliches Handeln benötigt wird. Und die Verwaltung des Staates erhält von den Bürgern den Auftrag, die dafür erforderlichen Voraussetzungen und Regeln zu schaffen. Man kann sich das vielleicht am besten so vorstellen: Geld wird als Mittel bereitgestellt, um eine Arbeit durchführen zu lassen; und nachdem die Arbeit erledigt ist, wird das Geld anderweitig verwendet oder eingezogen. Das Geld wirkt dann, wie man es von chemischen Prozessen kennt, als Katalysator: es löst eine Aktion aus und beschleunigt sie, ohne selbst dabei "verbraucht" zu werden. Man kann Geld nachher "unversehrt" weiterverwenden, beziehungsweise es "zurückgeben". Das bedeutet, damit nicht eine unendlich wachsende Menge Geld unterwegs ist, muss die Verwaltung dafür sorgen, dass "überflüssiges" Geld wieder "eingesammelt" wird. Und das erledigt sie, indem sie Steuern erhebt.

Das Geld wirkt dann als Katalysator

Der nächste logische Schluss ist dann folgender: Der "Katalysator" Geld sollte stets in dem Umfang bereitgestellt werden, wie zu erwarten ist, dass die Wirtschaft (die Gesamtheit der persönlichen, unternehmerischen und staatlichen Aktivitäten in einem Gemeinwesen) danach verlangt. Da es sich um eine Betrachtung zukünftiger Entwicklungen handelt, besteht jedoch immer nur die Möglichkeit, eine näherungsweise Anpassung an den späteren Geldbedarf in der Volkswirtschaft vorzunehmen. Die Regierung muss die voraussichtliche Wirtschaftsleistung schätzen und dann prüfen, ob sich ungenügend oder zu viel Geld im Umlauf befindet. Das Schwierige an dieser Operation ist, dass die aktuell umlaufende Geldmenge der zukünftig erwarteten, nur geschätzten Wirtschaftsleistung entsprechen soll, dass jedoch lediglich die Leistung, die bereits erbracht wurde, wirklich messbar ist. Es ist also Aufgabe der Verwaltung, das Ergebnis einer Schätzung fortlaufend mit den Werten der jüngsten Vergangenheit abzugleichen und ständig Hochrechnungen vorzunehmen, die das in Zukunft gewünschte rechte Maß für die Geldmenge ermitteln. Denn es gilt die Forderung, Geldmenge und Wirtschaftsleistung (in Geldwert ausgedrückt) stets möglichst im Gleichgewicht zu halten. Zum Verständnis des hier beschriebenen Zusammenhanges genügt die Kenntnis der Grundsätze, weshalb die technische Bewältigung der Abläufe hier unbeachtet bleiben darf.

Im Blick behalten sollten wir allerdings Folgendes: Das "Geldwesen" ist ein politisches Feld eigener Art, das seinen speziellen Bedingungen entsprechend zu behandeln ist. Es darf nicht einzelwirtschaftlicher, betriebswirtschaftlicher Sicht ausgesetzt werden und ist von Begriffen freizuhalten, die der privatwirtschaftlichen Sphäre entstammen. Der angeblich gültige Grundsatz, die Finanzmittel, die die Regierung benötigt, seien durch die Einnahmen aus Steuern und durch Kredite privater Geldgeber begrenzt, ist aufzugeben. Die Staatsführung hat die ihr auf demokratischem Entscheidungswege erteilten Aufgaben zu erfüllen und dafür die erforderlichen Geldmittel zu "schöpfen"; gleichzeitig muss sie dafür Sorge tragen, dass die zukünftig(!) erbrachte Gesamtwirtschaftsleistung der zukünftig(!) zur Verfügung stehenden Geldmenge in etwa entspricht. Geld zu "schöpfen" ist recht einfach zu bewerkstelligen; das "Einziehen" überflüssiger Mittel erfordert erheblich mehr Aufmerksamkeit. Dafür muss Folgendes beachtet werden: Da Geld lediglich per Kredit "unter die Leute gebracht" wird und dessen Tilgung durch das Erheben von Steuern zu erfolgen hat, müssen die Steuern nach einem Prinzip erhoben werden, welches eine möglichst aktuelle Regulierung der Geldmengen erlaubt, was wiederum nahelegt, sich möglichst auf eine einzige Steuerart zu verständigen. Dieser Forderung kann die Umsatzsteuer gerecht werden, die zwei für die Regulierung des Geldwesens wichtige Voraussetzungen erfüllt: Zum einen unterliegt sie dem Prinzip, dass nur die Leistungsentnahme, der Konsum, besteuert wird und nicht das Erbringen von Leistungen, wie es bei der Einkommensbesteuerung der Fall ist; sie setzt sozusagen dort an, von wo aus das Geld "den Betrieb ankurbelt"; denn der Konsum ist die Triebkraft allen Wirtschaftens. Des Weiteren lassen sich die Steuersätze relativ kurzfristig verändern, also an die Forderungen nach Gleichgewicht zwischen Leistung und Geld anpassen; und ihre Erhebung ist technisch leicht zu bewältigen. Auch in diesem Zusammenhang genügt zum Verständnis der Überlegung eine grundsätzliche Betrachtung, weil Durchführungsbestimmungen eher für gedankliche Ablenkung sorgen und im Übrigen erst festgelegt werden können, nachdem über den Grundsatz entschieden wurde.

Das "Einziehen" überflüssiger Mittel erfordert erheblich mehr Aufmerksamkeit

In der derzeit geführten politischen Diskussion wird auf die hier skizzierten Bedingungen, unter denen Geld sich bewegt, allerdings kaum Bezug genommen. Wenn beispielsweise die Staatsführung bei der Bevölkerung Anleihen aufnimmt, Staatsobligationen ausgibt, wirkt das nur scheinbar und kurzfristig wie eine Maßnahme, "überflüssiges" Geld aus dem Verkehr zu ziehen und damit Investitionen zu finanzieren; doch dabei handelt es sich um eine zeitlich begrenzte, auf die Laufzeit der Kredite abgestellte, Abschöpfung von Geldmitteln, die nach Ende der Darlehensdauer, wenn die Schulden zurückgezahlt werden, wieder in Umlauf gelangen. Und obendrein wird (zumindest üblicherweise) durch die Zahlung von Zinsen zusätzliches Geld "geschöpft", sodass im Ergebnis gar keine "Abschöpfung" erfolgt, sondern die Geldmenge sogar erhöht wird (durch Zinszahlungen), ohne dass dagegen eine Leistung steht. An diesem Beispiel lassen sich die unangenehmen Folgen des Vermengens von privatwirtschaftlichem und staatlichem Umgang mit Geld gut erkennen; denn durch die Kreditaufnahme des Staates bei privaten Gläubigern wird de facto das Prinzip, dass Geld nur in Form von Kredit der Gemeinschaft, des Staates, in Umlauf gelangen darf, in sein Gegenteil verkehrt. Daraus entsteht eine Scheinwelt, deren eine Folge ist, dass "leistungsunabhängiges" Einkommen privater Geldbesitzer entsteht – durch Geldschöpfung (Diese Art, Einkommen zu erzielen, pflegen übrigens besonders jene gern, die lauthals predigen, es habe im Wirtschaftsleben stets das "Leistungsprinzip" zu gelten).

Eine Folge ist, dass "leistungsunabhängiges" Einkommen privater Geldbesitzer entsteht

Schon aus solchen Erwägungen lässt sich folgern, dass die derzeit vorgenommene Einschätzung des staatlichen Finanzwesens unangebracht ist; doch die Erklärung des Finanzministers, er habe einen "Überschuss" erwirtschaftet, ist auch gemäß seiner ziemlich eigenartigen Logik ungerechtfertigt. Dazu ein paar Beispiele: Auf der "Einnahmeseite" des Haushalts für 2019 wird ein "Mehrerlös" dargestellt, der sich aus dem Unterschied der zuvor erfolgten Schätzung des Steueraufkommens zum tatsächlichen Steuervolumen ergibt, das wiederum nur aufgrund einer besser als erwarteten Wirtschaftsleistung entstand, eben nur aus einem Vergleich einer Schätzgröße mit dem tatsächlich eingetroffenen Ergebnis. Das besser als erwartete Sozialprodukt aber wurde ja nicht etwa durch eine besondere Leistung der Bundesregierung geschaffen, sondern ist lediglich dem Umstand zu verdanken, dass die Steuerschätzer sich geirrt hatten. Oder auf der Kostenseite: Es waren Ausgaben für Zinsen, die im Haushalt veranschlagt wurden, nicht zu zahlen, weil die Staatsobligationen praktisch zinslos ausgegeben wurden. Sodann hatte man sogenannte Sonderfonds in den Haushalt eingestellt, beispielsweise für den Ausbau von Kitas oder für die Verlegung von Glasfaserkabeln, die gar nicht abgerufen wurden und nun als "Minderausgaben" erscheinen. Eine Rücklage für einen ungeregelten "Brexit" konnte aufgelöst werden, weil der ja nicht eingetreten war (aber immer noch denkbar ist). Für Tilgung und Zinsen waren im Haushalt 17,4 Milliarden Euro veranschlagt, tatsächlich sind aber nur 11,9 Milliarden ausgegeben worden. Und für Infrastrukturprojekte wurden 7 Milliarden Euro angesetzt, wovon nur 5,7 Milliarden abgeflossen sind. – All die "Mehrerlöse" und "Einsparungen" sind nur dem Umstand zu verdanken, dass die Schätzungen ungenau waren, was ja zum Wesen von Schätzungen gehört; sie sind jedoch nicht dadurch begründet, dass die Regierung besonders gut gewirtschaftet hat! – Der Finanzminister veröffentlicht für das Jahr 2019 einen "Überschuss" von 13,5 Milliarden Euro, der, sollte er allen Bürgern "zurückgegeben" werden, dazu führte, dass jeder Bürger ca. 165 Euro erhielte. Diese Summe darf man mit der Bemerkung "Peanuts" abtun. Doch bei richtiger Einschätzung der Verhältnisse bleibt festzuhalten: Es handelt sich bei der "Überschussrechnung" um blanken Unsinn.

Es handelt sich bei der "Überschussrechnung" um blanken Unsinn

Zu einer wirksamen Finanzpolitik gehört aber noch etwas, das in unserem System fehlt und was ihre Umsetzung drastisch erschwert, vielleicht sogar unmöglich macht: Da Geld ein Gebilde ist, das nur funktioniert, wenn eine staatliche Hoheit über seine Existenz wacht, bedarf es einer durchsetzungsfähigen Institution, die sowohl die Geldschöpfung per Kredit als auch die Tilgung per Steuer reglementiert, also die Geldmenge kontrolliert. Eine derartige Forderung wiederum wird nur erfüllt, wenn eine Staatsführung im eigenen Hoheitsgebiet die dort umlaufende Geldmenge wirklich steuern kann. Genau solch eine Voraussetzung ist hierzulande aber nicht gegeben, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens beherrscht eine weltweit operierende "Finanzindustrie" die Geldströme, die mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus gejagt werden, womit sie jeder staatlichen Kontrolle entzogen sind. Und zweitens unterliegt der Euro einer quasi-überregionalen Instanz, die aber nicht etwa von einem europäischen Finanzministerium mit europäischem Steuersystem geregelt wird, sondern bei der einzelstaatliche und europäische Zuständigkeiten miteinander konkurrieren. Das Ergebnis ist eine Scheinhoheit über das Finanzwesen und in deren Gefolge eine Herrschaft der sogenannten Finanzmärkte. Diesen Zustand gilt es zu beseitigen, wollen wir zu einem Geldwesen gelangen, das die Forderungen der Bürger an eine stabile Währung erfüllt. – Wie wichtig diese Forderung ist, dürfte allerdings den meisten Bürgern gar nicht bewusst sein, weshalb sie gläubig den Vorstellungen der "Experten" hinterherlaufen. Und leider glauben auch die meisten politischen "Verantwortungsträger" an die Mär, Geld sei eine Macht, der sie sich zu beugen haben; denn zu befürchten ist, sie meinen tatsächlich, unkontrolliertes "freies" Agieren der "Finanzindustrie", der "Märkte", sei unumgänglich, damit unser Wohlstand gesichert werden könne. Doch wer sich diesem Irrglauben ergibt, nimmt billigend in Kauf, dass unser Finanzsystem kollabieren wird.

Die Geldmenge, die zu reinen Spekulationszwecken "unterwegs" ist, entspricht etwa dem Dreißigfachen dessen, was geleistet wird!

Das um die Welt zirkulierende Geld, das an den Börsen sogenannte Finanzaktiva sucht, hat inzwischen derart schwindelnde Ausmaße angenommen, dass niemand die Übersicht zu wahren vermag und alle Geldströme fast ausschließlich automatisch von privat(!) betriebenen Computerprogrammen überwacht werden. Da Programme aber nur das leisten, was ihnen ihre Schreiber mit auf den Weg gegeben haben, ist anzunehmen, dieses Überwachungssystem operiert fehlerhaft, sobald etwas Unvorhergesehenes, vom Programm nicht Vorhergesehenes, eintritt – wie 2008 gut zu beobachten war. Darin verbirgt sich eine ungeheure Gefahr für das Weltfinanzsystem, für die "Finanzmärkte", selbst wenn das Programm (tatsächlich mehrere Programme bei verschiedenen Institutionen) stets den Entwicklungen angepasst und auch so eingestellt wird, dass vermeintlich alle erkennbaren Risiken berücksichtigt sind. Zur Verdeutlichung der Tragweite dieses Umstandes mögen folgende Hinweise helfen: Auf den sogenannten Devisenmärkten wurden im Jahre 2019 durchschnittlich an jedem Tag(!) Transaktionen im Wert von 7 Billionen US-Dollar durchgeführt, während das tägliche Weltsozialprodukt, also die reale Wirtschaftsleistung, lediglich 230 Milliarden US-Dollar betrug. Die Geldmenge, die zu reinen Spekulationszwecken "unterwegs" ist, entspricht also etwa dem Dreißigfachen dessen, was geleistet wird! Und diese Geldmenge ist noch um viele Billionen zu erweitern, die entweder auf Konten "rumliegen" oder für reine "Finanzprodukte" bewegt werden – beispielsweise für Aktien oder andere Wertpapiere. Hieraus lässt sich abschätzen, dass über 95 Prozent des „bewegten“ Geldes nicht für tatsächliche wirtschaftliche Leistungen eingesetzt werden, sondern rein spekulativen Zwecken dienen. Man kann das auch ein gigantisches Spielkasino nennen! Und man muss obendrein zur Kenntnis nehmen, dass "unser" Geld in den Händen von süchtigen Spielern liegt und dass eine im Vergleich zur Wirtschaftsleistung irrwitzig große Geldmenge von Finanzjongleuren an den "Finanzmärkten" schleichend entwertet wird. Daher muss mit Nachdruck gefordert werden, dem Unwesen auf den "Finanzmärkten" durch staatliche Kontrollen ein Ende zu setzen; denn dies ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Geld wieder seiner eigentlichen Aufgabe gerecht werden kann.

"Unser" Geld liegt in den Händen von süchtigen Spielern

Sollte sich eine Bundesregierung – man muss hinzufügen: wider Erwarten – dazu bereitfinden, sich dieser Aufgabe zu widmen (einer der wirklich wichtigen!), dann steht sie leider vor einem weiteren Hindernis, nämlich jenem, das der Euro aufgerichtet hat. Dieses Währungsgebilde, womit die Staatenlenker der EU die Union zu einer engeren Kooperation mit dem Endziel einer staatlichen Gemeinschaft führen wollten, entspricht bedauerlicherweise nicht den Kriterien, nach denen eine "ordentliche" Währung ausgerichtet sein sollte. Der gravierendste Fehler, unter dem der Euro zu leiden hat, ist nämlich folgender: In einem Raum, in dem eine Währung gilt, müssen für die darin Wirtschaftenden wenigstens in etwa gleiche Bedingungen herrschen. Das gilt insbesondere für das Steuer- und Sozialsystem, das jedoch in allen EU-Staaten der souveränen Entscheidung der Nationalregierungen vorbehalten bleibt. Ganz wichtig ist auch die Einführung eines einzigen gemeinschaftlichen Staatshaushaltes (parlamentarisch kontrolliert) sowie einer Finanzbehörde, die dafür Verantwortung übernimmt; und auch daran mangelt es. Die im Grundsatz ohnehin unsinnige Regel, jeder Staat innerhalb des Euro-Raumes habe allein für "seine" Schulden geradezustehen (Ein Staat vergibt Kredite und sollte keine Darlehen aufnehmen), hebt obendrein die eigentliche "Deckung" der Währung auf. Denn die Sicherheit einer Währung wird nur durch die solidarische Haftung aller Bürger im Währungsraum garantiert. Die erforderliche Konsequenz daraus ist, dass wir entweder die "Vereinigten Staaten von Europa" schaffen oder dass wir den Euro wieder aufgeben. Das derzeit praktizierte Herumdoktern an Symptomen jedenfalls wird ein zu erwartendes Scheitern des Euro nur katastrophaler machen. Leider ist damit jedoch zu rechnen.

Die Sicherheit einer Währung wird nur durch die solidarische Haftung aller Bürger im Währungsraum garantiert

Während sich die Karawane des Politbetriebes im Kreis bewegt und sich im Vergleich zu den "wirklichen" Problemen mit Nickligkeiten befasst wie etwa den parteiinternen Querelen um Posten und Pöstchen, müssen wir tatenlos zusehen, wie das aufgeblasene globale Finanzsystem den Hyänen der "Märkte" zum Fraß vorgeworfen wird und wie wichtige Investitionen in die öffentliche Infrastruktur unterbleiben, weil dafür angeblich kein Geld zur Verfügung steht. Deshalb ist es so dringend, den Wahn auszuräumen, ein Staat könne nur so viel Geld ausgeben, wie er nach Steuereinnahmen in seinen Kassen vorfindet und wie ihm private "Geldgeber" in Form von Krediten gewähren. Allerdings müssen zunächst einmal möglichst viele Bürger selbst Klarheit in diesen Fragen gewinnen und nicht länger einfach glauben, was ihnen die "Experten" vorgaukeln. Denn nur, wenn eine möglichst große Zahl Bürger (Wähler) mit konkreten Forderungen möglichst "lautstark" an die Politiker herantritt und die fürchten müssen, ihre Posten zu verlieren, wird eine Bereitschaft entstehen, sich grundsätzlich und kritisch mit dem Finanzsystem zu befassen. Das ist sicherlich ausgesprochen mühsam, doch vor jeder grundlegenden Änderung der Strukturen in einer Gesellschaft ist ein dafür offenes Bewusstsein zu schaffen. – Unentschieden muss leider bleiben, ob dafür noch genügend Zeit zur Verfügung steht. Doch sicher ist, dass ein Kollaps des Finanzsystems unübersehbaren Schaden anrichten wird, sollte nicht schleunigst daran gearbeitet werden, den Kasinobetrieb zu schließen.

Deshalb ist der mühsame, steil ansteigende Weg der Aufklärung zu beschreiten

Als Erkenntnis, die aus den zurzeit herrschenden politischen Verhältnissen zu gewinnen ist, muss leider Folgendes hingenommen werden: Um die Grundlagen zu schaffen, die sicherstellen, dass das Finanzsystem, dem wir ausgesetzt sind und das wir wie das Blut in unseren Adern benötigen, nicht zusammenbricht, ist das "Weltbild" vom Staat, der seine Ausgaben aus dem Steuersäckel bestreitet, zu korrigieren; und die "Münzhoheit" der Regierung ist wiederherzustellen! Doch die herrschenden Zustände im Politikbetrieb, die vom verbissenen Festhalten an geltenden Vorstellungen geprägt sind, wirken so widerspenstig wie der Stein, den Sisyphos den Berg hinauftragen sollte und der stets kurz vorm Erreichen des Gipfels den Hang wieder hinunterpolterte. Es gibt aber keine Alternative zu einer Besinnung auf die Grundregeln, nach denen unser Finanzsystem funktioniert, weshalb der mühsame, steil ansteigende Weg der Aufklärung zu beschreiten ist. Dabei müssen wir leider hinnehmen, dass die Zustände auf den "Finanzmärkten" zunächst nicht korrigiert werden können, weshalb wir lediglich auf die Hoffnung bauen dürfen, dass ein Beben am Boden des riesigen Meeres überflüssiger Geldmengen ausbleibt. – Beginnen müssen wir damit, solchem Unsinn, wie ihn die Finanzpolitiker mit "Überschussrechnungen" unter die Leute bringen, anzuprangern, und wir müssen die tatsächlichen Bedingungen des Geldverkehrs klarstellen. Auf der Grundlage dieses Wissen müssen wir die Politiker in die Pflicht nehmen. Unterlassen wir das, laufen wir Gefahr, dass wir wie das Suahelischnurrbarthaar des Nachts im Meer umhertreiben.

Lesetipps:
Mathias Binswanger: Geld aus dem Nichts. Wie Banken Wachstum ermöglichen und Krisen verursachen, Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2015.
Stephanie Kelton, bspw. Artikel am 16. Dezember 2018 in der Süddeutschen Zeitung: Geld ist zum Schöpfen da.
David Graeber: Schulden. Die ersten 500 Jahre, Klett Cotta, Stuttgart 2011.

Der Beitrag erschien auch auf zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden