Mehr Denken wagen!

Demokratie Warum die Bereitschaft der "Spitzenpolitiker" für grundlegende Änderungen des politischen Systems gering ist, es aber nötig ist, Demokratie von Grund auf neu zu denken

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Mehr Denken wagen!

Foto: Michele Tantussi/Getty Images

Das Ergebnis der Landtagswahl in Thüringen am 27.10.2019, bei dem die beiden sogenannten Volksparteien (CDU und SPD) heftige Verluste hinnehmen mussten und nun an dritter und vierter Stelle liegen, hat einige "Spitzenpolitiker" der Republik aufgescheucht und zu der Forderung nach prinzipiellen Änderungen im Politikbetrieb angeregt. Man möchte sagen: recht so! und: wenn nicht jetzt, wann dann? – Doch die Bereitschaft für eine wirklich grundlegende Erneuerung des Systems ist noch nicht zu erkennen. Vielleicht ist der Schmerz der Niederlage noch nicht stark genug, um eine Schockwirkung auszulösen, die dazu führen könnte, das herrschende System zu hinterfragen.

"Es geht längst nicht mehr um irgendeinen Vorsitzenden, Kanzlerkandidaten oder Minister, es geht auch nicht um den soundsovielten Koalitionskompromiss, es geht um grundlegende Fragen des Vertrauens und der Akzeptanz. […] Ich bin der Meinung, dass wir noch in diesem Jahr eine Parlamentsreform brauchen, die zu einer deutlichen Verkleinerung in mehreren Stufen führt. Die Zahl der Abgeordneten sollte alle vier Jahre um 40 Sitze reduziert werden, bis eine angemessene Zahl erreich ist. […] Wir brauchen Formate, mit denen Debatten auch außerhalb von Wahlen möglich sind. […] Im Vorfeld von Gesetzen sollten Online-Anhörungen den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu äußern. Ihre Bedenken und Vorschläge sollten sie künftig stärker an die Politik herantragen können, und zwar so, dass sie auch tatsächlich Berücksichtigung finden können." (Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier am 06.11.2019 in der "Rheinischen Post")

Zehn Tage nach dem "Debakel", wie es viele Parteifunktionäre der CDU und der SPD nannten (nach der Landtagswahl in Thüringen am 27.10.2019), tauchten unter den "Spitzenpolitikern" wie aus heiterem Himmel düstere Ahnungen hinsichtlich ihrer zukünftigen Wahlaussichten auf; und wie üblich wurde sofort stehend freihändig aus der Hüfte geschossen, ohne dass vorher auch nur der leiseste Versuch einer gründlichen Ursachenforschung unternommen worden war. Die Äußerungen vieler Funktionäre lassen eins vermuten: Offenbar sind die politischen Akteure so programmiert, dass sie eine Fehleranalyse unter Einschluss der Möglichkeit eigenen Versagens gar nicht vornehmen können. Da wird zwar angedeutet, man habe wohl "auch" Fehler gemacht, und zwar beim Umgang mit der AfD; das mag sogar stimmen; aber eine solche Wahlentscheidung wie in Thüringen ist keine Reaktion auf die falsche Behandlung eines Mitbewerbers. Außerdem war zu hören, das Ergebnis sei den besonderen Verhältnissen in Thüringen mit einer "traditionell" starken "Rechtslastigkeit" in der Gesellschaft geschuldet; und man möge beachten, dass in Thüringen nur 1,73 Millionen Wahlberechtigte zu den Urnen gerufen wurden, von denen lediglich 1,12 Millionen an der Wahl teilnahmen und nur 260.000 der AfD ihre Stimme gaben, also 15 Prozent der Wahlberechtigten. Es sei deshalb unangebracht, das Thüringer AfD-Ergebnis als besonders furchterregend einzuschätzen. – Dennoch: Ein Anflug von Empfinden einer Eigenverantwortung scheint durch die Reihen der Politfunktionäre der einst Volksparteien zu wehen; denn es sollen, wie Herr Altmaier das ausdrückt, "grundlegende Reformen des Systems" in Angriff genommen werden.

Eine solche Wahlentscheidung wie in Thüringen ist keine Reaktion auf die falsche Behandlung eines Mitbewerbers

Die Vorschläge, die Herr Altmaier "grundlegend" nennt, sind allerdings bestenfalls als Kosmetik zu bezeichnen. Dazu im Einzelnen: Es gehe, sagt der Minister, "um grundlegende Fragen des Vertrauens und der Akzeptanz". Offenbar meint er, es gehe um das Wiedererlangen von Vertrauen, das verloren wurde; und es müsse erreicht werden, dass die Bürger billigen, was die Politiker vorschlagen – blind womöglich. Um "Fragen" dazu geht es jedoch gar nicht, weshalb zu vermuten ist, Herr Altmaier hat wohl kaum so recht darüber nachgedacht, was er da sagt. Wie verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden kann, wenn man die Zahl der Abgeordneten im Bundestag "deutlich" reduziert, erschließt sich einem interessierten Bürger genauso wenig. Sind doch "Qualitätsmerkmale" wie Vertrauen und Billigung nicht durch Mengenreduktion beim handelnden Personal zu erlangen (ein "Quantitätsmerkmal"); und man fragt sich, warum die derzeit 709 Abgeordneten weniger Vertrauen erwecken als vielleicht nur 350? – Doch sogleich scheint den Minister sein Mut zur Deutlichkeit wieder zu verlassen, da er nachschiebt, die Zahl der Abgeordneten dürfe je Legislaturperiode nur um 40 reduziert werden. Das bedeutete bei einer am Ende "deutlichen" Verkleinerung, etwa um die Hälfte beispielsweise, dass dies erst nach neun Legislaturperioden zu erreichen wäre, nach 36 Jahren! Außerdem möchte Herr Altmaier per "Online-Anhörung" (wie geht das?) "den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu äußern". Ihre Bedenken und Vorschläge sollten sie "künftig stärker an die Politik herantragen können, und zwar so, dass sie auch tatsächlich Berücksichtigung finden können". Man muss sich ernsthaft fragen, ob hier jemand spricht, der die gesellschaftlichen Zusammenhänge überblickt; denn die Auffassungen "der Menschen" können tatsächlich nur dann "Berücksichtigung finden", wenn "die Politik" (er meint wohl die Politiker) ihre Gesetzes- oder anderen Vorschläge der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen, Punkt. Doch das unverbindliche Labern über mehr Mitwirkungsrechte, die ernstlich gar nicht gemeint sind, kann sicherlich wenig dazu beitragen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Es ist sogar zu befürchten, dass solche durchsichtigen Täuschungsmanöver das Misstrauen noch vergrößern.

Tendenziell antidemokratische Parteien und "Bewegungen" fahren rasante Zugewinne ein

Die unübersehbare Scheinheiligkeit, die in Altmaiers Vorschlägen aufleuchtet, stärkt indessen einen höchst gefährlichen Trend. Während der noch recht kurzen Epoche mit parlamentarischen Regierungssystemen konnte man nämlich bereits eine Art Gesetzmäßigkeit erkennen, der zufolge ein Vertrauensverlust der "staatstragenden" Parteien regelmäßig denen Zulauf verschaffte, die autoritäre Machtverhältnisse anstreben. Zurzeit müssen wir in den meisten parlamentarisch regierten Gesellschaften beobachten, wie tendenziell antidemokratische Parteien und "Bewegungen" rasante Zugewinne einfahren und wie sich die "Etablierten" ausgerechnet durch Annäherung an solche Strömungen zur Wehr zu setzen versuchen, und das auch noch erfolglos. Diese "Taktik", so mussten wir Deutschen in unserer jüngeren Geschichte schmerzhaft erfahren, kann katastrophale Folgen haben (1933). – Aber auch in den USA, deren politisches System lange Zeit als weltweit vorbildlich galt, mehren sich die Anzeichen dafür, dass ein eklatanter Verlust des Vertrauens in die Redlichkeit der "politischen Klasse" autoritäre Strukturen hoffähig macht. Wir müssen sogar befürchten, der "Verrückte" auf dem Thron in Washington könnte im nächsten Jahr wiedergewählt werden. Und während seiner zweiten Präsidentschaft wird sich die Zahl derjenigen "Amtsträger" um ihn herum, die demokratische und rechtsstaatliche Verfahren außer Kraft setzen noch erhöhen. – Es geht also nicht etwa nur darum, ob die eine oder andere Partei eine Mehrheit der Wähler hinter sich scharen kann, sondern es geht um die Wurst! Das im Rahmen der Menschheitsgeschichte sehr junge Pflänzchen Demokratie droht zu verdorren, bevor es sich richtig entfalten durfte.

Das sehr junge Pflänzchen Demokratie droht zu verdorren

Und da ist es sehr wohl angebracht, über "grundlegende Reformen" nachzudenken. Allerdings setzt dieses Bemühen zu seiner erfolgreichen Umsetzung voraus, dass zunächst alle zurzeit geltenden Grundsätze daraufhin überprüft werden, ob sie den Anforderungen an eine "wirklich" demokratische Organisation genügen, ob sie, wenn nicht, "reformfähig" sind oder ob sie gar durch neue ersetzt werden müssen. Die Vorschläge des Herrn Altmaier weisen sozusagen unbeabsichtigt auf diese Fragestellung: Ihnen fehlt jedoch die "grundlegende" Untersuchung, welche Strukturen des herrschenden Systems für die Fehlentwicklung "unserer Demokratie" verantwortlich sind. Sonst wäre ihm wohl aufgefallen, dass er gar nichts "Grundlegendes" verändern will. Außer einem Wunschkatalog und einigen für das Ziel einer Reform unzureichenden kleinen Korrekturen hat er nämlich nichts im Angebot; weshalb prognostiziert werden darf, dass sein Vorstoß ohne irgendeine Wirkung in den Archiven verschwinden wird. Das ist insofern bedenklich als damit ein Anstoß unterbleibt, darüber nachzudenken, wie wir den wachsenden Einfluss neofaschistischer Kräfte noch rechtzeitig zurückdrängen können. Denn auch dies hat die bittere Erfahrung mit dem Nazi-Regime gezeigt: Erklimmen solche Cliquen erst einmal die Regierungsränge (gern auch unter Ausnutzung demokratischer Strukturen), dann lassen sie sich dort nicht wieder "abwählen". – Die "grundlegende Frage", die es zu beantworten gilt, ist: Wie konnte es geschehen, dass siebzig Jahre "praktische Demokratie" einen Zustand begünstigten, der "Antidemokraten" den Weg in die Parlamente ermöglichte? Und wissen wir das, haben wir zu fragen: Was lässt sich tun, um zu verhindern, dass nicht abermals solche Kräfte Regierungsmacht erlangen?

Erklimmen solche Cliquen erst mal die Regierungsränge, lassen sie sich dort nicht wieder "abwählen"

Die Frage danach, warum siebzig Jahre Bundesrepublik Deutschland nach der gescheiterten Weimarer Republik und dem katastrophalen "Dritten Reich" nicht ausreichten, um eine "wehrhafte" und "wehrfähige" Demokratie zu installieren, lässt sich "eigentlich" sehr leicht beantworten. Denn es genügt ein ungetrübter Blick auf die "Konstruktion" unserer Republik, um zu erkennen, dass die "Väter des Grundgesetzes" es unterlassen hatten, bei der Formulierung der Verfassung "ganz von vorn" zu beginnen. Sie garantierten mit der Verankerung der Grundrechte als unumstößliche Regeln im gesellschaftlichen Zusammenleben und der Übernahme der "Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten" zwar eine Sicherung der Rechte jedes einzelnen Bürgers; aber sie richteten die Vorschriften zur praktischen Umsetzung nicht konsequent genug danach aus. Die Regelungen zur Besetzung des Parlamentes und zur Bildung der Regierung wurden nämlich nicht neu formuliert, sondern zu großen Teilen den "traditionellen" Vorgaben der praktizierten demokratischen Regierungssysteme im Westen entlehnt; und vieles entstammt der Weimarer Verfassung. So ging man beispielsweise ohne Diskussion davon aus, die Berechtigung zur Installation einer repräsentativen Organisation der Demokratie mit den politischen Parteien als eine Art Zentralorgan darin sei "a priori" gegeben, von uralten Erfahrungen abgeleitet und von nicht zu prüfenden Grundsätzen bestimmt. Damit aber wurde der Grundstein gelegt für eine durch Wahlen legitimierte Aristokratie (eine "Herrschaft von Eliten"), was genau besehen dem Grundgedanken einer demokratischen Ordnung widerspricht. Denn der Begriff Demokratie (die "Herrschaft der Bürger") lässt sich nur durch die Mitwirkung der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen innerhalb einer staatlichen Gesellschaft verwirklichen. Solange Bürger aber lediglich "ihre Bedenken und Vorschläge künftig stärker an die Politik herantragen können", wird diese wichtigste Forderung des demokratischen Gedankens nicht erfüllt. Insofern durften wir uns nicht wundern, dass sich die politischen Verhältnisse hin zu einer Regierungsform entwickelten, die den Ansprüchen eines "wirklich" demokratischen Gemeinwesens nicht genügt.

Die Gestaltung des politischen Apparates im Wege der Repräsentation der Bürger durch "deren" Abgeordnete wurde in der Verfassung im Übrigen gar nicht "ausgearbeitet", wohl, weil man als selbstverständlich annahm, die politischen Parteien erledigten dies, indem sie die "richtigen" Leute für die Wahl aufstellen. Außerdem unterstellte man wahrscheinlich, die unterschiedlichen Parteien würden zusammen das vollständige Spektrum der politischen Richtungen widerspiegeln, sodass das Parlament eine echte Vertretung der Wählerschaft darstellen könnte. Folgerichtig wurde festgelegt, dass die Regierung von den Abgeordneten bestimmt wird, die sozusagen im Auftrage der Wähler handeln. Diese als "gottgegeben" eingestuften Bedingungen sind jedoch nicht erfüllt. Die Auswahl der Kandidaten erfolgt nämlich gemäß innerhalb der Parteien gebildeter Machtstrukturen und nicht nach Gesichtspunkten, die der Repräsentation einer bestimmten Auffassung wahlberechtigter Bürger entsprechen. Und die Vorstellung, im Parlament seien alle politischen Richtungen abgebildet ist zwar theoretisch nachvollziehbar, doch die Praxis in der Parteienlandschaft zeigt eine andere Struktur. Das wurde zum Beispiel durch den Versuch erkennbar, sogenannte Volksparteien zu installieren, die möglichst viele Wähler hinter sich versammeln können, weil sie eben gerade nicht präzise formulierte politische Ziele verfolgen (In den 1950er-Jahren wurde die CDU als "Kanzler-Verein" gekennzeichnet, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass ihr einziges Ziel sei, den Bundeskanzler aus ihren Reihen zu stellen). Es wird zwar mit Einordnungen wie "rechts", "links", "konservativ", "liberal", "umweltschützend" oder "sozial" (sogar "christlich") hantiert, und alle nennen sich "demokratisch", doch dahinter verbergen sich lediglich wohlfeile Allgemeinplätze und kein politisches Programm – heute werden Parteien meist sogar nur noch durch Farben spezifiziert. Selbst wenn die Überlegung zuträfe, man könne das Spektrum des politischen Willens der Bevölkerung durch die Entsendung von Abgeordneten direkt in dasjenige Gremium übertragen, wo Entscheidungen gefällt werden, so müssen wir in der "realexistierenden Demokratie" feststellen, dass Parteifunktionäre sich des Geschäftes bemächtigt haben und nach Gesichtspunkten handeln, die der möglicherweise ursprünglich ernstgemeinten Auffassung von einer "echten" Repräsentation nicht entsprechen. Allein die Tatsache, dass sich de facto eine Parteienherrschaft herausbilden konnte und damit eine aristokratisch gesinnte Elite zu politischer Macht gelangte, deutet auf ein demokratiefeindliches Konstruktionsmerkmal hin. Mit anderen Worten: Eine Ursache für die Fehlentwicklung der meisten heute installierten Demokratien beruht auf der Tatsache, dass politische Parteien auf allen Ebenen der Regierung und der Verwaltung Alleinherrschaft ausüben. Dass sie dabei gelegentlich auch in Konkurrenz zueinander treten, ist deshalb kaum von Bedeutung, weil sie für ihre "Genossen" zwar mal mehr oder mal weniger Posten erringen können, tatsächlich aber ein Kartell bilden, das von den Bürgern, ihren Wählern, weitgehend abgekoppelt operiert und sich als Klasse eher dem eigenen als dem Gemeinwohl verpflichtet sieht.

Die Auswahl der Kandidaten erfolgt nämlich gemäß innerhalb der Parteien gebildeter Machtstrukturen

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit konnte sich unter dem Schirm der parteigesteuerten repräsentativen Demokratie eine Entwicklung hin zum Berufspolitiker durchsetzen, und zwar mit der Folge, dass die Mandatsträger, die durchweg Parteimitglieder sind, "hauptamtlich" politisch tätig werden, ihre Existenz also davon abhängt, ob man sie wiederwählt oder ob sie, sollten die Wiederwahl nicht gelingen, in von Parteien besetzte Verwaltungspositionen überwechseln können (beliebt sind auch Posten in Lobby-Organisationen der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften oder in Staatsbetrieben). Daraus leitet sich zwangsläufig eine Abhängigkeit vom Parteimanagement her, die den einzelnen Politiker an strenge, von der Parteispitze vorgegebene Richtlinien bindet. Wie das in der Praxis abläuft, konnte das deutsche Wahlvolk bei der "Kür" der neuen Parteivorsitzenden der SPD beobachten. Die Wahl verhältnismäßig unbekannter Figuren wurde fälschlich als Ausdruck "innerparteilicher Demokratie" propagiert; in Wahrheit war sie das Ergebnis von Ränkespielen einzelner Parteigruppen wie beispielsweise der Jungsozialisten. Aber auch die anderen Parteien demonstrieren eine schamlose Auseinandersetzung um Posten, wenn sie ihrer Führungsriege "wählen" oder wenn sie Regierungsposten vergeben.

Die Bewegung hin zu einer "Parteienherrschaft" ist in einem System wie dem der parlamentarischen Demokratie mit einer zentralen Rolle der Parteien gar nicht zu verhindern. Sie war beispielsweise mit der Formulierung des Grundgesetzes der Bundesrepublik bereits angelegt. Hierfür gibt es zwei maßgebliche Ursachen: Erstens hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Apparate, in denen Menschen wirken, fast immer nur unter den Bedingungen einer hierarchischen Struktur funktionieren würden, einer Befehlskette von oben nach unten. Das bedeutet, dass es wie natürlich erscheint, wenn "Spitzenpolitiker" in "Spitzenrunden" "Spitzengespräche" führen, deren Ergebnis danach von den ihnen "untergebenen" Mandatsträgern im Parlament "umzusetzen" sind. Und zweitens werden nicht politische Sachverhalte zur Wahl gestellt, sondern Personen für eine ganze Legislaturperiode ins Parlament entsandt, wo sie Entscheidungen zu treffen haben, wofür sie von ihren Wählern kein ausdrückliches Mandat erhielten. – Die Tatsache, dass die meisten Politiker in den Parlamenten im Grunde Angestellte einer Partei sind und erstrangig den Vorgaben ihres Managements zu folgen haben, ist als ein Konstruktionsfehler des bei uns praktizierten Parlamentarismus einzuordnen. Wir erkennen in allen westlichen Demokratien zwei Merkmale des "realexistierenden" Politiksystems, die eine aristokratische Herrschaftsform nicht nur ermöglichen, sondern sogar zwangsläufig hervorbringen: Zum einen entscheiden die Wähler nur über ein Mandat, das einer Partei – einem Apparat mit Apparatschiks – die Durchführung des politischen Geschäfts überträgt (zuweilen auch einer Person wie in Frankreich oder in den USA bei der Direktwahl des Präsidenten); und zum anderen bestimmen Parteigremien, welche Personen aus den Reihen ihrer Mitglieder zur Wahl gestellt werden. Es findet praktisch eine reine Postenvergabe statt, die eher nach dem Grad der Willfährigkeit der "Bewerber" ausgerichtet und nur sehr vage an die Erfüllung politischer Aufgaben gekoppelt ist. Das, muss wiederholt werden, ist eine zwangsläufige Folge des Systems.

Die meisten Politiker in den Parlamenten sind im Grunde Angestellte einer Partei

Zu den "Gesetzen" eines jeden Systems gehört, dass es nur insoweit reformfähig ist, wie nicht "grundlegende" Elemente als Fehlkonstruktion auszumachen sind. Und die Konsequenz daraus ist folgende: Ein System, das diesem Mangel unterliegt, kann nicht durch Korrekturen an seinen "Teilen" repariert werden, sondern es ist auszuwechseln! – Vor diesem Problem stehen wir, wenn wir versuchen wollen, "unsere Demokratie", das hierzulande herrschende politische System, "grundlegend" zu verändern. Und Herrn Altmaiers Feststellung, es gehe "um grundlegende Fragen des Vertrauens und der Akzeptanz", kann nur dann gelten, wenn sie in diesem Sinne gemeint ist – wovon wir allerdings kaum ausgehen dürfen. Wollen wir "wirklich" demokratische Strukturen aufbauen, so müssen wir die Bereitschaft finden, die Herrschaft der Aristokraten in den Parteiapparaten durch ein neues System zu ersetzen, das nicht zu einer Entwicklung führt, wie wir sie in den vergangenen siebzig Jahren erleben mussten. Eine der furchtbarsten Folgen der bundesrepublikanischen Parteien-Demokratie ist nämlich, dass heutzutage jeder Vorschlag zur Einführung direkter Demokratie unmittelbar im Keim erstickt wird, indem die Vertreter der politischen Klasse behaupten, direkte Demokratie, sei gar nicht praktizierbar. Auch in Kreisen des angeblich gebildeten Bürgertums grassiert die Annahme, der Mehrheit fehle der erforderliche Verstand, um politisch "richtige" Entscheidungen zu fällen. Aber vor allem fürchten die aristokratisch gesinnten Parteifunktionäre den Verlust ihrer Posten und Privilegien, weshalb von ihnen gar keine Bereitschaft zum Umgang mit "grundlegenden Fragen des Vertrauens und der Akzeptanz" erwartet werden darf.

Diese Verkrustung des Denkens in "grundlegenden" politischen Fragen ist aufzubrechen

Trotzdem: Es bedarf einer öffentlich geführten Debatte um "die Fragen", die Herr Altmaier aufwarf, damit am misslichen Zustand "unserer Demokratie" erst einmal überhaupt Anstoß genommen wird, damit offensichtlich wird, dass wir zurzeit weltweit – eben auch hierzulande – und mit zunehmender Beschleunigung autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegenschliddern. Ein Grund, warum dies so wenig Aufmerksamkeit findet, liegt in dem Umstand, dass sich die meisten Bürger keine anderen als die herrschenden Bedingungen vorstellen können, weshalb sie ihr liebgewonnenes Weltbild der Gefahr seiner Zerstörung ausgesetzt sehen und automatisch unreflektiert mit Abwehr reagieren. Gebot der Stunde ist es daher, diese Verkrustung des Denkens in "grundlegenden" politischen Fragen aufzubrechen, und Anstoß zu geben für Überlegungen hinsichtlich der Einführung eines Systems, in dem es den Bürgern ermöglicht wird, am politischen Entscheidungsprozess teilzunehmen. Denn auch wenn es vielen der "Menschen draußen im Lande" gar nicht klar ist, sie wenden sich vom Politikbetrieb ab, weil ihnen keinerlei echte Mitwirkung eingeräumt wird. Eine Reaktion auf kritische Hinweise findet häufig die Antwort: "Man kann ja doch nichts machen". Um diese Lücke zu schließen, bedarf es eines Weckrufes, der öffentlich Gehör findet; und dazu sollen hier ein paar Anregungen vorgestellt werden.

Es kommt zunächst darauf an, sich mit dem "Grundlegenden" der direkten Demokratie zu befassen

Die Einführung einer direkten Demokratie setzt voraus, dass die Bürger, wenn sie aktiv am politischen Geschehen beteiligt werden sollen, erkennen können, womit sie es zu tun haben und welche Konsequenzen einzelne Entscheidungen, die sie zu fällen haben, nachsichziehen. Deshalb muss die Konstruktion des Gemeinwesens so gestaltet sein, dass es den Bürgern möglich ist, alle Abläufe zu überschauen. Das heißt, zunächst einmal muss die Größe von Verwaltungseinheiten dem Erfordernis der Überschaubarkeit genügen, weshalb die Kommune die "Basiseinheit" sein sollte (ein Landkreis oder eine kreisfreie Stadt), wo die geforderte Bürgernähe ganz praktisch zu erfüllen ist. Außerdem kann in jeder dieser Art "Basiseinheit" ein Parlament installiert werden, dessen Mandatsträger direkt von der Bevölkerung gewählt werden. Dabei ist eine Repräsentation zu gewährleisten, die ein möglichst gutes Abbild der Gesellschaft sicherstellt. Gesellschaftliche Gruppen, die "ihre Vertreter" ins Parlament schicken, sind dann solche, bei denen jeder Bürger zugleich nur jeweils einer angehören kann; also etwa folgende: Jugendliche zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, Auszubildende und Studierende älter als achtzehn Jahre, abhängig Beschäftigte, selbstständig Beschäftigte, Hausfrauen und Hausmänner, Rentner und Pensionäre (Hierzu ein Einschub: Wer annimmt Jugendliche seien nicht "politikfähig", sollte mit Blick auf die weltweiten Proteste der "Jungen" erkennen, dass dies ein kapitaler Irrtum ist). In den Parlamenten werden dann für alle Vertreter einer Gesellschaftsgruppe proportional zum Anteil an der Gesamtwählerschaft Plätze "reserviert", sodass dort schließlich eine echte Vertretung abgebildet wird. Innerhalb einer Gruppe ist die Zahl der Mandatsträger auf Frauen und Männer im Verhältnis der jeweiligen Anzahl beider Geschlechter an der Bevölkerung im Wahlkreis zu bestimmen. Außerdem sollte es eine Art Pflicht geben, die jeden Bürger einmal im Leben und für eine der gesellschaftlichen Gruppen zwingt, ein Mandat zu übernehmen. Um zu gewährleisten, dass aus der Wahl ins Parlament kein Hang zum Berufspolitikerdasein entsteht, sollten Gewählte ihr Mandat nur für eine Legislaturperiode erhalten und auch später nicht wiedergewählt werden dürfen. Daraus folgt die Konsequenz, dass Parlamente nur "nach Feierabend" tagen dürfen und alle Arbeitgeber im erforderlichen Maße Freizeit zu gewähren haben. Einzelne Bestimmungen zum Wahlverfahren und zur Dauer der Legislaturperiode sollen hier nicht erörtert werden, weil es zunächst darauf ankommt, sich mit dem "Grundlegenden" der direkten Demokratie zu befassen. – Nur noch eins: Es gibt dann lediglich kommunale Parlamente, was zur Folge hat, dass "übergeordnete" Landtage und der Bundestag entfallen. Entscheidungen zu landesweiten oder gar außenpolitischen Belangen werden in den Kommunalparlamenten gefällt, und danach wird eine "Abstimmung" unter ihnen erfolgen.

Selbstverständlich bedarf ein neues System der politischen Ordnung im Lande weiterer und vor allem tiefergehender Erörterungen, die hier jedoch nicht nur der damit verbundenen zu großen Fülle des Textes wegen unterbleiben, sondern auch, weil es zunächst einmal um einen Gedankenanstoß geht, der aufzeigen soll, was es bedeutet, über "grundlegende" Verbesserungen unserer gesellschaftlichen Umgebungsbedingungen nachzudenken (Demjenigen, der daran interessiert ist zu erfahren, wie ein Konzept der direkten Demokratie ausgestaltet sein kann, sei die Schrift "Die Pyramide auf den Kopf stellen" zum Lesen empfohlen). Herauszustreichen ist nämlich Folgendes: Jedem Versuch, "grundlegende" Veränderungen herbeizuführen, muss das Bewusstsein dafür vorangeschaltet sein, dass die Notwendigkeit besteht, Korrekturen anzubringen, und dass Systeme sich nicht "reparieren" lassen, wenn wesentliche Bestandteile des Systems den Bedingungen, wofür das Ganze eingerichtet ist, nicht entsprechen. Genau dies aber äußert sich in der Erfahrung, dass "unsere Demokratie" und die der meisten anderen sich mehr und mehr autokratischen Verhältnissen annähern.

Der Beitrag erschien auch auf: zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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