Nuit debout: Wir dürfen das nicht ignorieren!

Protest Es ist einfach, Menschen lächerlich zu machen, weil sie ohne straffe Organisation protestieren. Wir sollten aber die Chance nutzen, rechtzeitig Lösungen zu finden.

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Demonstranten in Paris
Demonstranten in Paris

Foto: PHILIPPE LOPEZ/AFP/Getty Images

"Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung [nach 1945], als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt. […] Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu entscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben es nicht immer nur mit einer kleinen Oberschicht zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres verstehen. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in der Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. 'Ohne mich' ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den 'Ohne mich'-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhandengekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement."

Aus dem Aufruf "Indignez-vous!" – "Empört Euch!" von Stéphane Hessel, den er im Oktober 2010, im Alter von 93 Jahren (!), veröffentlichte.

Die "Ohne mich"-Typen, vielleicht noch deutlicher die „Ist mir doch egal“-Typen, geben in unserer sogenannten Ersten Welt den Ton an und haben sich leider auch dort breitgemacht, wo kritischer Geist vorherrschen sollte: in den Reihen derer, die einst als Vertreter der "Vierten Gewalt" angesehen wurden. Dieser Rückschritt ins wilhelminische Zeitalter, als man Majestätsbeleidigung unter Strafe stellte und Zensur zwar die Presse bedrohte, aber kaum angewendet werden musste, weil die Schere bereits in den Köpfen der meisten Journalisten steckte. Nur wenn den Mächtigen, auch den "demokratisch legitimierten", ein Spiegel vorgehalten wird, der sie zu erkennen zwingt, wie hässlich sie zuweilen aussehen, werden sie sich kritischen Fragen stellen. Dieses notwendige Regulativ, das fortwährende Überprüfen und Abgleichen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft macht es überhaupt erst möglich, dass viele unterschiedliche Menschen friedfertig zusammenleben und grobe Fehlentwicklungen korrigiert werden können. Die Konzentration von Geld und Macht jedoch, die die "Besserverdienenden" geschaffen haben, indem sie unter dem Siegel "Freie Marktwirtschaft" eine Art kollektiven Egoismus als Generalmaß für den gesellschaftlichen Umgang miteinander einführten, hat zu einer lähmenden Atmosphäre geführt, in der jede systemkritische Stimme zur Äußerung von "Underdogs" verkümmert. Die nimmt man kaum wahr, grenzt sie aus oder belächelt sie allenfalls mitleidig. Ausreichend Brot für die Meisten und Talkshows für die geistig Trägen erzeugen ein Gefühl des Wohlbefindens und simulieren Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen: „Alles ist gut.“ So eingelullt, sind die meisten Bürger im westlich-kapitalistischen Einflussgebiet förmlich programmiert, jedweden Versuch, Änderungen vorzunehmen, reflexartig abzuwürgen. Die vielen "Mir egal"-Typen verschaffen den Vertretern des "Establishments" die Freiheit, nach ihrem Gutdünken zu handeln, und erlauben ihnen, keine Rücksicht auf solche Bedürfnisse des Allgemeinwohls nehmen zu müssen.

Nur wenn man sie zu erkennen zwingt, wie hässlich sie zuweilen aussehen, werden sie sich kritischen Fragen stellen

Stéphane Hessel (1917–2013) hatte nie "ohne mich" oder „ist mir egal“ gesagt, wenn es darum ging, bestehende Verhältnisse daraufhin abzuklopfen, ob sie den Anforderungen an ein Leben unter Einhaltung der Menschenrechte und der Menschenwürde genügten oder ob dem Gemeinwohl die gebührende Beachtung geschenkt wurde. Dieser Mann, der nicht nur ein brillanter Intellektueller war, sondern der sich auch "praktisch" einmischte, beispielsweise, als er während des Krieges im französischen Widerstand kämpfte und als er später als französischer Diplomat an der Gestaltung internationaler Verträge mitwirkte, dieser Mann wendet sich am Ende seines langen Lebens fast händeringend an die Jugend und fordert sie auf, sich zu empören. Denn er hat erfahren müssen, dass er im Zeitalter des Wirtschaftswunders ein einsamer Rufer war, den nur Wenige hörten, und er sieht, dass die große Masse seiner und der folgenden Generation, die inzwischen satten Bürger Europas, den Bezug zu den Gräueln der Nazizeit verloren hat. Vergessen scheint: Die Katastrophe "Drittes Reich" konnte nur durch einen brutalen Krieg überwunden werden, und ihre Ursachen lagen ganz wesentlich darin, dass vorher zu viele Menschen "mir egal" gesagt hatten. In seinem Aufruf, als dessen Urheber wir einen mit Feuereifer für eine Erneuerung der Gesellschaft streitenden Jüngling und keinen Greis vermuten, lässt er aber auch durchblicken, dass er die Bemühungen der Generation, die derzeit das politische Geschehen bestimmt, für gescheitert hält. Seine ganze Hoffnung setzt Hessel deshalb auf die heute Heranwachsenden, von denen er annimmt, dass sie sensibel genug sind, um die Gefahren zu erkennen, die die Gleichgültigkeit der Vielen und die Macht der Wenigen in sich bergen.

Politik ist nicht Sache von Profis, sondern sie betrifft alle!

Seit Ende März dieses Jahres treffen sich regelmäßig gegen Abend junge Menschen in Paris (inzwischen auch in anderen französischen Städten) auf dem Platz der Republik, wo sie unter dem Wahlspruch "Politik ist nicht Sache von Profis, sondern sie betrifft alle!" bis weit in die Nacht "aufrecht" diskutieren und streiten. Es lohnt sich diesen Protest genauer zu betrachten, der zwar spezielle Zustände in Frankreich anprangert, aber doch auch beispielhaft für die Zustände in vielen europäischen Staaten ist. Es ist ein Protest, der noch – so wie auch eindringlich von Hessel gefordert – gewaltfrei abläuft. Alle auf dem Platz haben Rederecht, allen wird zugehört, und man antwortet, auch wenn es sich um schwerverständliche Äußerungen handelt. Anlass für die von keiner Institution vereinnahmte "Veranstaltung" war die Ankündigung des französischen Präsidenten François Hollande mit Einschnitten ins Sozialrecht die miese Beschäftigungslage in Frankreich zu bekämpfen. Dort finden immerhin 11 Prozent der Erwerbsfähigen und 25 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit, wobei man, sobald die geschönten offiziellen Statistiken entfärbt sind, von einer noch weit größeren Zahl Arbeitsloser ausgehen muss. Das Problem ist gravierend und hat das Zeug, die französische Gesellschaft in Aufruhr zu versetzen; doch ob das "Nachjustieren" von gesetzlichen Vorgaben die erhoffte Wirkung erzielt, darf getrost bezweifelt werden. – Die mittlerweile mehreren Tausend junger Leute, die sich trotz kühlen Wetters halbe Nächte im Freien öffentlich empören, werden von den Politfunktionären mitfühlend belächelt, aber nicht ernstgenommen. Und die meisten "Medien" prophezeien ihnen einen kurzen Frühling, weil sie bei ihnen jegliche Organisation und Struktur vermissen. Das ganze Theater werde einem Ermüdungsprozess erliegen und sich sozusagen selbst zerlegen. Eigentlich lohne es sich gar nicht, näher auf die ohnehin utopischen Forderungen einzugehen, denn man könne am Schicksal vieler anderer "Graswurzelbewegungen" ablesen, wie wenig Wirkung solche Aktionen entfalteten und wie schnell sie wieder in der Versenkung verschwanden. Wir müssen daher von einer unerhörten Arroganz sprechen, wollen wir charakterisieren, welche Gesinnung hinter den Reaktionen der etablierten Cliquen im Lande steckt, seien sie politischen oder medialen Ursprungs. Weil die Protestbewegung, die Empörten keine Macht besitzen, bei derzeit herrschenden politischen Spielregeln Änderungen zu erreichen, werden die Unzufriedenheit und Kritik ignoriert. Mal wieder werden die Proteste auf den aktuellen Anlass reduziert und die Aktionen der Teilnehmer argwöhnisch beäugt, da ein Ausufern in gewalttätige Übergriffe auf die "friedliche" Umgebung befürchtet, ja womöglich erhofft wird, um den Einsatz von Polizeigewalt zur Beendigung des Spuks zu rechtfertigen. So ist wohl damit zu rechnen, dass die "Mir egal"-Typen recht bald von dem Ärgernis befreit sein werden, sich mit den Protesten auseinandersetzen zu müssen.

Wie, bitte sehr, soll man sich vorstellen, dass sich durch diese Maßnahme die Aussichten auf Beschäftigung bessern?

Das ist ausgesprochen bedauerlich; denn es lohnt sich, den Beweggründen der jungen Leute, nicht nur der in Frankreich, Aufmerksamkeit zu widmen und hinter den Kulissen nachzuschauen, woher ihr Unmut rührt und warum sie sich empören. Zunächst ist tatsächlich der direkte Anlass zu nennen, der nicht einfach als eine Ablehnung von Maßnahmen zur Kürzung von Sozialleistungen zu verstehen ist, sondern der in Verbindung zu seinen Folgen für viele, sehr viele Menschen gestellt werden muss, die unter sogenannten prekären Bedingungen leben. Diese Menschen müssen, wenn die Kürzungen der Sozialausgaben wie geplant umgesetzt werden, auf genau den Teil ihrer kargen Einkünfte verzichten, der ihnen bisher das Überleben sicherte. Dazu ein Beispiel: Viele Menschen werden mittlerweile nicht fortwährend, meist nicht mal mehr ganzjährig angestellt, sondern nur projektbezogen. Das betrifft nicht nur die als Exoten geltenden Künstler wie beispielsweise Filmschaffende, für die man sich daran schon gewöhnt hatte, sondern auch Lehrer und Wissenschaftler oder etwa Architekten und viele Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Ihre Einkünfte reichen zum Bestreiten des Lebensunterhaltes sehr oft nicht aus, weshalb sie über eine spezielle Versicherung Ausgleichszahlungen erhalten, die aus Steuermitteln finanziert werden. Das geplante Gesetz zur Minderung der Sozialausgaben sieht nun vor, diese Zahlungen drastisch zu kürzen. – Wie, bitte sehr, soll man sich vorstellen, dass sich durch diese Maßnahme die Aussichten auf Beschäftigung bessern? Werden diese Menschen nun fest angestellt? Werden nun neue Jobs „entstehen“? – Ähnliche Einschnitte sind im Rentensystem vorgesehen, wo denen, die schon jetzt kaum davon leben können, die Bezüge gekürzt werden sollen, während die Kosten für Wohnung, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenversicherung und Nahrung weiter steigen. Das heißt, ganz im Gegensatz zu "Klagen auf hohem Niveau", wie in vielen Kommentaren behauptet, handelt es sich für die Betroffenen solcher Kürzungen um die Gefährdung der nackten Existenz und für die Jüngeren um das Vernageln ihrer Zukunftsperspektive. Damit die über alles gehobene "Haushaltssanierung" vorangetrieben werden kann und damit angeblich auch der Schuldenberg zu schrumpfen beginnt, sollen ausgerechnet diejenigen Opfer bringen, die einen Ausgleich der zukünftig fehlenden staatlichen Unterstützung aus privaten Mitteln gar nicht leisten können. – Das allein liefert genügend Grund für Empörung und sorgt für sozialen Sprengstoff, der sogar ganz plötzlich, durch ein paar Funken ausgelöst, explodieren könnte.

Wir sind mehr wert als das!

Doch ein weiterer Wahlspruch der Protestierer auf dem Platz der Republik in Paris führt uns auf eine wichtigere Spur des Unmuts: "Nous valons mieux que ça!" – "Wir sind mehr wert als das!" (was ihr uns als Almosen zugesteht) steht auf vielen Plakaten, die dort gezeigt werden. Hierin kommt zum Ausdruck, was wahrscheinlich der wesentliche Beweggrund für die Proteste ist: Vielen Menschen, und nicht nur denen, die nachts protestieren und diskutieren, wird nämlich nach und nach klar, die Leistungskürzungen, die man ihnen zumutet, sind zu einem erheblichen Teil dem Umstand geschuldet, dass die "Wohlhabenden" und ihr Kapital geschont werden sollen, wenn es um Kosten der gesamten Gesellschaft geht. Mit dieser Einschätzung liegen sie wohl nicht falsch. Tatsächlich können wir feststellen, dass immer wieder schlicht behauptet wird, diese Wohlhabenden seien die "Leistungsträger" der Wirtschaft und sorgten dafür, dass "der Laden brummt", und daraus werden für sie geltende Privilegien abgeleitet. Die vorgeblich zwingende Abhängigkeit einer florierenden Wirtschaft von den "reichen Kapitalgebern" ist aber nur das Ergebnis Jahrzehnte wirkender Propaganda und hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Denn Leistung in der modernen arbeitsteilig organisierten Gesellschaft ist stets das Resultat der Zusammenarbeit Vieler, wozu jedoch die abhängig Beschäftigten den weitaus größten Teil beitragen. Der fraglos erforderliche Einsatz von Kapital wird, und zwar absichtsvoll, reichlich überschätzt, zumal Regierungen und Zentralbanken Geld wie aus einer ewig sprudelnden Quelle schöpfen, aus dem Nichts nämlich, und nur Arbeit (körperliche wie geistige) "reale" Leistung erzeugt. Das heißt, es geht um die Wertschätzung von Arbeit im Vergleich zum Einsatz von Kapital, dem man zwar zuschreibt, es „arbeite“ ebenfalls, tatsächlich aber erfüllt das Kapital nur eine Hilfsfunktion. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Wertigkeit der Arbeit im Vergleich zu der des Kapitals führt wahrscheinlich ins Uferlose, aber sie zeigt zumindest, dass nicht die eine Produktivkraft über die andere zu erheben ist.

Leistung in der modernen arbeitsteilig organisierten Gesellschaft ist stets das Resultat der Zusammenarbeit Vieler

In aller Öffentlichkeit konnte man im Verlauf der sogenannten Finanzkrise nach 2008 weltweit Folgendes beobachten: Die vehementesten Verfechter des Prinzips der freien Marktwirtschaft, die "Finanzdienstleister", haben in dem Moment, wo sie an ihren Fehlleistungen so grandios zu scheitern drohten, nach staatlicher Hilfe gerufen und diese auch erhalten, und zwar mehrere Billionen(!) Euro. Das von ihnen gepredigte marktwirtschaftliche System funktioniert aber nur, wenn derjenige, der scheitert, auch "vom Markt verschwindet"; man sagt, er muss pleitegehen können. Doch die selben Leute, die unter Hinweis auf die "Gesetze des Marktes" verlangen, dass Menschen für Hungerlöhne schuften, wenn es die "Marktlage" erfordert, lassen sich, um das eigene Scheitern abzuwenden, vom gemeinen Steuerzahler ihre Vermögen sichern. Die Frage, ob es in den Jahren nach 2008 "aus übergeordneten Gesichtspunkten" erforderlich war, dass Regierungen und Zentralbanken mit unvorstellbar hohen Summen einsprangen und damit das Finanzsystem retteten, ist in einem anderen Zusammenhang zu diskutieren; aber hier festzuhalten bleibt dies: Das gesamte private Geldvermögen in der "Ersten Welt" wäre verloren gegangen, hätte man die "Gesetze des Marktes" wirken lassen und keine „Sozialleistungen“ an die Geldinstitute gezahlt!

Es geht auf dem Platz der Republik also sehr viel mehr um die grundlegende Bewertung der Zukunftsaussichten einer Jugend, die zu erkennen beginnt, dass ihre Eltern und Großeltern dabei sind, ihnen die Basis für ihre Existenz zu ruinieren und die Ressourcen ihres Planeten "aufzufressen". Diese Eltern-Generationen sind bestrebt, das Wohlleben der Heutigen, und zwar nur sehr Weniger in einem kleinen Teil der Welt, rücksichtslos auf Kosten der Natur, der Mehrheit der Armen und der Zukünftigen noch auszubauen, wenigstens aber zu erhalten. Den jungen Leuten in Frankreich schwant, dass die Fortsetzung der Lebensweise, wie sie sich in den vergangenen 70 Jahren in der "Ersten Welt" etablierte, ihnen die Chance auf ein menschenwürdiges Dasein raubt. Darum geht es, wenn die Parole ausgegeben wird, "wir sind mehr wert als das!" Es geht um die Strukturen, die das Zusammenleben auf einem übervölkerten Planeten regeln sollen. Wer, wie es viele Beobachter und Politiker in Frankreich, aber auch bei uns, tun, die Protestgründe der "Nuit debout"-Proteste nur auf den Unmut über eine klägliche "Sozialreform" der Regierung zurückführt, der übersieht oder verdrängt, wie viel auf dem Spiel steht, wenn die Nöte der Jugend nicht ernstgenommen werden. Es mag sein, oder es ist sogar zu befürchten, die Proteste werden versiegen, und die französische Regierung wird mit den Notstandsvollmachten, die sie sich nach den Terroranschlägen im vergangenen November erteilen ließ, für "Ruhe und Ordnung" sorgen. Doch wir dürfen uns nicht wundern, wenn die berechtigte Empörung, die ja mit der Räumung von Protestplätzen nicht verfliegt, eine Radikalisierung bewirkt und genau das, was Stéphane Hessel auch zu lernen beschwört, die Gewaltlosigkeit, unter die Polizeiknüppel gerät und auch die Protestierer knüppeln.

Doch wir dürfen uns nicht wundern, wenn die berechtigte Empörung, die ja mit der Räumung von Protestplätzen nicht verfliegt, eine Radikalisierung bewirkt

Wie können wir die Forderung Hessels nach Gewaltlosigkeit beachten und trotzdem Druck auf die Machthaber in Politik und Wirtschaft ausüben? In Europa (zumindest in den meisten Ländern der EU) können wir davon ausgehen, dass der sogenannte zivile Ungehorsam dann, wenn er von einer hinreichend großen Menge Leuten betrieben wird, den Regierenden einiges Feuer unter dem Stuhl entfacht. Denn die Funktionäre der Parteien-Demokratien fürchten nur eins, nicht wiedergewählt zu werden. Und in dem Augenblick, wo sie, ausgelöst durch massiven Ungehorsam des "Wahlvolks", erkennen, dass ihre Karriere gefährdet ist, knicken sie in der Regel ein. Es gibt ein sehr frisches historisches Beispiel für den Erfolg des zivilen Ungehorsams, sogar unter diktatorischen Verhältnissen: die Ereignisse in der DDR im Sommer und Herbst 1989. Da mussten selbst die verbohrtesten Apparatschiks ohnmächtig zusehen, wie ihnen das Volk im buchstäblichen Sinne des Wortes davonlief, und zwar in zwei Richtungen: nach draußen in die "sozialistischen Bruderstaaten", von dort weiter in den Westen, und nach drinnen auf die Montagsdemonstrationen. So mancher Arbeitsplatz blieb leer. Die mächtige Stasi, die Volkspolizei und die Nationale Volksarmee (die auf Einsätze im Inneren vorbereitet war) erstarrten wie das Kaninchen vor der Schlange, als ihnen der zivile Ungehorsam der Mehrheit der Bevölkerung den Teppich unter den Füßen wegzog. Das war ein Beleg für den Erfolg von Druck unter Achtung des Prinzips der Gewaltlosigkeit. – Selbstverständlich haben damals noch andere Faktoren eine Rolle gespielt, die zur sogenannten Wende beitrugen. Insbesondere drohte der wirtschaftliche Kollaps, nicht nur in der DDR, sondern vor allem in der Sowjetunion, wodurch es den Machthabern dort unmöglich wurde, ihr Imperium mit den "klassischen Mitteln der Repression" weiterhin zusammenzuhalten. Aber wir können unterstellen, dass die Führung der SED den entscheidenden Stoß vom gewaltlos vorgetragenen massiven Ungehorsam der Bürger ihres Staates erhielt.

Wenn man historische Vergleiche anstellt, lassen deren Ergebnis in der Regel keine direkte Übertragung der Erkenntnisse zu. Doch es gibt eine historische Konstante, das menschliche Wesen nämlich, das zwar den Veränderungen des Erbguts unterliegt, die aber nur sehr langfristig wirken und hier zu vernachlässigen sind. Wir dürfen davon ausgehen, dass das Wesen Mensch sich in den vergangenen Jahrhunderten nicht erkennbar wandelte. Und dies wiederum erlaubt den Schluss, dass Menschen heute auf bestimmte Einflüsse aus ihrer Umgebung in sehr ähnlicher Weise reagieren wie ihre "Artgenossen" einige Generationen vorher. Auf die Situation der sich bei uns empörenden Jugend bezogen, heißt das, sie sehen sich trotz des von riesigen Werbetafeln auf sie herniederstrahlenden Wohlstands vor einer dunklen Zukunft, die ihnen das Vertrauen darein raubt, sie könnten ein lebenswertes Dasein erwarten. In der Psychologie spricht man vom Urvertrauen, das jeder Mensch braucht, um seinen Lebenswillen zu entwickeln; und es steht zu befürchten, dass vielen Jugendlichen heute dieses Urvertrauen fehlt, was sie in einen Zustand des Gleichgewichtsverlustes versetzen kann. Solch seelischem Druck sahen sich sehr viele Menschen in Europa, verstärkt in Deutschland, nach dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt, und sie flüchteten in Panik in die Arme der extremistischen Rattenfänger links und rechts. Nur so lässt sich erklären, dass "gut gebildete" Bürger denjenigen nachliefen, die mit ihrem wirren "Führer" den Weg zum Heil zu kennen vorgaben und am Ende aus sehr vielen "braven" Deutschen Massenmörder machten. Aber unterstellt, die Zeitgenossen wären "recht bei Sinnen" gewesen, ein Hitler hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt, die Zustimmung der Mehrheit der Deutschen zu erringen! – Wir müssen die Gräuel der Nazizeit in den Zusammenhang mit der "seelischen Not" stellen, in der sich vor allem die Jüngeren befanden, die noch mit Hurra in den Ersten Weltkrieg gezogen waren und völlig desillusioniert daraus zurückkehrten; und wir müssen beachten, dass ihnen das Urvertrauen in die Chance auf ein halbwegs würdiges Leben genommen war.

Es steht zu befürchten, dass vielen Jugendlichen heute dieses Urvertrauen fehlt

So wenig die äußerlich erkennbaren Bedingungen des heutigen Daseins in Europa mit denen der Zeit "zwischen den Kriegen" übereinstimmen mögen, es gibt Parallelen, die die Sorge begründen, dass abermals eine Jugend abdriftet in die Fänge ideologischer "Hassprediger". Denn wenn es nicht gelingt, vor allem jungen Menschen eine Perspektive zu weisen, statt sie an den Rand der Wohlstandgesellschaft zu drängen, dann werden sich viele von ihnen nicht darauf beschränken, Empörung zu zeigen und gewaltfrei zu protestieren. Sie werden in Panik verfallen und nach jedem Rettungsring greifen, der ihnen zugeworfen wird. Eine wirklich erfolgreiche Rettung wird aber nur dann gelingen, wenn die Gründe für die Panik beseitigt werden und nicht, wenn ideologische oder religiöse Beruhigungspillen verteilt werden oder versucht wird, im Wege von Verwaltungsmaßnahmen "nachzujustieren". Rechtsaußen haben bereits einige Scharfmacher eine ganze Menge "Unzufriedener" eingesammelt, und die Gruppen, die vorgeben, sich dem islamistischen Kampf gegen "westliche Dekadenz" verschrieben zu haben, finden schon jetzt reichlich Zulauf und sogar „Nachschub“ für ihre Selbstmordattacken – auch unter Jugendlichen, die gar nicht muslimisch erzogen wurden. Sie meinen aber, sie könnten ihren Protest gegen "die da oben" mit dem Dschihad, dem "Kampf auf Gottes Weg", in die Welt hinausschreien. – Sobald man den Gründen nachgeht, die den verschiedenen Protestbewegungen die Nahrung bieten, wird man erkennen, dass allen eine gefährliche Perspektivlosigkeit gemeinsam ist, die sich – und das auch bei allen – auf folgende "Urheber" stützt: Erstens ist zu nennen die extreme und weiterwachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich sowohl innerhalb der meisten staatlich organisierten Gesellschaften als auch innerhalb der "Staatengemeinschaft" auf dem Globus. Die Proteste drücken den Unmut darüber aus, dass der steigende Reichtum seine Schubkraft aus der Ausbeutung der Vielen durch die wenigen "Kapitalisten" erhält und die Konzentration des Reichtums immer fortschreitet. Diese Entwicklung ist im Übrigen so offensichtlich, dass sie eigentlich jedermann mit Sorge erfüllen müsste! – Zweitens verweisen die Protestierenden auf die Abhängigkeit der politischen "Eliten" von den "Wirtschaftsbossen", die, wie uns im Zusammenhang mit der "Abgaskrise" in Deutschland gerade anschaulich vorgeführt wird, ihre Entscheidungen nach deren Bedürfnissen und nicht nach denen der Bürger ausrichten. Es wird von den hehren Werten der Demokratie geschwärmt, praktisch aber "Volkes Herrschaft" ausgehebelt. –Und drittens stützt sich der Unmut auf die durchaus nachvollziehbare Ahnung, die Ordnung innerhalb der zwar nunmehr "digital vernetzten" aber doch nicht von Gemeinsamkeit getragenen menschlichen Gemeinschaft sei von Grund auf marode und müsse ersetzt werden durch ein neues System, das die Belange möglichst aller Menschen ins Zentrum seines Regelwerkes stellt. – Doch den meisten Protestierenden scheinen die Bedingungen der sie beherrschenden Zwänge nicht ausreichend klar zu sein, weshalb es ihnen nicht möglich ist, konkrete Vorschläge für den Ersatz des "alten Regimes" zu unterbreiten. Dieser Umstand zwingt sie, ihre Forderungen noch fast zusammenhanglos zu artikulieren; und das erleichtert es den "mir egal"-Typen, ihnen Weltfremdheit vorzuwerfen, die sie sozusagen von vornherein disqualifiziert.

Rechtsaußen haben bereits einige Scharfmacher eine ganze Menge "Unzufriedener" eingesammelt

Man sollte annehmen, dass die europaweit zu beobachtenden Gewaltexzesse von rechtsaußen und aus den Reihen der sogenannten Islamisten, aber auch die Tatsache, dass sich beispielsweise der Front National in Frankreich bereits auf 20 Prozent Stammwähler verlassen kann, einen genügend lauten Weckruf ausstoßen, der die behäbige "Mitte der Gesellschaft" aufschreckt. Doch die scheint in eine Art geistigen Winterschlaf verfallen zu sein, der sie in ihrer Wohlstandshöhle festhält. Und daraus leiten die etablierten Machthaber ab, sie seien „eigentlich“ im Besitz der Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, die schlaftrunken zu den Wahlen geht und ihnen ihr Mandat erteilt. Sie meinen deshalb auch, sich leisten zu können, die in ihren Augen wenigen protestierenden Unzufriedenen einfach zu missachten. Aus der Tatsache, dass die "mir egal"-Typen gar nicht bemerken, wie kritisch auch ihre Lage anzusehen ist, schließen die "Spitzen aus Politik und Wirtschaft" und mit ihnen die "Verlautbarungsjournalisten" des Mainstreams, sie brauchten sich nur der störenden Protestierer zu entledigen und der "schweigenden Mehrheit" ohne weitere Erklärung zu signalisieren, die von den Regierenden bestimmte Politik sei ganz in deren Sinne. Eine ernste Prüfung auf Richtigkeit ihrer Behauptungen brauchen die Vertreter des Establishments nicht zu befürchten; denn ihre geistig trägen Wähler und die von der Werbewirtschaft zu unkritischer Haltung gedrängten Journalisten der Massenmedien empfinden kritische Nachfrage nur als Störung. Die Methode des Wegschauens und die des gewaltsamen Wegschaffens der Missbilligten (etwa indem Protestveranstaltungen aufgelöst werden, aber auch wenn Obdachlosen und Bettlern „Platzverbot“ erteilt wird oder Flüchtlinge an sogenannten Außengrenzen abgewehrt werden) mag die Stimmung in der Bevölkerung kurzfristig aufhellen, sie trägt aber nicht nur nicht zur Lösung von Problemen bei, sondern sie verstärkt die Gefahren noch, die sich aus den versteckten Missständen ergeben. Auch für diesen Zusammenhang gibt es einige eindrucksvolle historische Beispiele, worunter eines hervorzuheben ist: Die europäischen Kolonialmächte haben ihren leichtgläubigen Bevölkerungen das brutale Vorgehen in ihren Kolonien mit der Behauptung zu erklären versucht, die dort lebenden Menschen seien rassisch geringwertiger einzustufen; man hat sie quasi weggeschafft aus dem Bereich, in dem die Menschenrechte gelten. (Noch bis Ende des Zweiten Weltkriegs galt für die französischen Kolonien der sogenannte "Code de l'indigénat" – womit die Unterwerfung der "Eingeborenen" als "die einzig mögliche Politik" begründet wird, "wenn es um riesige koloniale Nutzungsgebiete geht, die von Millionen für unsere Zivilisation unempfänglichen Eingeborenen bevölkert sind", so beschrieben in einem Kommentar zum "Eingeborenengesetzbuch" aus dem Jahre 1923). Heute müssen wir die furchtbaren Folgen der seinerzeit angeblich nur zum Vorteil der eigenen und infamerweise angeblich auch zum Vorteil der fremden Völker betriebenen Kolonialherrschaft erkennen, beispielsweise das Elend im Nahen Osten und in Afrika; obgleich diese Erkenntnis wohl auch daher rührt, dass diese Not Menschen dazu zwingt, bis nach Europa zu flüchten, also wortwörtlich in unser Blickfeld gerät.

Die Methode des Wegschauens und die des gewaltsamen Wegschaffens der Missbilligten mag die Stimmung in der Bevölkerung kurzfristig aufhellen

Aber wir können auch an einem aktuellen Beispiel ablesen, mit welchen Methoden den "Mir egal"-Typen Sand in die Augen gestreut wird, um ihnen den Blick für die Folgen politischer Machenschaften zu trüben: die Verhandlungen zum sogenannten Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP). In der öffentlich geführten Diskussion wird die Kritik an dem Vorhaben mit der Behauptung abzuwürgen versucht, die Vorteile für die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen seien so bedeutsam, dass die Einwände wie Mäkeleien an Nebensächlichkeiten behandelt werden müssten. Obwohl schon mehrfach, und aktuell in Hannover wieder, Zigtausende auf den Straßen ihren Protest dagegen anmeldeten, wird deren Unmut von den Befürwortern des TTIP schlicht als unbegründet abgetan, Gegenargumente werden missachtet. Dazu seien hier drei Zitate angeführt.

Erstens: Die EU-Handelskommissarin, Cecilia Malmström, äußert sich so: "Ehrlich gesagt finde ich es ein wenig seltsam, dass der größte Widerstand gegen das TTIP-Abkommen ausgerechnet aus Deutschland kommt, einem wirtschaftlich sehr erfolgreichen Staat." Man möchte erwidern: Eben das müsste zum Nachdenken darüber anregen, ob die vorgetragenen Gründe für den Abschluss des Vertrages wirklich so überzeugend sind wie behauptet. Und: Wer kritische Betrachtungen für überflüssig hält, der setzt sich dem Verdacht aus, dass er entweder ungeprüft nachplappert, was andere vorgeben, oder dass er bewusst zu täuschen versucht.

Zweitens: Der US-Präsident Barak Obama meint: "Einer der besten Wege, das Wachstum zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen, ist die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft." Er bedient sich der üblichen Methode, "ex cathedra" (ursprünglich: vom Bischofssitz in Rom aus) zu verlautbaren, was angeblich nicht erst bewiesen werden muss. Denn abgesehen davon, dass nicht einmal als gesichert gelten kann, Wachstum sei grundsätzlich von Vorteil, wird als zwangsläufige Folge ungeprüft angenommen, die "Handels- und Investitionspartnerschaft" fördere Wachstum und Arbeitsplätze (der Hinweis auf Arbeitsplätze darf nie fehlen!); kritisches Hinterfragen lässt jedoch den Verdacht aufkommen, dass beide, Wachstum und Arbeitsplätze, eher gefährdet sind.

Drittens: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel trägt Folgendes zur Diskussion bei: "Wir gehen nicht hinter unsere Standards zurück, sondern wir sichern das, was im Umweltbereich, im Verbraucherschutzbereich heute in Europa gilt." Sie bleibt sich insofern treu, als ihre unpräzise Sprache verrät, dass sie eher verschleiern als aufklären will, und sie predigt etwas, was für zukünftige Entwicklungen eher schädlich sein muss, indem sie für gut hält, dass heute geltende Standards nicht geändert, nicht an sich ändernde Erkenntnisse angepasst werden können. Sie erklärt etwas zum Vorteil, was tatsächlich ein Nachteil ist.

Daher ist jetzt ziviler Ungehorsam angebracht, um Schlimmes zu verhindern

Von den Befürwortern werden sehr vehement nur behauptete Vorteile ins Feld geführt und Nachteile unterschlagen. Das beruhigt die "Mir egal"-Typen. Vor allem aber wird eins erreicht: Die größte Gefahr, die von dem Abkommen ausgeht, bleibt kaum erwähnt: Der Hauptzweck des TTIP ist nämlich, Handel und Wandel der multinationalen Konzerne dem staatlich regulierten Einfluss zu entziehen! Die Wirtschaftsverbände, deren Meinungsbildung praktisch einem Diktat der Konzerne unterliegt, werden aber nicht müde zu behaupten, TTIP nütze vor allem dem deutschen Mittelstand, was eine dreiste Lüge ist. „Der Mittelstand“, das sind mittlere und kleine Unternehmen, die überhaupt nicht über die Mittel verfügen, um im Ausland große Investitionen zu tätigen, die mithilfe von TTIP vor staatlichen, also gesamtgesellschaftlichen Interessen "geschützt" werden sollen. – Das Thema TTIP soll hier aber nicht weiter erörtert werden, sondern es soll nur als Beispiel dafür angeführt werden, dass die Methode der politischen Indoktrination der "schweigenden Mehrheit" wahrscheinlich wieder einmal eine Entwicklung voranbringt, deren negative Folgen zwar erst spätere Generationen verspüren werden, die aber durchaus jetzt schon zu erkennen sind, wenn man denn hinsieht. Daher ist jetzt ziviler Ungehorsam angebracht, um Schlimmes zu verhindern, um das Nachdenken auch bei den „Mir egal“-Typen anzufachen, um zu zeigen, wie viel Unzufriedene es gibt.

Es wäre zynisch, abzuwarten, bis die Reaktionen der "Betrogenen", da ihr friedlicher Protest nicht gewürdigt wird, in Gewalt ausartet, und dann der "Druck von der Straße" Wirkung zeigt. Darin verbirgt sich eine große Gefahr: Eine emotional so weit aufgeladene Stimmung, in der der Einsatz von Gewalt als probates Mittel des Protestes angesehen wird, ist gleichzeitig der Nährboden für Extremismus. So was hatten wir schon! Deshalb ist es angebracht, Protestbewegungen, wie sie sich derzeit auf dem Platz der Republik äußern, in eine "Grundsatzdebatte" zur gesellschaftlichen Entwicklung in Europa einzuschließen, und sie nicht als Aussätzige zu verbannen. Das setzt jedoch voraus, dass es eine solche "Grundsatzdebatte" überhaupt gibt. So bleibt nur die Hoffnung, die unterschiedlichen Signale des Unmuts, die aus der Bevölkerung zu vernehmen sind, geben immer häufiger Anlass zu zivilem Ungehorsam, und es macht sich die Erkenntnis breit, die vielfältigen Proteste entstammen einem geneinsamen Ursprung.

Mischt euch ein, empört euch!

Auch wenn es bei flüchtigem Hinsehen so scheint, als zeigten Unmutsäußerungen wie die der "Nuit debout"-Jugend, der "Brexit"-Befürworter, der Anti-TTIP-Aktivisten, der "Rechtspopulisten" und selbst der Schreihälse von Pegida keine Gemeinsamkeiten, so offenbart ein zweiter Blick, dass sehr wohl eine Ursache auszumachen ist, die für sie alle maßgeblich ist. Denn immer mehr Menschen bedrückt nicht nur das Gefühl, sie werden von ihren "politischen Führern" nur noch als Stimmvieh wahrgenommen, das an wichtigen Entscheidungen in der Gesellschaft gar nicht beteiligt wird, sondern auch die Erkenntnis, dass die Regierenden ihre Angelegenheiten nicht ansatzweise im Sinne des Gemeinwohls regeln. Daher bleibt nur zu wünschen, dass Stéphane Hesslers Aufruf auch bei den "mir egal"-Typen Gehör findet: "Mischt euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden." – Und hinzufügen sollten wir den Wahlspruch der Aktivisten von "Nuit debout": "Politik ist nicht Sache von Profis, sondern sie betrifft alle!"

Beitrag aus: zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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