Parteien ohne Volk, also was nun?

Demokratie Die große Zahl der Wähler ist ihnen abhanden gekommen. Wen und wessen Interessen vertreten sie überhaupt? Und brauchen wir Parteien für eine funktionierende Demokratie?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Ausdruck Volkspartei, mit dem sich in Deutschland CDU/CSU und SPD über Jahrzehnte hinweg schmückten, ist offenbar aus der Zeit gefallen. Denn das Hauptmerkmal, mit dem eine Partei den Titel Volkspartei führen durfte, die große Zahl der Wähler, die entweder der einen oder der anderen die Möglichkeit bot, eine Regierung anzuführen, ist ihnen abhandengekommen. Schlimmer noch: Ihre derzeit verbliebenen Wähler stammen hauptsächlich aus der Seniorenschaft, der Bürger über 65 Jahre, während die Jüngeren sich mehrheitlich anders entscheiden. Die Überlegung allerdings, ob Politik nicht ohnehin in erster Linie Politik für "das Volk", im Sinne von Allgemeinheit, zu sein hat und dass diese Politik nicht immer unmittelbar eine Mehrheit finden muss, bewegte und bewegt nur wenige Politiker und ihre Begleiter in den Reihen der Medien. Die "Wahlschlappen" der sogenannten Volksparteien haben deren Funktionäre nicht veranlasst, ihre "Politik" zu überdenken, vielmehr kleben sie an den alten Mustern des Politikbetriebes; gut zu beobachten an der Reaktion auf die sogenannten YouTuber vor der letzten Europawahl, die ihnen einen Spiegel vorhielten. Deren Kritik will man nun dadurch begegnen, dass man den Tonfall der Jungen zu kopieren versucht, wobei man der irrigen Annahme aufsitzt, es sei nicht die falsche Politik, sondern nur die Form des Ausdrucks, die es zu ändern gilt. Man will jetzt offensichtlich auch "der Jugend" nach dem Munde reden. – Ganz bestimmt ein Missverständnis, kann man da nichts machen?

"Warum, ist zu fragen, lassen, etwa in Deutschland, 'die Wähler' zu, dass die von ihnen in Amt und Würden gehievten Politiker sich um Bürgerbelange nur noch kümmern, wenn medial gebündelter Druck sie dazu zwingt? Wodurch, ist weiter zu fragen, entstand die häufig beklagte 'Politikverdrossenheit', die Gleichgültigkeit, mit der die meisten Menschen in den demokratisch regierten Ländern widerspruchslos hinnehmen, was ihnen die Mandatsträger vorsetzen? Und das selbst dann, wenn kritische Anmerkungen deutlich zu vernehmen sind; woraufhin diejenigen, die das hören, allerdings entschuldigend und manchmal resignierend bemerken: 'man kann ja sowieso nichts machen'."

Zitat aus dem Artikel "Außen rot und innen weiß – Gedanken zur Demokratie in unserer Republik"; veröffentlicht in ZEITBREMSE am 19.11.2018

Die CDU will mit Hilfe des parteinahen Vereins cnetz eigene YouTube-Stars aufbauen, die im Stile eines Rezo "wertkonservative" Ansichten unter die jungen Leute bringen sollen. Dieses Vorhaben kann man wohlwollend hilflos nennen; eigentlich ist es Ausdruck völliger Verkennung der Situation. Denn auch bei den dreißig bis sechzig Jahre alten Bürgern finden die ehemals großen Parteien keine Mehrheit (zusammen!); und denen wird man nicht unterstellen dürfen, dass sie die Sprache der unter Dreißigjährigen bevorzugen, wenn ihnen politische Programme erklärt werden sollen. Zum Tenor fast aller Statements des politischen Personals als Antwort auf die Video-Clips einiger (weniger) junger Leute gehörte die Behauptung, man habe die an sich richtige eigene Agenda nur nicht mundgerecht serviert, ihr Inhalt sei aber über jeden Zweifel erhaben. Mit Blick auf die schlechten Wahlergebnisse bei der Europawahl zeichneten sich die Reaktionen der meisten "Spitzenpolitiker" der Groko denn auch eher durch Ermahnungen an die Wählerschaft als durch Einsicht in eigene Fehlleistungen aus. Und die Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Andrea Nahles, trat nicht etwa aus Zerknirschung über eigenes Versagen zurück (im Gegenteil: sie wollte sich zunächst sogar unverzüglich wiederwählen lassen); vielmehr wich sie den Misstrauensbekundungen ihrer engsten Genossen in den Gremien der Partei. Zu beobachten ist mal wieder, dass das politische Personal in Deutschland – ausnahmslos rekrutiert aus Parteifunktionärskreisen – den Bezug zu den zukünftig zu lösenden Problemen verloren und sich in eine virtuelle Welt geflüchtet hat, in der man sich abgeschirmt vom Alltagslärm nur noch mit sich selbst befasst.

Man habe die an sich richtige eigene Agenda nur nicht mundgerecht serviert

Die ersten Kommentare der "Spitzenpolitiker" zu den Äußerungen des YouTubers Rezo anlässlich der Europawahl waren zum Teil üble Beschimpfungen, gepaart mit der Behauptung, das meiste seines Vortrags sei "Fake". Die aus der Hüfte geschossenen Herabwürdigungen verstummten jedoch schnell, nachdem sich herumsprach, dass viele Millionen sich das Video angesehen und positiv kommentiert hatten, und nachdem der Vorwurf, es handele sich im Wesentlichen um Unwahrheiten, nicht länger haltbar blieb, weil die präsentierten Fakten gut recherchiert und die Quellen dokumentiert waren. Ob dieser unbekannten Situation reagierten die gestandenen Politiker konfus, wobei die Parteivorsitzende der CDU den Vogel abschoss, als sie forderte, die Kommentare von Bloggern und YouTubern sollten vor Wahlen "reglementiert" werden. Da musste jedem Demokraten im Lande der Atem stocken! Wer die Meinungsäußerung zu politischen Themen einschränken will, verhöhnt unsere Verfassung und öffnet den autokratisch Gesinnten Tor und Tür! Und wenn die Parteivorsitzende der größten "Volkspartei" zur Zensur aufruft (sie nannte ihren Vorstoß nicht so, aber es ist tatsächlich eine Forderung nach Zensur), dann müssen wir höchst alarmiert sein. Erschrecken musste auch, mit welcher Gelassenheit solche Forderungen unter den Politikern diskutiert werden, wobei nun eine "Zensur light" ins Gespräch gebracht wird, da die immerhin deutlichen Proteste zu verbaler Mäßigung zwangen. Als Forderung zur Schaffung von "Regeln für die Verbreitung von Meinungen im Internet" soll das Vorhaben jetzt beschönigend umschrieben werden und einen andern Titel erhalten, damit die wahre Absicht im Nebel verschwindet. Und anschließend, ist zu befürchten, wird an einem entsprechenden Gesetz gearbeitet, das nach Abebben des medialen Rummels durch die Parlamente geschleust werden kann. Zu fragen bleibt nur, ob dies schon die Wende hin zum "Trumpismus" ist oder ob eine Chance besteht, den Abbruch des Experiments "zweite deutsche Demokratie" doch noch zu verhindern.

In der Berichterstattung geht es hauptsächlich um die Auseinandersetzungen unter den Parteien

Auf YouTube verbreiten vorrangig eher unpolitisch gesinnte Leute mehr oder weniger spaßige Unterhaltung und Werbung, und nur sehr wenige befassen sich ernsthaft mit politischen Themen. Deshalb ist es als übertrieben zu einzustufen, wenn jetzt von "den YouTubern" gesprochen wird, die sozusagen den politischen Standpunkt "der Jugend" im Lande vertreten; viel bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese Videos ein solch breites Echo fanden, nicht nur bei jungen Erwachsenen. Es wird dort zwar in einer Sprache vorgetragen, die Älteren ungewöhnlich erscheinen mag, die bei den Jüngeren aber längst zum Gewohnten zählt. Daher ist zu vermuten, dass nicht so sehr die neue Sprache bemerkenswert ist, sondern der Inhalt. Über den ist vor allem zu sagen, dass es weniger um parteipolitische Verlautbarungen, (in deren seltsamen Sprachduktus) geht, als vielmehr um aktuelle und vor allem über zukunftsbezogene politische Themen, an denen viele Menschen interessiert sind. Das wiederum ist insoweit neu, als der "Mainstream-Journalismus", im Parteiensystem gefangen, das Geschehen innerhalb der Parteien und die Äußerungen von Parteiführern als politisches Handeln ausgibt und Entwicklungen außerhalb dieses Dunstkreises eher unbeachtet lässt. In der Berichterstattung geht es hauptsächlich um die Auseinandersetzungen unter den Parteien und meist um Personal sowie insbesondere darum, wer gegen wen obsiegt, als würden Sportveranstaltungen kommentiert. Man kann das gut beim Hören und Sehen von Nachrichtensendungen erkennen, wenn man zum Beispiel den zeitlichen Anteil der Beiträge misst, die den Parteien und ihren Vertretern vorbehalten sind und worin im Grunde nur Propaganda betrieben wird; über weite Strecken werden unkritisch reine Verlautbarungen verbreitet (Der Vorwurf, die politisch aktiven YouTuber veröffentlichten nur Meinung und keine Fakten, wird damit zum Bumerang; und im Übrigen: Meinung ist eine wichtige Form des Dialogs unter "zivilisierten" Menschen). – Die versammelte deutsche Journalistenschar hätte vor Scham im Boden versinken müssen, als klar wurde, dass es eigentlich an ihr gewesen wäre, Missstände, wie sie nun von YouTubern öffentlich gemacht werden, aufzudecken und anzuprangern!

Nicht so sehr die neue Sprache ist bemerkenswert, sondern der Inhalt

Erfreulich viele Beiträge zu politischen Themen, die von parteiunabhängigen Netzaktivisten veröffentlicht werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben nicht nur Meinung verbreiten, sondern ihre Sorge um die Zukunft mit ganz konkreten "Sachfragen" verbinden. Und das ist für die Politfunktionäre und für die meisten Journalisten neu; offenbar aber nicht für die Wähler. Viele von ihnen, darunter auch Ältere, hegen seit geraumer Zeit den Verdacht, ihre Vertreter in den Parlamenten kümmerten sich nicht oder nur unzureichend um die wirklich wichtigen Probleme, was man übrigens daran erkennen kann, dass nicht nur die Jungen von Rezos Video angetan sind. – Leider läuft allerdings eine große Zahl der Unzufriedenen den rechten Rattenfängern nach und schenkt der bloßen Behauptung Glauben, Nationalisten und "EU-Skeptiker" würden die Interessen "des Volkes" besser vertreten als die "Etablierten". Für dieses Phänomen zeichnet eine zur Selbstverständlichkeit ausgewachsene Gewohnheit mitverantwortlich: Tief im Bewusstsein der meisten Bürger unserer Republik ist als Gewissheit verankert, das Spektrum der Parteien, die sich zur Wahl stellen, sei umfassend, bilde sozusagen alles ab, was politisch denkbar ist. Das heißt, wenn ihm eine bestimmte Partei nicht genehm ist, sei der Wähler verpflichtet, einer der übrigen Parteien seine Stimme zu geben, womöglich das "kleinere Übel" zu wählen (Aus dieser Überzeugung stammt die Forderung, es müsse eine Wahlpflicht geben). Von der weitverbreiteten Auffassung, dass das Wählen irgendeiner Partei unumgänglich sei – sozusagen das Wählen um des Wählens willen, profitieren derzeit die Grünen, obwohl sie den "Volksparteien", was die Plattheit ihrer Parolen und den Kampf um Posten angeht, in nichts nachstehen.

Beide Parteien der Groko zeichnen praktisch für alle politischen Entscheidungen in der Bundesrepublik verantwortlich

Die jetzt erkennbare Bewegung weg von den etablierten Parteien hat begonnen mit der Abkehr von den "Altparteien" der Bundesrepublik, die, und das zurecht, verantwortlich gemacht werden für den Zustand unseres Gemeinwesens – in den siebzig Jahren Bundesrepublik stellte die CDU 49 Jahre lang den/die Bundeskanzler/in, die SPD in den verbleibenden 21. Und beide Parteien der Groko zeichnen praktisch für alle politischen Entscheidungen in der Bundesrepublik verantwortlich. Doch stellt man dagegen, dass die übrigen Parteien keine anderen Wege aufzeigen, sobald sie innerhalb des Politikbetriebes „gewinnen“ wollen, dann müsste der nächste Schritt sein, den politischen Parteien insgesamt die Fähigkeit abzusprechen, die anstehenden Probleme zu lösen. Denn was bisher auch bei den politisch engagierten "YouTubern" noch nicht zum Ausdruck kommt, sind die entscheidenden Gründe für die Fehlentwicklung der vergangen siebzig Jahre. Dazu folgende Anmerkungen:

Die Gründungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik fielen zusammen mit der ersten Phase des Kalten Krieges. Sowohl die sogenannten westlichen Alliierten als auch die Sowjetunion stellten ihre Bemühungen um die Wiederherstellung staatlicher Ordnung in ihrem Besatzungsgebiet unter die Vorgabe, jede Entwicklung müsse zur Bewältigung des "Ost-West-Konfliktes" im jeweils gewünschten Sinne beitragen. Das hieß zweierlei: Erstens war wenig Zeit für gründliche Überlegungen hinsichtlich Art und Form der Einrichtung eines demokratischen Staatswesens; deshalb übernahm man, beziehungsweise man musste übernehmen, in beiden Staaten die bei den jeweiligen "Siegermächten" praktizierten Ordnungsprinzipien – im Westen die parlamentarische Demokratie und im Osten den Sozialismus stalinistischer Prägung. Und es war den Besatzungsmächten wichtig, dass eine Wiederherstellung der zentralistischen Machtstrukturen des Dritten Reiches ausgeschlossen wurde. Die Westmächte und die UdSSR bedienten sich dazu der Methoden, die sie bei sich zu Hause nutzten. In der BRD führte dies zum Mehrparteiensystem und zur föderalistischen Struktur mit Parlamenten und Regierungen in Ländern und im Bund, bei gleichzeitiger Übertragung des politischen Betriebes an Parteien; und in der DDR wurde die Sozialistische Einheitspartei als alleinherrschende Instanz eingesetzt, jedoch unter strenger Aufsicht Moskaus, gründend auf der Behauptung, "die Partei" sei kollektiver Ausdruck des politischen Willens der gesamten Bevölkerung. Das Machtzentrum lag in beiden deutschen Staaten von Beginn an bei den Parteiführungen – im Westen mehrerer und im Osten einer. Das dieser Tage zum siebzigjährigen Jubiläum viel gepriesene Grundgesetz sieht das zwar gar nicht vor; doch schon die Parteifunktionäre der ersten Stunde hielten sich nicht an Artikel 38 (1), der die Unabhängigkeit der Abgeordneten fordert ("nur ihrem Gewissen unterworfen"). Bereits mit der Aufstellung der Kandidaten für den ersten Bundestag waren es Pateigremien, die bestimmten, wer eine Chance erhalten sollte, Parlamentarier zu werden und überhaupt auf einen Listenplatz kam. Tatsächlich überträgt die Verfassung den Parteien aber lediglich die Aufgabe, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, mehr nicht! – Und zweitens provozierte die sich schnell herausbildende Allmacht der Parteien dazu, dass die Mandatsträger Berufspolitiker wurden, weil sie de facto weisungsgebunden waren, also abhängig Beschäftigte der Parteien. In der Praxis konnte niemand Politiker werden, der nicht "Angestellter" einer Partei war, auch wenn dies formal nicht so dargestellt ist! Dieses System wurde noch erweitert, und zwar dadurch, dass die Vergabe von wichtigen Jobs in den Ministerien und Behörden nach Parteiproporz erfolgt, so dass die Parteien sowohl die gesetzgebenden Organe als auch die Regierungsämter mit ihren Leuten besetzen können. Die Folge ist, heute werden die meisten Politiker, obwohl de facto weisungsgebunden und eigentlich Beschäftigte der Parteien, vom Steuerzahler bezahlt – mit der kuriosen Nebenwirkung, dass die "echten" Arbeitgeber für den Lohn der meisten ihrer Leute nicht aufkommen müssen.

In der Praxis konnte niemand Politiker werden, der nicht "Angestellter" einer Partei war

Die direkten Konsequenzen dieses Systems der Parteienherrschaft sind schon schlimm genug, weil beispielsweise die wichtigste Grundregel jedes demokratischen Staatswesens – die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative – durch den Einfluss der Parteien auf alle drei Säulen des Staates ausgehebelt wird. Demokratie kann aber nur praktiziert werden, wenn in jedem dieser Bereiche unabhängig von den anderen gehandelt wird, wobei es vornehmste Aufgabe der Parlamente ist, den Regierenden auf die Finger zu sehen (Das Rechtswesen ist zwar, noch, weitgehend unabhängig, doch die Richter werden von Parteigremien bestellt; und die Staatsanwälte sind dem Justizministerium gegenüber weisungsgebunden, also von Parteien gelenkt). – Die indirekten Folgen der Parteienherrschaft wirken auf das Prinzip Demokratie jedoch weitaus schädlicher. Da die Berufspolitiker ihre "Jobgarantie" nur von den Parteiführungen erhalten beziehungsweise da sie fürchten müssen, im Falle der Verweigerung von Gefolgschaft arbeitslos zu werden (sie werden nicht mehr aufgestellt), können ihre Führungen sie erpressen (übrigens sehr menschlich, hier erpressbar zu sein bzw. dieser Verlockung nicht zu widerstehen). Von diesen Abhängigkeiten machen die Parteien reichlich Gebrauch. Folglich marschiert eine Heerschar von braven Parteisoldaten im Gleichschritt mit; und nur unter denjenigen Parteimitgliedern, die ohne Amt sind, regt sich zuweilen Widerspruch, der gewöhnlich jedoch schnell "ausgebügelt" wird. Deshalb steht die Sorge um Posten und Privilegien auf der Prioritätenliste politischer Ziele ganz oben und legt nahe, dass die Frage, wer auf welche Position gehievt wird oder dort verbleiben darf, das Hauptaugenmerk der "politischen Beobachter" findet. Unsinnigerweise wird das oft als „Realpolitik“ beschrieben. In den Medien erfährt der Bürger dann, wer Sieger und wer Verlierer ist, und er fühlt sich als Mitsieger oder Mitverlierer wie mit "seiner" Fußballmannschaft. Bei diesen "systemischen" Schwächen darf es nicht wundern, wenn "Sachfragen" stets den Personalfragen nachgeordnet sind. Das konnte man anlässlich der "Wahlschlappen" bei der Europawahl gut beobachten: Aus allen parteipolitischen Regionen, in denen sich "Verlierer" fanden, hörte man zunächst die Forderung, jetzt gehe es vorrangig um Sachprobleme und nicht um Personen, während unmittelbar anschließend in der nächstbesten Talkshow und in Interviews nur noch über personelle Konsequenzen gesprochen wurde. Auch unter den Regierungen in der EU füllt der Streit darüber, wie nach der Wahl die Posten in Brüssel neu zu vergeben sind, Diskussionen und Berichterstattung, weshalb wir uns auf einen schmierigen Kuhhandel freuen dürfen. Um Europa kümmert sich derweil niemand; und das, wo uns der ganze Laden gerade um die Ohren zu fliegen droht.

Unsinnigerweise wird das oft als „Realpolitik“ beschrieben

Die berechtigte Kritik am herrschenden Politikbetrieb greift daher zu kurz, wenn sie als Konsequenz fordert, nun andere als die regierenden Parteien zu wählen. Und insofern ließ auch der YouTuber Rezo sein Publikum in Ratlosigkeit zurück, als er empfahl, auf jeden Fall zur Wahl zu schreiten, dann aber nicht den Groko-Parteien die Stimme zu geben. Es scheint trotz des Erkennens, was falsch läuft im Staate, die Vorstellungskraft zu fehlen, die den nächsten Schritt nahelegt. Denn das System der Parteiendemokratie mit Berufspolitikern, die alle Säulen des Staates beherrschen und die nur aus ihren Reihen Mandatsträger rekrutieren, führt zwangsläufig zur Diktatur von Parteifunktionären, zur Herrschaft einer Art "Neo-Adelsclique". Die Tatsache, dass die Bewerber um Amt und Würden in Konkurrenz zu einander stehen (die jedoch durch die Anwendung des Proporzprinzips deutlich gemindert wird), erhält nur einen Schein von Demokratie aufrecht, hinterlässt bei den Bürgern aber den Eindruck, sie verfügten über entscheidende Mitwirkungsrechte. Doch der Schein trügt; denn das System verlangt von den Parteifunktionären, die von ihren "Oberen" vorgegebenen Ziele ohne Rücksicht auf eigene politische Überzeugungen zu verfolgen. "Das Deutsche Volk", das sich "kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt" sein Grundgesetz gegeben hat (Präambel des Grundgesetzes), wird in dem Glauben gehalten, es übe seine souveräne Macht aus, wenn es in regelmäßigen Abständen Parteien wählt, die wiederum die Anwärter auf ein Mandat bestimmt haben, die nach ihrer Wahl als "Vertreter des Volkes" agieren sollen. In Wahrheit sind die Wahlen zu sakralen Handlungen verkommen, mit denen sich "das Volk" einen schönen demokratischen Mantel über die Schultern wirft. Bei uns und in den meisten anderen Staaten mit parlamentarischer Demokratie "wählt eine Mehrheit, was eine Minderheit zur Wahl stellt" [Zitat; gehört in den 1970er-Jahren].

"Das Volk" wirft sich einen schönen demokratischen Mantel über die Schultern

Nach dem Aufdecken von Mängeln wird der nächste Schritt zur Korrektur dieser Fehlentwicklung (weg von der geplanten Demokratie hin zur Parteien-Oligarchie) sein müssen, die Bürger unseres Staatswesens davon zu überzeugen, dass ein Bewusstseinswandel erforderlich ist, bevor man diskutieren kann, welche neuen Strukturen zu errichten sind. Und dazu gehört vorrangig die Einsicht, dass der Einfluss der Parteien nur zurückgedrängt werden kann, wenn die Bevölkerung nicht von Funktionären nominierte Personen wählt, sondern wenn sie zu "Sachfragen" befragt wird und daraufhin ihre Stimme abgibt. – Warum es überhaupt zur Parteienherrschaft kam, lässt sich leicht erklären, indem wir uns an die historische Entwicklung des Parlamentarismus erinnern: Seit im neunzehnten Jahrhundert versucht wurde, die Ideen der Mitwirkung des "gemeinen Volkes" an politischen Entscheidungsprozessen praktisch umzusetzen, war es rein technisch gar nicht anders vorstellbar, als dass dies im Wege einer Übertragung der "Souveränität" auf Mandatsträger geschieht. Ein demokratisches System konnte nur funktionieren, wenn Repräsentanten gewählt wurden, die dann als Stellvertreter der Bevölkerung Politik betrieben. Ähnliche Gründe gab es, Parteien als eine Art Medium einzusetzen, weil die Durchsetzung demokratischer Strukturen nur gelingen konnte, wenn nicht Einzelne, sondern gut organisierte Gruppen den herrschenden Cliquen die Stirn boten. Dies wiederum verlangte die Einsicht, dass Gruppen nur geformt werden konnten, wenn ihnen eine gemeinsame Idee zugrunde lag. Und um solche Ideen leicht "eingängig" zu formulieren, wurden sie als Ideologien präsentiert, die den Befürwortern ermöglichten, an eine Überzeugung zu "glauben". Heute noch ist die Entscheidung für oder gegen eine Partei maßgeblich von deren Ideologie bestimmt, die die Wähler auffordert, daran zu glauben, dass ihre Belange bei einem der angebotenen "Glaubensbekenntnisse" am besten aufgehoben sind. Dass die Ideologie womöglich doch nicht mehr so überzeugend wirkt, wie dies einmal der Fall war, kann man daran festmachen, dass die Parteien sich heutzutage nur noch mit unterschiedlicher "Färbung" vorstellen – schwarz, rot, dunkelrot, gelb, grün oder blau etwa. Man hält sozusagen nur noch eine Fahne hoch, um seine Anhänger zu versammeln. Doch geblieben ist der Glaube daran, dass jede Fahne eine Ideologie symbolisiert.

Die Technik existiert, allerdings ohne eine Legitimation durch einen demokratischen Prozess

Die Gründe, die seinerzeit dazu zwangen, Demokratie auf dem Umweg über Mandatsträger zu verwirklichen, sind heutzutage jedoch nicht mehr von Bedeutung. Das dokumentieren die politisch aktiven Netzpublizisten eindrucksvoll. Beispielsweise gelang es dem YouTuber Rezo, binnen weniger Tage eine politische Debatte loszutreten, die die Parteifunktionäre (alle!) buchstäblich auf dem falschen Fuß erwischte. Rezo demonstrierte damit, wie einfach es geworden ist, sich zu allgemein interessierenden Fragen zu äußern und Zuschauer und Leser zu finden, ohne den "polit-medialen Komplex" einzuschalten. Genauso einfach ist es (was am gleichen Beispiel zu erkennen ist), Reaktionen von Millionen Leuten "sichtbar" zu machen, und dass es den "Funktionsträgern" im System nicht länger gelingt, ihnen unliebsame Themen auszugrenzen. Was jetzt spontan und unorganisiert im Netz abläuft, lässt sich natürlich auch nutzen, um Meinungen gezielt abzufragen, und um Wahlen zu "Sachfragen" zu organisieren. Wie wichtig das bereits geworden ist, können wir in den USA beobachten. Dort hat sich Donald Trump förmlich ins Amt getwittert, ohne dass er Rückhalt in der eigenen Partei hatte, und er "regiert" seitdem, indem er seine Wählerschaft auf elektronischem Wege direkt anspricht, sich deren Zustimmung twittern lässt und beide Häuser des Kongresses einfach missachtet! Das heißt, die Technik, die erforderlich ist, um die Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen, existiert bereits, ja, sie wird längst angewandt. Dies allerdings ohne eine Legitimation durch einen demokratischen Prozess, weshalb Gefahr besteht, dass "dunkle Mächte" sich des neuen Mediums bedienen und ihre Macht darauf begründen (siehe Trump). Wer also behauptet, ein politischer Entscheidungsprozess sei nur zu realisieren, wenn Parteien den Ton angeben, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Neben der Erkenntnis, dass es zur politischen Entscheidungsfindung keiner Parteien bedarf und dass eine Repräsentation der Bürger durch von Parteien bestimmte Mandatsträger unsinnig ist, gehört zum "neuen Bewusstsein" eine weitere wichtige Einsicht. Wenn heute von Politik gesprochen wird und wenn politische Ämter vergeben werden, unterbleibt meist eine Unterscheidung zwischen dem Bereich, der zur Politik gehört, und dem, der die Verwaltung umfasst. Politik ist nach weitgehend übereinstimmender Auffassung die Steuerung all jener Prozesse in einer Gesellschaft, die dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Und weil die Feststellung schwierig ist, was im Einzelnen dem Wohle der Allgemeinheit und nicht etwa nur dem Einzelner dient, wird darüber in der Gemeinschaft diskutiert und dann eine Entscheidung durch Mehrheitsbeschluss hergestellt. Das nennt man Demokratie. Verwaltung hingegen ist die Wahrnehmung der Interessen anderer gemäß deren Weisung, in einem Staat also die Umsetzung politisch gefällter Beschlüsse. Dieses Prinzip ordnungsgemäß angewandt, bedeutet, die gesamte Exekutive in einem Staat handelt nur im Auftrag der politischen Gremien und hat sich selbst politischer Stellungnahme zu enthalten. Ganz sicher darf aber nicht – wie derzeit praktiziert – de facto Personalunion bestehen zwischen denen, die Politik machen, etwa Gesetze beschließen, und denen die für deren Umsetzung eingesetzt werden. Das Beispiel Bundesrepublik demonstriert genau das Gegenteil: Hier sitzen die meisten Regierungsmitglieder gleichzeitig als Abgeordnete im Parlament, wechseln also munter hin und her zwischen Gesetzgeberfunktion und Regierungs-(Verwaltungs-)funktion. Allein um sicherzustellen, dass die Umsetzung von politischen Beschlüssen durch die Verwaltung gemäß den Vorgaben der Legislative erfolgt, muss ein unabhängiges Gremium Aufsicht führen und wirksam kontrollieren können (Im Aktienrecht wird dieses Prinzip sinngemäß eingesetzt, wenn die Gemeinschaft der Aktionäre in der Hauptversammlung die Grundrichtung für das Unternehmen festlegt und einen Aufsichtsrat einsetzt, der den Vorstand, die Exekutive, kontrolliert). Die im heute herrschenden System gepflegte Übung, dass Ministerien – Behörden der Verwaltung – einer "politischen Führung" durch Minister unterstehen, die gleichzeitig Parlamentarier und Parteifunktionäre sind, muss aufgegeben werden, wollen wir demokratische Verhältnisse schaffen.

Ganz sicher darf aber nicht – wie derzeit praktiziert – de facto Personalunion bestehen

Da es jedoch, wie eingangs erwähnt, tief im Bewusstsein der allermeisten Bürger unseres Staates eingegraben ist, die Durchdringung des gesamten politischen Apparates mit Parteifunktionären als gegeben hinzunehmen, dürfte eine wirksame Reform der Gesellschaftsordnung erst möglich werden, sobald dieses "Glaubensbekenntnis" seine Wirkung verliert. Das bedeutet, es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig Erfolg versprechend, einzelne Strukturveränderungen vorzuschlagen und zu diskutieren, weil die Bereitschaft, sich vorurteilsfrei mit Alternativen auseinanderzusetzen nicht zu erkennen ist. Oder: derzeit gilt es, zunächst die erforderliche Bewusstseinsänderung anzustoßen und zu befördern. Und dafür sind die Aussichten gar nicht schlecht, da die Hürden, die in den vergangenen siebzig Jahren aufgebaut und erhalten wurden, Stück für Stück eingerissen werden. Das nämlich ist die Lehre, die wir aus den Aktivitäten einiger YouTuber und Blogger, aber auch aus den Schülerprotesten ziehen können: Das Grundmuster der "Bonner Republik" beginnt sich aufzulösen. Und es war zu beobachten, dass ein sehr großer Teil der Gesellschaft immerhin bereit ist, sich nun mit den grundsätzlich wichtigen Fragen zu beschäftigen. Das "Internetzeitalter" ist sozusagen in der Politik angekommen und wird nach und nach die eingerostete Mechanik des parteigeführten Politikbetriebes durch etwas Neues ersetzen. – Allerdings gibt es keinen Grund einfach abzuwarten. Denn die antidemokratischen Kräfte, die weltweit wirken und leider ständig Zulauf finden, nutzen die moderne Technik der Kommunikation bereits in beängstigend starkem Maße. Das chinesische Regime zeigt uns gerade, wie man mit Hilfe "digitaler Manipulation" die Zustimmung eines Milliardenvolkes dafür erreichen kann, sich den unmenschlichsten Bedingungen bereitwillig anzupassen. Ist solch ein Zustand der Diktatur erst einmal erreicht, bleiben kaum noch Möglichkeiten zum Widerstand, da Furcht um Leib und Leben auch diejenigen Menschen mundtot macht, die eine kritische Haltung zum Regime einnehmen. Und was Trump und seine Genossen in den USA treiben, ist nicht mehr weit entfernt von reiner Diktatur mit faschistischem Anstrich.

Ist solch ein Zustand der Diktatur erst einmal erreicht, bleiben kaum noch Möglichkeiten zum Widerstand

Der Trend weg von der Demokratie, den wir nun auch in Europa beobachten müssen, darf aber nicht dazu verleiten, den Zerstörern der freiheitlichen Gesellschaft entgegenzukommen, mit ihnen Kompromisse zu schließen. Denn diese Leute werden ihre Ziele nicht aufgeben, wenn ihnen die Hand gereicht wird. Ganz im Gegenteil: Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass nur "richtige" Demokratie die Widerstandskraft erzeugt, die erforderlich ist, um sich diktatorischen Bestrebungen zu widersetzen. Wir in Europa, zumindest die meisten von uns, verfügen über die notwendigen Voraussetzungen dafür, da wir auf hohem wirtschaftlichem Niveau leben, kulturelle Vielfalt kennen und einige Erfahrung sowohl mit Diktaturen als auch mit freiheitlicher Gesellschaftsordnung haben. Wir können uns Demokratie "leisten", was so manchen anderen Gesellschaften auf dem Globus sehr viel schwerer fällt. Deshalb ist zu hoffen, und zwar berechtigt, dass die Nutzung der Möglichkeiten des direkten Zugangs zu fast allen Menschen über das Internet den erforderlichen Bewusstseinswandel auslösen wird. Denn die Vorstellung, ein Wandel könne durch Mitwirkung im und am Parteiensystem zu erreichen sein, ist als irrig zurückzuweisen; dieses System verfügt nicht über die dafür erforderliche Flexibilität, da alle Beteiligten davon leben, dass es in der Form fortbesteht, wie es aufgebaut wurde. Der nächste Schritt in Richtung kraftvoller Demokratie, die mit gefestigter Überzeugung der Menschen und nicht mit Polizeigewalt "wehrhaft" auftritt, ist, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die politischen Parteien nicht den "Wählerwillen" repräsentieren, sondern ein Geflecht von Interessen bilden, die nicht das Gemein- sondern das Eigenwohl Weniger fördern. Die Bürger dieser Republik sollten sich vor Augen halten, dass die Parteien längst ohne Volk dastehen! Bertolt Brecht stellte 1953 nach dem Aufstand vom 17. Juni folgende Frage: "Das Volk hat das Vertrauen in die Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

Beitrag auch veröffentlicht im Blog zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden