Vermutungen zur Lage der Ukraine

Regierungskunst Die Wahrscheinlichkeit des „Ausbruchs“ eines Krieges ist als sehr hoch einzuschätzen. Dies ist eigentlich die Stunde der Diplomatie, die den Verstand einsetzt. Warum ist davon derzeit kaum etwas zu sehen?

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Manöver und Truppenaufmärsche der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine sorgen für Aufregung im „Westen“ und provozieren Spekulationen, Moskau wolle die Ostukraine besetzen. Der ukrainische Präsident wittert einen Putsch oppositioneller Kräfte in Kiew. Die NATO warnt Russland vor militärischen Aktionen und droht „Gegenmaßnahmen“ an. In Washington behauptet man, über Beweise für Einmarschpläne Moskaus zu verfügen. Das kann man als Säbelrasseln auf beiden Seiten deuten – dem könnten aber kriegerische Handlungen folgen, sollten die Russen tatsächlich ostukrainische Gebiete annektieren, was leider nicht auszuschließen ist. Keine erquicklichen Aussichten. Die NATO droht im Übrigen auch in unserem Namen mit Krieg. Und wenn die russische Regierung dies sogar einkalkuliert, weil sie glaubt, am längeren Hebel zu sitzen? – Die Wahrscheinlichkeit des „Ausbruchs“ eines Krieges, der wie die meisten derzeit geführten Kriege dann sicher nicht mehr „eingehegt“ werden kann, ist als sehr hoch einzuschätzen. Dies ist eigentlich die Stunde der Diplomatie, die sich um eine De-Eskalation bemüht und den Verstand einsetzt. Warum ist davon derzeit kaum etwas zu sehen?

„Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft. In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Weisheit, die man definieren könnte als den Gebrauch der Urteilskraft auf der Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information, kommt in dieser Sphäre weniger zur Geltung und ihre Wirkung wird häufiger vereitelt, als es wünschenswert wäre. Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?“

Mit diesen Sätzen beginnt die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman ihr Werk „Die Torheit der Regierenden“, 1984 (sehr lesenswert!)

Barbara Tuchman gelingt es in ihrem Buch mit dem Untertitel „Von Troja bis Vietnam“, einen großen Bogen zu schlagen vom antiken Europa bis hin zur aktuellen Lage in den USA (vor vierzig Jahren), womit sie belegt, dass es tatsächlich eine „Gesetzmäßigkeit“ in der Geschichte gibt. Dieses Gesetz entspringt der Struktur des Menschen, dessen Wesen stabil blieb, und zwar über den ganzen Zeitraum hinweg, den wir geschichtsschreibend begleiten können. In den vergangenen Jahrtausenden haben zwar enorme technische Errungenschaften für Veränderungen gesorgt, doch wir sind biologisch nicht vorangekommen. Für bedeutende und anhaltende Veränderungen unseres Wesens sorgen nur Mutationen der Gene, und diese erfolgen in sehr kleinen Schritten, über Jahrtausende verteilt und obendrein dem Zufall unterworfen. Eindrücke, die vor Zigtausenden von Jahren auf die Menschheit wirkten, lösen daher, wenn wir sie heute erneut erfahren, noch die gleichen Reaktionen aus. Und weil die Veranlagungen unter den Menschen ziemlich gleichartig verteilt sind, können wir beobachten, dass sie auf dieselben Reize stets und überall gleich, mindestens in sehr ähnlicher Weise reagieren, zudem meistens automatisch gemäß diesem alten Programm, indem sie handeln, ohne zu prüfen oder nachzudenken.

Solch ein Zusammenhang ermöglicht es, menschliches Verhalten recht gut vorherzusehen und seine Folgen einzukalkulieren, sobald Zustände eintreten, die wir aus der Geschichte bereits kennen und die wir untersucht haben. Ein Beispiel dafür liefert uns die Reaktion Einheimischer auf Fremde, wenn die in größerer Zahl bei ihnen auftauchen. Heute müssen wir beobachten, wie sehr viele Leute automatisch mit Abwehr reagieren, wenn sie Fremden begegnen, weil sie, vom Unterbewusstsein dazu angeregt, ihre eigenen Lebensbedingungen bedroht sehen, obwohl auch die Fähigkeit zur Kooperation sich als evolutionär vorteilhaft erwiesen hat. Und das hat in vielen Fällen bedeutet, über diese spezielle Abwehr hinauszugehen und zu prüfen, ob diese reflexhafte Abneigung überhaupt gerechtfertigt oder gar schädlich ist.

Wir müssen dem mit rationaler Aufklärung entgegentreten

Derweil setzen die „Mächtigen“ die seit Urzeiten automatisch wirkenden Muster als Mittel zur Manipulation ein, um Menschen in ihrem Einflussbereich in eine gewünschte Richtung zu lenken und sie gefügig zu machen für unbedingte Gefolgschaft. Es gibt nur eine Methode, dem zu begegnen: Wir müssen dem mit rationaler Aufklärung entgegentreten, indem wir die wohl wichtigste Eigenart der Menschheit einsetzen, den Verstand. Dazu hat uns beispielsweise Immanuel Kant ein Rezept hinterlassen, das er in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ festgehalten hat (1783). Dort beginnt er folgendermaßen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“ – Der Verstand ist eine ebenfalls ererbte Kraft genauso wie viele andere Kräfte, die für die Steuerung menschlichen Verhaltens bereitgehalten werden; und er steht grundsätzlich jedem Einzelnen zur Verfügung. Allerdings bedarf es des geistigen Trainings und der Anstrengung, den Geist zu benutzen. Im Gegensatz dazu wirken die „angeborenen“ Reaktionsmuster sozusagen von allein, es ist also sehr viel bequemer, sich diesen hinzugeben. Das macht es so mühsam, Verständnis zu gewinnen; denn jeder Einsatz des Verstandes setzt die Überwindung des Hangs zur Bequemlichkeit voraus. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Verstandeskraft prinzipiell jedem zur Verfügung steht und es keinen einleuchtenden Grund gibt, sie nicht zu nutzen.

In Anbetracht der Gefahr, die von der Konfrontation in der Ostukraine ausgeht, bietet sich an, zu überprüfen, ob und wie unter Einsatz des Verstandes eine Lösungsmöglichkeit zu finden sein kann. – Vor Ort wird zurzeit ziemlich niederen Beweggründen der Weg zur Entscheidung geebnet, und zwar auf allen Seiten einer „asymmetrischen Front“. Wo es vordergründig um die Schaffung oder den Erhalt demokratischer Strukturen, um Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung geht, spricht viel dafür, dass tatsächlich blanke Macht- und Geschäftsinteressen durchgesetzt werden sollen, von denen manche obendrein dem „aufgeklärten Eigeninteresse“ der Kontrahenten zuwiderlaufen. Eigentlich kann keine Seite davon ausgehen, ungeschoren oder als Sieger aus einem Krieg hervorzugehen. Denn das wohl Gefährlichste an der Lage ist, dass die USA und Russland ganz direkt mitmischen, weshalb vermutlich mit einer Begrenzung militärischer Auseinandersetzungen auf einen sogenannten Stellvertreterkrieg nicht zu rechnen ist. Die Entscheider in Washington und Moskau, ist zu befürchten, sind ähnlich denen, die den Ersten Weltkrieg zu verantworten hatten, als Schlafwandler unterwegs (wie Christopher Clark es für die politisch Handelnden vor dem Ersten Weltkrieg genannt hat). Jedenfalls lassen sie den Einsatz jeglicher Vernunft vermissen. Und weil die meisten Menschen gern und willig den bequemen Weg des Besser-nicht-genau-Hinschauens bevorzugen, übernehmen sie allzu freimütig die Ansichten der sie Regierenden, da sie sich dann selbst keine Gedanken machen müssen.

Wirklich hilfreich wirkt Nachdenken aber nur, wenn Jede und Jeder selbst Gedanken anstellen. Hier ist nicht gemeint, möglichst schnell einen Standpunkt kundzutun oder sich auf eine „richtige“ Seite zu schlagen. Weil uns der Blick hinter die Kulissen verwehrt bleibt, müssen wir mutmaßen, was sich hinter den Vorhängen abspielt. Dann aber ausgehend von diesen Vermutungen prüfen wir, was davon plausibel ist. Das ist ein altes, der antiken Philosophie entstammendes Verfahren, das bis heute ein häufig angewandtes Instrument aller Wissenschaftler ist, nämlich, auf Basis begrenzter Erkenntnisse wenigstens wahrscheinliche Aussagen oder Lösungen zu finden und anschließend deren eintretende Wirkung zu überprüfen. Diese Methode wird sowohl in der Geistes- als auch aus der Naturwissenschaft angewandt und Heuristik genannt (von altgriechisch „heurisko“ = ich entdecke). Um die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Übung herauszustreichen, sei darauf verwiesen, dass die gesamte moderne Physik auf heuristischen Schlussfolgerungen ruht und beispielsweise die Computertechnik ohne sie nicht erfunden worden wäre.

Sie übernehmen allzu freimütig die Ansichten der sie Regierenden

Was also haben wir zu vermuten, betrachten wir die Lage in der und um die Ukraine? – Hier ein Versuch, der, ohne drauf studiert zu haben, ohne großes Hintergrund- oder gar Geheimwissen unternommen werden kann. Allerdings verlangt es etwas Ausdauer, zunächst anzugucken, was bekannt ist, und es dann einzuordnen und unsere Vermutungen anzustellen.

Beginnen wir in der Ukraine selbst, wo wir auf ein schwer durchschaubares Gemenge politischer Strömungen und Kräfte stoßen. Zur Einordnung hilft ein kurzer historischer Abriss. Die Ukraine umfasst seit dem Mittelalter eine Region, in der die Kiewer Rus lebten (ebenso wird diese Siedlungsregion der Ostslawen als die Rus bezeichnet), die von Byzanz aus christianisiert waren und der orthodoxen Kirche mit dem Zentrum in Kiew angehörten. Eine eigenstaatliche Ukraine gab es lange Zeit nicht. In den westlichen Regionen der Rus (der Ukraine) herrschten die polnisch-litauischen Fürsten und im Osten die russischen Zaren. Die Trennlinie zwischen beiden „Ukrainen“ bildete der Fluss Dnepr, von dessen linkem Ufer aus (im Osten) praktisch das russische das Zarenreich begann; und in den ukrainischen Gebieten rechts des Dnepr (im Westen) herrschte Polen-Litauen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vereinnahmte die Zarin Katharina die Große beide Teile. Im 19. Jahrhundert hatte sich eine ukrainische Nationalbewegung entwickelt, die allerdings massiv unterdrückt wurde, wozu auch gehörte, dass die Sprache Ukrainisch verboten war. Aber sie existierte im Untergrund fort. Einen unabhängigen ukrainischen Staat gab es dann für sehr kurze Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, bis schon im Jahre 1922 die UdSSR die Ukraine als eine der Sowjet-Republiken in ihr Imperium „aufnahm“. Während der sowjetischen Herrschaft, in deren Anfangszeit Stalin dort wie in der gesamten Sowjetunion mit Terror, Unterdrückung und Vertreibungen regierte, blieb in der Ukraine die offizielle Landessprache Russisch. Und während der gesamten Sowjetzeit beherrschten Russen die Szene in der Ostukraine – im Donbass genannten Kohlbergbau- und Industriegebiet mit den Regionen Donezk und Lugansk teils schon seit der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert. Das gilt auch für die Halbinsel Krim, die erst 1954 unter Nikita Chruschtschow der Sowjetrepublik Ukraine zugeschlagen wurde. Und es gab wenig Zweifel in der UdSSR daran, dass es sich hier um russisches Gebiet handelte. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR (1991) wurden einige der ehemals sowjetischen Republiken selbstständige Staaten, und zwar mit Außengrenzen, die den Verwaltungsgrenzen entsprachen, wie sie die UdSSR gezogen hatte. So kam es, dass nun zum neuen und souveränen Staat Ukraine sowohl die Gebiete des Donbass als auch die Krim gehörten. Da in den „eigentlich russischen“ Regionen der Ost-Ukraine die für den Nachfolgestaat der UdSSR, die Russische Föderation, wichtige Schwer- und Rüstungsindustriebetriebe angesiedelt und auch Atomwaffen stationiert waren, verständigten sich Moskau und Washington auf eine Verlagerung dieser Anlagen. In der Ukraine geblieben sind jedoch russische Arbeiter, Ingenieure und Verwalter, die nun kaum Beschäftigung fanden und obendrein von der ukrainischen Bevölkerung im Westen diskriminiert wurden. Es darf uns deshalb nicht überraschen, dass viele Menschen im Donbass und auf der Halbinsel Krim sich wünschten, diese Region wieder Russland anzugliedern. Sozial und kulturell begründete Spannungen waren also zu erwarten und sind aufgetreten.

Im 19. Jahrhundert hatte sich eine ukrainische Nationalbewegung entwickelt, die allerdings massiv unterdrückt wurde

In den mehrheitlich ukrainisch besiedelten Gebieten hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine stark nationalistisch orientierte Bewegung breitgemacht, die eine endgültige Befreiung von russischer Vorherrschaft anstrebt und den Hass auf alles Russische schürt, indem sie die Gefahr einer neuerlichen Vereinnahmung durch Russland beschwört. Und sie findet Zustimmung unter allen Ukrainern, die aus eigener Erfahrung und aus Überlieferungen ihrer Eltern und Großeltern eine antirussische Stimmung pflegen – zwar verständlich aber nicht mehr zeitgemäß. Will man jetzt die Lage am Dnepr beschreiben, ist zu berücksichtigen, wie stark eine auf Vorurteilen beruhende nationalistische Einstellung das Meinungsbild großer Teile der Bevölkerung prägt – auch auf russischer Seite! Nationalismus war schon immer ein Vehikel, das autokratische Regierungsmacht zu nutzen, um Macht auszubauen; man schürt die Emotionen der Bevölkerung, verhindert das Nachdenken, um die Menschen einer angeblich dem „nationalen Wohl“ ergebenen Führung zu unterwerfen.

Gleich nach der sogenannten Wende 1991 haben sich die bis dahin vorgeblich kommunistisch gesinnten Funktionäre in der Ukraine wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken dem Kapitalismus an den Hals geworfen und ihre ehemals auf Posten und Privilegien gründende Macht genutzt, um sich große Teile des ehemals sowjetischen „Volksvermögens“ anzueignen. Diese Clique wird in Russland und in manchen nunmehr souveränen ehemaligen Sowjetrepubliken Oligarchen genannt. Sie nutzten die Gunst der Stunde, gründeten Banken, für deren Lizenz sie selbst als Abwickler der UdSSR sorgten, gaben sich Kredite, mit denen sie Unternehmensanteile erwarben, und begingen die alten Wege der Staatspartei, auf denen sie Wirtschaft und Politik vor sich hertrieben. Diese Masche war gleich nach der Wende ein im gesamten ehemaligen Sowjetimperium angewandtes Verfahren, das man schlicht als Verbrechen einzustufen hat. Und die Oligarchen, eigentlich Schwerstkriminelle, übernahmen auch in der Ukraine Geschäft und Politik, womit sie sicherstellen konnten, dass ihre kriminellen Machenschaften stets politisch gedeckt wurden. Zu den Methoden, die die neuen alten Machthaber anwenden, gehört, sich möglichst im Hintergrund zu halten und aus dem Versteck heraus die Fäden zu ziehen, an denen sie die Repräsentanten des Regierungsapparates lenken. Das Bild, das diese Leute offenbarten, gibt Anlass zu der Vermutung, dass das gesamte wirtschaftliche und politische Establishment der Ukraine in die Hände mafiaartig organisierter Cliquen geriet. Mehrere Versuche, den Kampf gegen die Korruption zu führen, schlugen fehl, so auch die „Orange Revolution“ und wohl auch die Bemühungen des derzeitigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Während sich die frühere Nomenklatura der Staatsbürokratie die Taschen füllte und die politische Macht im neuen angeblich demokratischen Staat übernahm, wurde der Bevölkerung eingeredet, sie möge Vertrauen beweisen, da sie nun über ein Mitspracherecht verfüge und von Zeit zu Zeit wählen dürfe. Mit der Veranstaltung von Wahlen konnte im „demokratischen Ausland“ der Anschein erweckt werden, dass nunmehr die Bedingungen erfüllt seien, die eine Aufnahme in die Gemeinschaft der europäischen Staaten fordert. Dass es sich hierbei um einen Etikettenschwindel der herrschenden Cliquen handelt, dürfte den Regierenden des „Westens“ bekannt sein; doch sie halten sich gern an die Vorstellung, in der Ukraine habe eine Demokratisierung stattgefunden. So konnten keine moralischen Bedenken die guten Geschäftsaussichten trüben. Das System der Allein- und der Fremdherrschaft hat jahrhundertelang demokratische Prozesse in der Ukraine verhindert und wird durch die faktische Fortsetzung der Autokratie immer noch erheblich gehemmt.

Die frühere Nomenklatura der Staatsbürokratie füllte sich die Taschen und übernahm die politische Macht im neuen angeblich demokratischen Staat

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der hier beachtet werden muss, weil er zeigt, dass die Situation tatsächlich komplizierter ist als gemeinhin dargestellt. Die formal unabhängige orthodoxe Kirche der Ukraine ist ein Glied der Russisch-Orthodoxen Kirche und untersteht dem Patriarchat Moskau; gleichzeitig ist sie eine maßgebliche Kraft im Feld der ukrainischen Politik. Denn die Tradition des Kirchgangs und der Glaube an die Unfehlbarkeit der Kirchenfürsten üben großen Einfluss auf Teile der ukrainischen Gesellschaft aus. Deshalb sind auf diesem Wege auch Einflussnahmen aus Moskau zu vermuten, zumal die russischen Kirchenfürsten in enger Verbindung zur politischen Führung Moskaus stehen. Die Vorstellungen des Kreml finden also einen Widerhall im Kirchenapparat – und natürlich umgekehrt. Diese Konstellation wird öffentlich selten erwähnt, was ihre Wirksamkeit aber kaum schmälert.

Die hier angeführten Gesichtspunkte erlauben die mutmaßende Schlussfolgerung, dass die politischen, zivilgesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte in der Ukraine, werden sie nicht bald in ihre Schranken gewiesen, das Land in ein Chaos stürzen. Davon ist auch deshalb auszugehen, weil die Einflüsse des „interessierten Auslands“ nicht etwa zur Beruhigung beitragen, sondern ganz im Gegenteil die Lage noch verschärfen. Denn auch die Bemühungen der verschiedenen Regierungen um Befriedung sind zumindest unaufrichtig; sie zerren an der Ukraine, um sie auf ihre Seite zu bringen; aber sie sind keineswegs auf Entspannung ausgerichtet. Vielmehr wollen alle ihren Einfluss festigen, weil sie dann hoffen können, den jeweils anders orientierten Regierungen deren Geschäft zu verderben. Wir müssen uns, wollen wir über eine Lösung des „Ukraine-Konflikts“ nachdenken, mit den Interessen Russlands, der USA, der EU (die obendrein mit verschiedenen Standpunkten antritt) und der Türkei befassen. Da aber die beiden sogenannten Großmächte USA und Russland wohl den entscheidenden Einfluss ausüben, wird es vorrangig darum gehen, die von ihnen eingenommenen Positionen zu erkennen. Bei allen Beteiligten ist leider eine Parallele zum Verhalten der „Schlafwandler“ kurz vor dem Ersten Weltkrieg festzustellen: Jede Partei meint, sie selbst sei nur reagierende, und die anderen fachten das Feuer an.

Auch die Bemühungen der verschiedenen Regierungen um Befriedung sind zumindest unaufrichtig

Die geschichtlich begründete und die geografische Nähe Russlands zur Ukraine macht es ratsam, sich zunächst mit deren Standpunkt zu befassen, nicht um zu beurteilen, ob die russische Regierung „recht hat“, sondern, um einschätzen zu können, wie die Machthaber in Moskau reagieren könnten. Dabei sind wir selbstverständlich auch hier zunächst auf Vermutungen angewiesen, weil die russische Interessenlage so, wie sie aus Moskau verlautbart wird, sicherlich nicht die wahren Absichten widerspiegelt. Die Machthaber in Russland, die auch heute noch alle in irgendeiner Weise dem alten Regime entstammen und von den Erfahrungen in der Sowjetunion geprägt wurden, empfinden sich als die Betrogenen der Politik ihrer ehemaligen Gegner im Kalten Krieg. Und betrachtet man den Umgang „des Westens“ mit den russischen Regierungen nach der „Wende“, gibt es einigen Grund, dies zu verstehen. Den Russen war „gleiche Augenhöhe“ versprochen, und es wurde Erniedrigung geliefert. Mit Blick auf die Ukraine erlaubt eine nüchterne Betrachtung folgende Darstellung der russischen Interessenlage: Die Regierenden in Moskau mussten mit Auflösung der Sowjetunion eine Gemeinschaft innerhalb der Russischen Föderation teils erst erzeugen und pflegen. Das zu bewerkstelligen, bedienten sie sich zweier Methoden: Sie baten die alles Russische vereinigende orthodoxe Kirche um Mithilfe (mit Erfolg), und sie erzeugten und pflegten nationalistische Gefühle. Damit gelang später den Funktionären um Wladimir Putin der Machterhalt, aber sie gerieten auch unter den Einfluss reaktionärer Kräfte, die von der Wiederherstellung des alten Zarenreiches träumen. Und aus dieser Ecke kommt die Forderung nach besonderer „Fürsorge“, die man den Russen im Donbass und auf der Krim zuteilwerden lassen müsse. Es gibt also Grund zu der Annahme, dass die Regierenden in Moskau allein dem Selbsterhalt (ein sehr starkes Motiv) dienen, wenn sie jetzt Partei ergreifen für die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine.

Zu vermuten ist darüber hinaus, dass Russland versucht, die offiziell als Herstellung einer Teilsouveränität proklamierte Eigenständigkeit der Ostukraine durch militärischen Widerstand der örtlichen Separatisten zu erreichen. Dazu wird Russland Waffen und Munition liefern, und es wird sogenannte Kämpfer ausbilden. Man beabsichtigt sicherlich, den Eindruck zu hinterlassen, es handele sich um einen Aufstand russischstämmiger „Freiheitskämpfer“. Mit dem Aufmarsch russischer Panzerverbände an der Grenze zur Ukraine bereitet die Militärführung zunächst wohl keinen Einmarsch vor, sondern sie will die Versorgung der Rebellen absichern, indem sie mit den Panzern notfalls die „Rückräume“ freihält. Das Ganze birgt allerdings die Gefahr einer Eskalation, wenn Moskaus Plan nicht aufgeht und ukrainisches Militär die Oberhand zu gewinnen droht. Dann dürfte der Funke gezündet werden, der den großen Knall auslöst. Von Putin und seinen Mannen können wir allerdings nicht erwarten, dass sie deutlich hinter ihre Position zurücktreten; denn sie stehen unter massivem Druck der nationalistischen Kräfte im Lande, die von ihren Führern ein „zaristisches Auftreten“ verlangen. Dessen müssen sich die Regierenden in der Ukraine und insbesondere die Führungsmacht des Westens, die USA, bewusst sein. Die Frage ist allerdings, ob sie diese Zusammenhänge in ihre Überlegungen einbeziehen.

Das Ganze birgt allerdings die Gefahr einer Eskalation

Dieser Gedankengang führt uns zur Rolle der USA im Konflikt um die Ukraine. Die Suche nach deren Motiven lässt den Betrachter zunächst stutzen, da nicht recht zu erkennen ist, was die USA dort eigentlich wollen. Hilfreich ist allerdings eine Einschätzung der amerikanischen Weltpolitik, die spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg eine globale Vorherrschaft anstrebt. Dieser Anspruch verbindet sich wie selbstverständlich mit dem Streben nach wirtschaftlicher Vormacht der US-Konzerne in Industrie, Landwirtschaft, Handel und Finanzen – nur oberflächlich verbrämt mit dem Auftrag, die Demokratie in die Welt tragen zu wollen. Das heißt, die Interessen der mächtigsten US-Wirtschaftsvertreter bestimmen maßgeblich, wo mit welchen Mitteln – auch militärischen – die Vormacht zu erlangen ist. Dass die Amerikaner bei der Durchsetzung ihrer Interessen beinhart vorgehen, bewiesen sie übrigens, als sie deutsche Unternehmen mit Sanktionen bedrohten, wenn die Bundesregierung, die Regierung eines ihrer engsten Verbündeten, die Inbetriebnahme der zweiten Ostsee-Pipeline für Gas aus Russland nicht stoppt. Der Einwand, die russische Regierung gewinne mit den Gaslieferungen ein Druckmittel gegenüber Westeuropa, ist angesichts des rücksichtlosen Machteinsatzes der USA aber als eher abwegig einzustufen. Mit Gaslieferungen aus Russland verdienen übrigens einige der Oligarchen in der Ukraine ihr Geld, und zwar nicht durch Verkauf eigenen Gases, sondern mit Gebühren für die Durchleitung russischen Gases nach Westeuropa. Diese Geschäfte werden von den USA gefördert, obwohl das Gas von den „bösen“ Russen geliefert wird und für Westeuropa bestimmt ist. Es muss folglich um etwas anderes gehen, wenn sich die USA derart stark in den Konflikt in der Ukraine einmischen.

Wahrscheinlich verfolgen die US-Regierungen eine Politik – da sind sich die Trumpisten und die Biden-Clique sicherlich einig –, die weiteren Zielen dienen soll. Ihre offensichtlich nur kurzlebige globale Vormachtstellung nach dem Zusammenbruch der UdSSR, ging davon aus, dass in der Welt nun außer Washington kein Zentrum der Macht mehr existierte; denn damals hatte man die Rolle Chinas noch als die einer Regionalmacht eingeschätzt – fälschlicherweise, wie sich bald herausstellte. Kurz vor der Jahrtausendwende sprach man vom Beginn des „amerikanischen Zeitalters“, was Ausdruck einer gefährlichen Selbstüberschätzung war und keine zehn Jahre anhielt, bis sich China ins Weltgeschehen einschaltete und bis sich die Fehlschläge der amerikanischen Versuche, in der Welt „für Ordnung zu sorgen“, nicht länger kaschieren ließen. Inzwischen können wir von einer regelrechten Blutspur der USA sprechen, die von Korea über Vietnam, Afghanistan, den Iran, den Irak, Syrien und Libyen führt, mit einem Abstecher in den Jemen; und die eine zweite Bahn durch Lateinamerika gezogen hat. Nun wollen die Mächtigen in den USA, Republikaner genauso wie Demokraten, vermutlich einen Wirtschaftskrieg mit China gewinnen und müssen sicherstellen, dass nicht weitere Gegner auftauchen, da sie inzwischen erkennen können, dass ihre Kräfte nicht unbegrenzt sind. Deshalb ist es wahrscheinlich von strategischer Bedeutung, Russland kleinzuhalten, und vor allem zu verhindern, dass sich die Erkenntnis durchzusetzen vermag, Europa reiche bis zum Ural. Denn ein Zusammengehen der EU-Staaten mit Russland würde die zumindest vermeintliche Abhängigkeit der Europäer von Amerika auflösen und gleichzeitig eine neue Macht bilden, die weitgehend autark leben könnte. Man kann das auf eine einfache Formel bringen: Die derzeitigen EU-Staaten verfügen über alle diejenigen wirtschaftlichen Mittel, die in Russland Mangelware sind; und umgekehrt verfügt Russland über alle Ressourcen, die den Westeuropäern fehlen.

Eigentliches Ziel amerikanischer Außenpolitik ist es, die Weltmacht Amerikas durch das Schüren von Zwist überall auf dem Globus zu sichern und insbesondere zu verhindern, dass sich ein Block „Gesamteuropa“ bildet, dessen politische und wirtschaftliche Kraft die der USA mindestens einholt, wenn nicht sogar übertrifft. Deshalb setzen amerikanische Politiker und Wirtschaftsführer alles daran, in Europa möglichst viel Zwietracht zu säen und Zustände zu schaffen, die ein Schlüpfen unter den militärischen Schild der USA verlangen. In dieses Bild passt die fast unverhohlen zur Schau gestellte Freude des amerikanischen Establishments über den Austritt Großbritanniens aus der EU, genauso wie die Förderung nationalistischer Tendenzen in Polen und Ungarn; aber eben auch die Einmischung in den Ukraine-Konflikt. Dort wollten und wollen die US-Regierungen von Bush Senior, über Clinton, Bush Junior, Obama und Trump bis nun Biden die antirussische Grundhaltung der Ukrainer nutzen, um die Kreml-Herren unter Druck zu setzen. Denn die USA müssen neben der sich abzeichnenden Übermacht Chinas in Asien und im Pazifikraum nichts mehr fürchten als eine Allianz der EU mit Russland, wozu am besten hilft, vor einer „russischen Gefahr“ zu warnen. Inzwischen ist es den Außenpolitikern in Washington gelungen, das alte Feindbild des Kalten Krieges wiederzubeleben, und die russische Führung als Sachwalter der kommunistisch geprägten Sowjetunion an den Pranger zu stellen. Der Erfolg lässt sich gut daran erkennen, wie selbstverständlich und ohne weitere eigene Lageeinschätzung europäische Regierungen die These übernehmen, Russland wolle die Ukraine angreifen, was dadurch belegt sei, dass es an der Grenze Truppen aufmarschieren lässt. Gleichzeitig wird, ebenfalls wie selbstverständlich, die Behauptung verbreitet, die US-Navy müsse im Schwarzen Meer und vor der Küste Russlands ständig Manöver abhalten, die dem Frieden dienen sollen – und das seit Jahrzehnten. Gefährlich wird die Spannung im Ukraine-Konflikt, weil die USA wohl zurecht befürchten, dass ihre Vormachtstellung nur noch auf militärischem Gewaltpotenzial ruht, da sie ökonomisch und politisch massiv an Einfluss eingebüßt haben. Die Geschichte untergehender Imperien zeigt uns aber, dass in solch einer Lage gewöhnlich das Unabwendbare mit militärischer Gewalt verhindert werden soll.

Inzwischen ist es den Außenpolitikern in Washington gelungen, das alte Feindbild des Kalten Krieges wiederzubeleben

Dass die EU-Staaten sich den amerikanischen Behauptungen anschließen und von Strafmaßnahmen gegenüber Russland fabulieren, ist ein Trauerspiel. Man mag sich schon nicht mehr vorstellen, welche Chancen für eine europäische Gemeinschaft bestanden, als zu Beginn der 1990er-Jahre die Tore nach Osteuropa offenstanden. Doch nachdem die USA erkennen mussten, dass ihr Versuch, die Herrschaft über die russischen Bodenschätze zu erlangen, scheiterte, als nämlich Putin in Moskau antrat und dem Ausverkauf russischer Unternehmen einen Riegel vorschob, hat sich die US-Administration mit kräftiger Unterstützung der amerikanischen Konzerne gegen Russland gewendet. Und nun nahm man wohl zu Recht an, die europäischen Staaten und Wirtschaftsunternehmen könnten das schaffen, was in Washington gefürchtet wurde und wird: eine praktisch autarke Macht Europa, die sich aus der Umklammerung durch die USA befreit. Da die ökonomische Kraft der amerikanischen Unternehmen nicht reichte, um auf dem freien Markt mit den Europäern in Konkurrenz zu treten, mobilisierte man die politischen Entscheidungsträger, die dafür sorgten, dass der Kalte Krieg reanimiert wurde. Das erfolgte mit der Eingliederung der osteuropäischen ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes in die NATO, begleitet von einer kräftigen Aufrüstung der dortigen Armeen und gefolgt von der Aufnahme der meisten osteuropäischen Staaten in die EU, obwohl die dafür erforderlichen Kriterien gar nicht erfüllt waren. Deshalb war es fast zwangsläufig, dass sich Spannungen bildeten, wie sie jetzt mit Polen, Ungarn und Tschechien zu erleben sind.

Kaum beachtet wird ein weiterer Mitspieler im Kampf um die Vormacht in der Ukraine, nämlich die Türkei. Ein Blick auf die Karte zeigt aber, dass die Türkei einerseits einen großen Teil der Schwarzmeerküste besitzt und insofern ein Interesse an friedlichen Zuständen in diesem Seegebiet hat; zum anderen beherrscht Ankara mit dem Bosporus die Meerenge, durch die Russland den Zugang zum Mittelmeer erhält. Russland hat schon im sogenannten Krimkrieg (1853–1855) als auch im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg erhebliche Kräfte aufwenden müssen, um die Durchfahrt am Bosporus zu sichern. Deshalb wird die russische Politik stets einen scharfen Blick auf die Verhältnisse in der Türkei werfen. Die Türkei wiederum weiß selbstverständlich um diese Achillesverse Moskaus und versucht, sich in der Ukraine politisch und geschäftlich zu engagieren, weil man erreichen möchte, dass man ein „Wörtchen mitzureden“ hat, wenn es in der Region zu Spannungen kommt. Diese Rolle spielt Präsident Erdogan auch deshalb, weil er innenpolitisch unter Druck geraten ist und zu der in solcher Lage üblichen Methode greift, nämlich mit außenpolitischen Manövern für Ablenkung zu sorgen. Solch eine Haltung hat schon zu Kriegen geführt. Das heißt, die angebliche Unterstützung der Türkei für die Position der Ukraine ist nicht als Hilfe für Kiew zu verstehen, sondern als taktisches Mittel, um gegenüber Russland Stärke zu demonstrieren. Sie dient folglich nicht einer Entschärfung des Konflikts; vielmehr wird die Lage weiter destabilisiert, zumal Erdogans Macht schwindet; und es ist denkbar, dass er, auf schwankendem Boot stehend, in einer kriegerischen Auseinandersetzung einen Rettungsring sieht.

Zu vermuten ist also, dass sich die Spannungen der Teilnehmer am Konflikt in der Ukraine nicht lösen werden, solange alle annehmen, die Angelegenheit werde sich „irgendwie“ von allein regeln. Und wer glaubt, es werde schließlich doch Vernunft walten, die verhindert, dass ein schwerer Brand ausbricht, der wird sich getäuscht sehen. Denn die agierenden Figuren sind nicht Herr der Lage, sondern Getriebene ihrer Vorstellungen, die keine Kompromisse zulassen. Das ist eine ziemlich ausweglose Situation. Und wir müssen uns mit dem Gedanken befassen, dass es zu einem Krieg kommt, dessen Ausdehnung und Ausmaß global sein wird, weil offenbar niemand bereit ist, seine Position zu hinterfragen.

Die agierenden Figuren sind nicht Herr der Lage, sondern Getriebene ihrer Vorstellungen, die keine Kompromisse zulassen

Es gibt wahrscheinlich einigen Grund zu resignieren. Doch diesem Gefühl der Aussichtslosigkeit müssen wir uns zumindest noch nicht hingeben, da immerhin eine Möglichkeit besteht, einen Weg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ aufzuzeigen und die politisch Verantwortlichen auf diesen Weg zu führen. Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht sehr hoch anzusetzen; aber solange überhaupt eine Chance besteht, sollten wir uns auf deren Nutzung konzentrieren. Zukunft ist stets nur als Möglichkeit zu beschreiben, und zwar in der Bandbreite aller denkbaren Entwicklungen.

Zunächst einige Gedanken, wie eine Friedenslösung aussehen könnte, sozusagen ein Gedankenspiel:

Als eine erstrebenswerte Lösung, die einen dauerhaften Frieden in der Region verspricht, sollte ein Friedensvertrag geschlossen werden, der folgende Eckpunkte beinhaltet: Die Regionen des Donbass und die Krim werden Teil Russlands. Und Russland entschädigt die Ukraine für wirtschaftliche Nachteile. Außerdem wird ein weitgehend freier Grenzverkehr zwischen Russland und der Ukraine vereinbart, der es gestattet, dass Menschen der Grenzregion mit Verwandten und Freunden auf der jeweils anderen Seite Kontakt halten können. Diese Lösung erscheint zwar einigermaßen simpel, doch auf dem Weg dorthin müssen gewaltige Brocken bewegt werden. Erstens hat Russland sozusagen einklagbare Garantien abzugeben, dass es nach Erfüllung des Vertrages keinerlei weitere Ansprüche erhebt. Solche Garantien könnten beispielsweise der UNO gegenüber abgegeben werden. Zweitens haben die USA zu akzeptieren, dass sie sich in der Ukraine und im benachbarten Raum des Schwarzen Meeres nicht länger militärisch engagieren dürfen, wozu gehört, dass die NATO die Ukraine weder direkt noch indirekt als Partner aufnimmt. Drittens hat die EU klar definierte Anforderungen dafür zu stellen, unter welchen Bedingungen eine Mitgliedschaft der Ukraine möglich ist, und sie hat verbindlich zu erklären, dass nach deren Erfüllung eine Aufnahme erfolgt. Viertens müssen Russland und die EU gemeinsam mit der Ukraine ein Wiederaufbauprogramm beschließen, und Russland und die EU haben für dessen Finanzierung zu sorgen. Fünftens sollte die Türkei eingeladen werden, sich an dem Vertragswerk zu beteiligen, wozu auch gehören sollte, dass gegenüber allen Anrainern des Schwarzen Meeres ein bedingungsloses freies Durchfahrtsrecht durch den Bosporus zugesichert wird. Und sechstens müssen alle Nachbarn der Ukraine dem Vertrag beitreten und zusichern, dass sie seine Umsetzung fördern.

Was bringt die Regierenden in Russland, in den USA, in der EU und in der Ukraine auf den Weg aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit?

Man kann sich sogar vorstellen, dass die Beteiligten am Konflikt dem prinzipiell zustimmen, weil keiner von Krieg einen Vorteil hat; doch zu vermuten ist, sie werden alle ihre Vorbehalte im Einzelnen anmelden, sodass schließlich insgesamt kein Fortschritt zu erzielen sein wird. Die Frage ist also: Was bringt die Regierenden in Russland, in den USA, in der EU und in der Ukraine auf den Weg aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit? – Üblicherweise fordern politisch Verantwortliche in solch einer Situation, es müssten Verhandlungen zwischen allen Beteiligten aufgenommen werden, um alle zugleich ins Boot zu holen. Doch dagegen spricht die geschichtliche Erfahrung, die uns lehrt, dass Verhandlungen in großer Runde erst erfolgversprechend sind, wenn vorher in bilateralen Gesprächen der Boden dafür bereitet wurde. Entscheidend wird sein, dass ein Interessierter die Initiative ergreift und öffentlich vorträgt, was er für erfolgversprechend hält – beispielsweise im hier skizzierten Sinne. Dazu eine Fiktion:

Stellen wir uns vor, die neue deutsche Regierung, die ja von Aufbruch spricht, erklärt lauthals, sie könne sich eine Lösung des Ukraine-Konflikts nur vorstellen, wenn Verhandlungen am Ende zu einem Friedensvertrag geführt werden, der die genannte Struktur aufweist. Deshalb beauftragt die neue Außenministerin ihre Mitarbeiter, statt Sanktionen gegen Russland zu fordern, ein Vertragswerk auszuarbeiten, das die Grundsätze für einen Frieden in der Region als Vorgabe erhält. Selbstverständlich wartet sie nicht, bis in der EU ein Konsens erzielt wird, sondern sie vertritt ihren Standpunkt, wann und wo sie dazu Gelegenheit sieht, und zwar stets öffentlich vernehmbar. Denn es wird wichtig sein, die Öffentlichkeit einzubinden, wenn eine fruchtbare Diskussion über die deutschen Vorschläge angeregt werden soll. – Eine Utopie? Eine Angelegenheit im Nirgendwo? – Sicher nicht; denn am Anfang einer Entwicklung steht, das Bewusstsein für die Lage und das gewünschte Ziel zu schaffen. Am Anfang jeder Planung steht die idiotische Phantasievorstellung! Ohne diese Vorarbeit bietet sich keine reale Chance, Frieden zu schaffen; übrigens nicht nur in und um die Ukraine.

Eine große Zahl Bürgerinnen und Bürger meint offenbar, die regierenden Politiker hielten sich bei ihren Entscheidungen grundsätzlich an die Vorgaben ihres Verstandes; das beruhigt sie. Und in Demokratien sorge die parlamentarische Debatte dafür, dass sich wenigstens näherungsweise die Vernunft, also der aufgeklärte Verstand, durchsetze. Doch es scheint eher, die Mächtigen verdanken ihre Macht vorrangig den ihnen zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln und nicht der Kraft ihres überlegenen Verstandes. Wir müssen bedauerlicherweise davon ausgehen, dass die Bequemlichkeit, die dazu verführt, anstrengenden Denkprozessen auszuweichen, unter allen Gruppen der menschlichen Gesellschaft den Ton angibt. – Andererseits: Finden wir keine überzeugenden Argumente, den ja vorhandenen Verstand in Szene zu setzen, wird den Menschen wohl der Garaus gemacht; beziehungsweise werden sie selbst dafür sorgen. Denn leider „agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft"; und leider „bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos“ (Tuchmann). Es bedarf aber nur einer einzigen Handlungsanweisung, der nämlich, den Menschen klarzumachen, dass ihr Verstand ein nützliches Hilfsmittel ist, das zwar nicht mühelos zu gebrauchen ist, das aber aller Mühe wert ist, es einzusetzen. Das heißt, wir können Erfolg haben, wenn wir uns selbst Gedanken machen und die politisch Verantwortlichen mit den Erkenntnissen konfrontieren, die wir durch Nachdenken gewonnen haben, wenn wir öffentlichen Druck erzeugen, weil die politisch Verantwortlichen ausschließlich darauf reagieren.

Der Beitrag erschien auch im Blog zeitbremse. wordpress.com

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zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

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