Repräsentativ, imperativ, neue Verfassung?

Verfassungswirklichkeit: Das quasi-imperative Mandat ist die verfehlte Wirkung unserer repräsentativen Demokratie. Ein Vorschlag für ein demokratisches Zusammenleben.

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"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 38 (1)

"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben."
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 21 (1)

"(1) Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.
(2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen,
die politische Bildung anregen und vertiefen,
die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern,
zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden,
sich durch Aufstellung von Bewerbern an Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen,
auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen,
die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der der staatlichen Willensbildung einführen und
für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.
(3) Die Parteien legen ihre Ziele in politischen Programmen nieder.
(4) Die Parteien verwenden ihre Mittel ausschließlich für die ihnen nach dem Grundgesetz und diesem Gesetz obliegenden Aufgaben."
Gesetz über die politischen Parteien, §1

Unsere Verfassung, das Grundgesetz, wird bald siebzig Jahre alt. Das ist zwar noch kein stolzes Alter, aber immerhin ein Zeitraum, in dem viele Umbrüche und Kriege die Welt in Unordnung stürzten, während hier in Mitteleuropa, auch dank unserer Verfassung, eine Phase der Stabilität herrschte, die, zumal in der deutschen Geschichte, einmalig ist. Und noch etwas zeichnet das Grundgesetz aus: Die Verfassung gehört im Weltmaßstab zu den modernsten und zu den ganz wenigen, die ein hoch entwickeltes demokratisches Verständnis verwirklichen. – Wir Deutsche können stolz darauf sein, sollten aber nicht vergessen, dass wir, anders als die Präambel zum Grundgesetz glauben macht, uns die Verfassung nicht selbst verordnet haben (dort heißt es nämlich: "... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben"). Der Holocaust und zwei Weltkriege, die Deutschland äußerlich und innerlich in Schutt legten und eine Geisteshaltung hinterließen, die uns heute ausgesprochen peinlich sein muss, hatten wenig Aufbruch-, sondern eher Katerstimmung erzeugt. Man litt unter dem "furchtbaren Zusammenbruch" und machte das "barbarische" Bombardement der Alliierten auf deutsche Städte sowie die "brutale Vertreibung" durch die Rote Armee für einen Großteil des Elends verantwortlich. Der Holocaust wurde noch komplett ausgeblendet. Die meisten Deutschen waren nach 1945 in eine Art Agonie gefallen und verfolgten nur ein Ziel, den Erhalt der nackten Existenz; während andere, die Siegermächte, für sie die politischen Angelegenheiten regelten. Die Westdeutschen, die in der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone lebenden und die dorthin geflüchteten oder ausgewiesenen, hatten das Glück, dass insbesondere den Amerikanern sehr daran gelegen war, ihre "Schutzbefohlenen" möglichst schnell auf sichere Pfade zu führen und auf eigene Füße zu stellen (sowie sie der antikommunistischen Allianz anzugliedern); aber gleichzeitig auch zu verhindern, dass sie je wieder die "Brandstifter" Europas werden könnten. Die Ostdeutschen mussten sich einstweilen den sowjetischen Bestrebungen beugen, den von Stalin an der Westflanke seines Reiches gebildeten "Sicherheitskordon" auszubauen und das durch Vereinbarung mit den Westmächten gewonnene Territorium diktatorisch zu beherrschen. Sie gelangten erst 1990 unter den Schirm unserer Verfassung. Unter dieser demokratischen Decke, die die Alliierten nach dem Krieg über die westdeutsche Gesellschaft gelegt hatten, konnte sich leider auch manch brauner Ungeist verstecken, so dass jetzt Menschen, die dieser Vergangenheit gar nicht ausgesetzt waren und die "Gnade der späten Geburt" für sich in Anspruch nehmen, mit nationalistischen und rassistischen Parolen durch die Gegend ziehen, von denen angenommen wurde, sie seien längst begraben.

Die Westdeutschen hatten das Glück, dass insbesondere den Amerikanern sehr daran gelegen war, ihre "Schutzbefohlenen" möglichst schnell auf sichere Pfade zu führen

Zum Verständnis des Grundgesetzes gehören die besonderen Umstände seines Entstehens. Denn die Amerikaner, Briten und Franzosen übernahmen bis 1949 praktisch alle Regierungsgeschäfte; und wo deutsche Verwalter wirken durften, mussten sie ihr Handeln von der jeweiligen Besatzungsmacht genehmigen lassen. Man erlaubte den Deutschen, sich um ihr tägliches Auskommen zu bemühen, und installierte, sozusagen neben ihnen her, ein neues politisches System. Eine der Forderungen der Siegermächte für die zukünftige Gestaltung des deutschen Staatswesens war, zu verhindern, dass erneut eine stark zentralistisch führende Regierung entsteht, die Konzentration und Missbrauch von Macht erleichtern könnte. Deshalb wurden in den drei westlichen Besatzungszonen zunächst die Länder geschaffen und dann die Republik als Föderation dieser Länder gegründet (was in der Bezeichnung Bundesrepublik zum Ausdruck kommt). Die Institution Bundesrat, die Vertretung der Länderregierungen im Bund, erhielt folgerichtig ein erhebliches Mitspracherecht, das durch einen ganzen Katalog von Angelegenheiten, die der Landeshoheit vorbehalten sind, und eine Liste von zustimmungspflichtigen Gesetzesregelungen in der Verfassung dokumentiert ist. Ein weiteres Merkmal, das den Siegermächten wichtig war, ist die Umsetzung der Demokratie in Form einer repräsentativen Struktur und der Wahl von Abgeordneten jeweils hälftig als direktgewählte Personen der Wahlkreise nach dem Mehrheitswahlprinzip sowie durch Wahl von Parteien (womit aber von den Parteigremien auf Listen gesetzte Kandidaten gewählt werden – en bloc) nach dem Prinzip der Verhältniswahl, wobei die Abgeordneten "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sein dürfen. Das heißt, ein imperatives Mandat war ausdrücklich nicht gewollt, wie es beispielsweise in sogenannten Räterepubliken üblich ist, wo die Abgeordneten während ihrer Mandatszeit ganz konkreten Vorgaben entweder ihrer Wähler oder der sie entsendenden Parteien zu folgen haben. Genauso wichtig für die heranwachsende Bundesrepublik war die Tatsache, dass die Besatzungsmächte in vielen Fragen des politischen Geschehens auch nach Gründung des neuen Staates ein Mitspracherecht hatten und wahrnahmen. Etwas überspitzt formuliert möchte man sagen: Die Besatzungsmächte in Westdeutschland zwangen dessen Bürger zu ihrem Glück, von dem die noch heute zehren. In diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, dass sehr viele Deutsche, wahrscheinlich die Mehrheit, damals viel intensiver die Verluste durch den Krieg bejammerten, auch der alten Gesinnung nachtrauerten, als dass sie den demokratischen Neuanfang begrüßten!

Die Besatzungsmächte in Westdeutschland zwangen dessen Bürger zu ihrem Glück

Inzwischen ist jedoch so viel Umwälzendes passiert, dass eine Prüfung, ob denn die damals festgelegten Strukturen der Verfassung noch zeitgemäß sind, mehr als angebracht erscheinen sollte. Doch die "stabilen" Verhältnisse, die das Wirtschaftswunder in Deutschland hinterließ, haben hierzulande eine Angst vor Veränderung von bleierner Schwere erzeugt. Die erlaubt nicht einmal, darüber nachzudenken, ob und wenn ja, welche Regelungen unseres Grundgesetztes besser neu zu fassen sind, damit sie den Anforderungen der zukünftig zu erwartenden Lebensbedingungen gerecht werden. Wohl am stärksten einschneidend, erstaunlicherweise aber wenig beachtet, ist folgende Veränderung in jüngster Zeit: Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Erdbevölkerung mehr als verdreifacht. Diese Entwicklung erscheint noch gewaltiger, wenn man den Verlauf des Wachstums der Weltbevölkerung über eine längere Zeitspanne betrachtet. Etwa um das Jahr 500 v.u.Z. siedelten ungefähr 250 Millionen Menschen auf dem Planeten, um 1700 u.Z. waren es ca. 500 Millionen. Das heißt, in einem Zeitraum von 2200 Jahren hat sich die Menschheit lediglich verdoppelt. Danach, von 1700 bis 1950 kamen 2 Milliarden Menschen hinzu, was bereits einer Steigerung vom Fünffachen in 250 Jahren entspricht, während die folgenden nicht einmal 70 Jahre genügten, um die heute 7,5 Milliarden zu erreichen – fünf Milliarden zusätzliche Menschen oder dreihundert Prozent Zuwachs in weniger als einem Menschenleben! Sehr eindrucksvoll lässt sich dieser explosionsartige Anstieg in einer Kurve darstellen, die die berühmte Hockeyschläger-Form zu erkennen gibt. Zunächst verlief die Entwicklung zwei Jahrtausende kaum merklich bergan und machte dann plötzlich in äußerst kurzer Zeit einen Sprung nach oben in schwindelerregende Höhe. Oder in jährlichen Wachstumsraten ausgedrückt: während der 2200 Jahre von 500 v.u.Z. bis 1700 u.Z. waren es jährlich etwa 0,045 Prozent, von 1700 bis 1950 schon 2 Prozent und in den letzten knapp 70 Jahren mehr als 4,3 Prozent jährlich. Um auf diese Entwicklung angemessen einzugehen, ist ein "gedanklicher Sprung voran" erforderlich, indem wir Überlegungen darüber anstellen, wie eine Anpassung der Lebensbedingungen an derartig viele Menschen auf einer nur unwesentlich größeren nutzbaren Fläche und, im historischen Maßstab, binnen "Sekundenfrist" funktionieren soll.

Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Erdbevölkerung mehr als verdreifacht

Wenn der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Lebensbedingungen überhaupt ernsthaft diskutiert wird, taucht meist ein Argument auf, das nicht so stichhaltig ist, wie es zunächst erscheint. Denn, so wird behauptet, der "technische Fortschritt" habe es möglich gemacht, dass nun sehr viel mehr Menschen auf gleicher Fläche anständig, einige sogar sehr viel besser als früher, leben können. Der Blick auf die Silhouetten unserer Städte belege dies eindrucksvoll: Wo früher meist ein-, selten zweistöckige Wohnhäuser standen, erblickt man heute Hochhäuser mit zig Etagen und der klaren Botschaft, dass auf gleicher Fläche jetzt viel mehr Menschen unterkommen. Das stimmt natürlich; aber die erheblich größere Bevölkerungsdichte verlangt eine sehr viel ausgeprägtere Rücksichtnahme auf die "Nächsten" und zwingt zu einer Gesinnung des Teilens, die "von Natur aus" wohl nicht zu erwarten ist. Wenn, wie seit Beginn der Massenproduktion geschehen, die Zergliederung der Arbeitsprozesse so weit getrieben wird, dass alle daran Beteiligten praktisch gar keinen Einfluss mehr auf das Gesamtergebnis ihrer Arbeit haben (sogar die sogenannten Topmanager nicht), dann müssen die "Errungenschaften" des Systems reguliert werden; denn ein passender Umgang damit ergibt sich nicht von allein – auch nicht durch die "Kräfte des Marktes". Nicht nur die sich direkt aus dem gewaltigen Bevölkerungswachstum ergebenden, sondern viele andere Umwälzungen in unserer Epoche richten ganz neue Herausforderungen an das Zusammenleben; dazu gehören: die virtuelle Nähe durch die elektronische Kommunikationstechnik, die größere Mobilität durch Autos, Bahnen und Flugzeuge sowie der Massenkonsum von überflüssigen Dingen, für die ein Bedarf im Wege einer Gehirnwäsche ähnelnder Werbung sogar erst geschaffen werden muss; und sehr bald wird die Sprengung der klassischen Erwerbstätigkeit durch die Entwicklung, die unter dem Stichwort "Internet der Dinge" zusammengefasst wird, eine Revolution der gesamten Lebensverhältnisse auslösen. Die industrielle Landwirtschaft erzeugt zwar – kurzzeitig – erheblich mehr Nahrungsmittel als der naturgerechte Anbau von Pflanzen oder die artgerechte Haltung von Tieren, doch wir zerstören damit die Ackerböden, verseuchen das Grundwasser und verändern das Klima (die klimatischen Folgen der verfehlten Landwirtschaftspolitik sind deutlich dramatischer als die durch die Zunahme von CO2 in der Atmosphäre); außerdem gefährden wir unsere Gesundheit durch falsche Ernährung. Sozusagen allen technischen Errungenschaften gemeinsam ist eine Flut von Abfällen, woran der "Stoff der Moderne", das Plastikmaterial, einen herausragenden Anteil hält. All diese "Errungenschaften" verlangen eine daran angepasste Lebensweise, die immerwährende Rücksichtnahme und Bereitschaft zum Teilen voraussetzt. Die hohe Bevölkerungsdichte und die weiter verfeinerte Arbeitsteilung erzeugen obendrein Stress und verstellen den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge, was unter anderem ganz entscheidend zur häufig beklagten "Entpolitisierung" der Menschen beiträgt. Sie resignieren, weil sie die Zusammenhänge nicht durchschauen, am öffentlichen Geschehen keinen Anteil haben und auf ihre Bedürfnisse kaum Rücksicht genommen wird. Zu beobachten ist daher statt der erforderlichen Stärkung des Gemeinschaftlichen ein erschreckend verbreiteter Hang zum Eigennutz.

Ein passender Umgang damit ergibt sich nicht von allein, auch nicht durch die "Kräfte des Marktes"

Je dichter die Menschen aufeinander hocken und je geringer ihre Möglichkeiten werden, sich zurückzuziehen oder Unbilden auszuweichen, desto bedeutender wird die Einführung und Achtung von "Spielregeln". In Regionen mit großer Bevölkerungsdichte stoßen individuelle Bedürfnisse und Ansprüche immer häufiger auf die anderer und verschärfen den uralten Konflikt, der dadurch entsteht, dass der Drang nach Freiheit des Einzelnen ziemlich oft und manchmal heftig auf den des Nachbarn stößt und nicht selten schwere Konflikte auslöst – auch Kriege. Deshalb gehört das Abwägen von individuellen Rechten gegenüber den Pflichten zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten, deren Erfüllung wiederum Basis für die Existenz persönlicher Freiheit möglichst aller Bürger ist, zum Wesentlichen dessen, was der Politik zur Aufgabe gestellt ist. Und Politik muss, zumindest in einer demokratisch organisierten Gesellschaft, den Vorgaben der Verfassung folgen. Also ist zu allererst folgende Frage zu beantworten: Genügen die "Spielregeln", die wir in unserem Rechtssystem vereinen (Verfassung und Gesetze), wenigstens den bereits erkennbaren Anforderungen im 21. Jahrhundert?

Außerdem ist zu beachten, dass sich die rasant angestiegene Bevölkerungsdichte nicht "zurückdrehen" lässt. Wir müssen daher Wege finden, die uns zu dem Zustand führen, dass wir trotz der hohen "Besatzdichte" auf unserem Planeten friedlich miteinander umgehen können. Die Lebenserfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse der Hirnforschung sagen uns jedoch, ein Appell an die Vernunft wird nicht reichen, um uns zu der Einsicht zu bewegen, unsere Lebensweise neuen Erfordernissen anzupassen. Wir Menschen – alle – können schon seit geraumer Zeit nur dann in Eintracht leben, wenn wir strenge Regeln einführen und sicherstellen, dass sie befolgt werden. Dies wird heute bei 7,5 Milliarden Menschen, und bald mehr, immer dringlicher! Doch gleichermaßen gilt, Menschen folgen Regeln nur, solange sie von deren Notwendigkeit überzeugt sind; denn erzwungenes Verhalten ohne diese Einsicht ist nur mit Gewalt und auch dann nicht auf Dauer durchzusetzen. Diese Ausgangslage schreit förmlich nach Demokratie, der einzigen Regierungsform, die es den Bürgern nahelegt, durch den Besitz eigener Mitwirkungsrechte auch Verantwortung zu übernehmen und darüber zu der Einsicht zu gelangen, dass Gemeinschaft und Einzeldasein sich in Einklang zueinander bringen lassen, wenn grundlegende Regeln eingehalten werden.

Menschen folgen Regeln nur, solange sie von deren Notwendigkeit überzeugt sind

Die Vielzahl und das Ausmaß der Probleme, denen wir Heutigen gegenüberstehen, verführt zu einer sehr menschlichen Reaktionsweise, nämlich ihnen auszuweichen, sie gar zu verdrängen. Dieser "Veranlagung" lässt sich nicht begegnen, indem man alle Probleme gleichzeitig zu lösen versucht. Vielmehr müssen Schritte hin zu Veränderungen klein genug sein, um verstanden zu werden, und sie müssen Grundlegendes behandeln, um überzeugend zu wirken. Lösungsversuche sollten an den Stellen ansetzen, wo das Verständnis für die Problematik leicht genug zu vermitteln ist; denn nur so kann ein Bewusstseinswandel eintreten, der die Haltung der Mitwelt gegenüber zu ändern verspricht. Um dies zu verdeutlichen, mag eine für jedermann sichtbare Erscheinung unserer Tage beispielgebend sein: Die Straßen unserer Städte sind vollgestopft mit "laufendem und ruhendem Verkehr", und das Fernstraßennetz ist chronisch überlastet. Darüber ist allenthalben lautes Stöhnen zu vernehmen; doch die Frage, wie lange – und zurzeit sogar noch in weiter steigendem Maße – dieser Zustand zu ertragen ist, wird seltsamerweise kaum gestellt (In Deutschland "bevölkern" heute etwa 56 Millionen Kraftfahrzeuge die Straßen; abzusehen scheint, wann es genauso viele Autos wie Einwohner geben wird). Gelangten wir zu der Einsicht, dass die Probleme im Straßenverkehr nur gelöst werden können, wenn der Trend zum Individualverkehr gestoppt wird und stattdessen vorrangig öffentliche Transportmöglichkeiten ausgebaut werden, dann dürfte nicht nur das "Verkehrsproblem", sondern mit ihm eine ganze Reihe von Gesellschafts- und Umweltproblemen "kollateral" zur Lösung anstehen. Denn wer darüber nachdenkt und Schlüsse zu ziehen versucht, wie das Projekt "Öffentlicher Verkehr" zu gestalten sei, der wird auch einige andere Fragen zu behandeln haben, zum Beispiel: Welche Ursachen führten zu der "Überzeugung", dass persönliches Fortbewegen mit einem Gerät erfolgen soll, dessen Konstruktion den irrwitzigen Zustand schafft, dass man "anderthalb Tonnen Blech [und anderes Material] bewegen muss, um siebzig Kilogramm Fleisch zu befördern"? (So drückt das Frederic Vester in seinem Buch "Ausfahrt Zukunft" aus, das er 1990 veröffentlichte und das in beeindruckender Weise darlegt, wie eine in die Zukunft gerichtete Verkehrspolitik zu gestalten sei – immer noch aktuell und lesenswert!) Welche Schäden im ökologischen, aber auch ökonomischen Umfeld sind dem Individualverkehr zuzurechnen, und welche Kosten entstehen der Allgemeinheit dadurch? Welche Auswirkungen hat der Stress, den die Verkehrsdichte bewirkt, auf die Beziehungen der Menschen untereinander? Wie sollte die "Arbeitswelt" gestaltet sein, damit die heute erforderliche "Mobilität" der Arbeitnehmer geringer werden kann? Welche Freiheitsrechte werden durch den Individualverkehr erfüllt und welche werden beschränkt? Oder auch, welche Veränderungen der Rechtsordnung sind erforderlich, um eine Neugestaltung des Verkehrssystems zu ermöglichen? – Wollen wir solche Fragen zufriedenstellend beantworten, müssen wir die Grundlagen des gemeinschaftlichen Lebens im Staate daraufhin untersuchen, ob sie dafür tauglich sind.

Unsere Verfassung fordert sogar, eine öffentliche Debatte dazu anzuregen

So führt ein Versuch der Beantwortung dieser und mit ihnen verbundener weiterer Fragen zu der sie alle betreffenden Frage, nämlich der nach der politischen Verfasstheit der Gesellschaft, ausgedrückt in der Verfassung; denn grundlegende Bedingungen sollten darin verankert sein. Und wenn, nachdem wesentliche Änderungen der Lebensbedingungen eintraten, sich Lücken oder Mängel offenbaren, ist es Aufgabe der politischen Akteure, die zu schließen beziehungsweise zu beheben. Unsere Verfassung fordert sogar, eine öffentliche Debatte dazu anzuregen, indem sie bestimmt"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit". Man kann dies nur als Verpflichtung zu einer ständigen Aussprache mit der Bevölkerung verstehen und muss fragen, ob die Parteien in den bisher "praktizierten" fast siebzig Jahren ihre Aufgabe hinreichend erfüllt haben. An einer in diesem Sinne erfolgreichen Arbeit der Parteien sind aber ernste Zweifel erlaubt. Die Politiker haben sich in eine eigene virtuelle Welt zurückgezogen und den Kontakt zu den Bürgern weitgehend verloren. Das wird im derzeitig als "Wahlkampf" zelebrierten Rangeln um Posten besonders deutlich; jedenfalls entsteht nicht der Eindruck, es gehe um die "politische Willensbildung" (Das "TV-Duell" zwischen Frau Merkel und Herrn Schulz, das wie ein Boxkampf in einer Sportschau medial ausgeschlachtet wurde – und im Sportreporter-Jargon kommentiert –, unterstrich nur, dass es eigentlich ausschließlich um die Postenvergabe geht). Den besten Beleg für ihr Versagen liefern die Parteien jedoch selbst mit ihren an Unverschämtheit grenzend dämlichen Sprüchen, die sie dem "Wahlvolk" präsentieren, um deren Stimmabgabe zu ihren Gunsten zu erreichen. Dazu ein paar Kostproben: Die CDU wirbt mit der Parole: "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben"; die SPD meint: "Unsere Familienpolitik ist genauso: laut und fordernd"; die Grünen klären uns auf: "Eine bessere Zukunft kommt nicht von allein"; die Linke setzt Punkte: "Sozial. Gerecht. Frieden. Für Alle."; die FDP verspricht: "Selbstbestimmt in allen Lebenslagen"; und der AfD fällt ein: "Burkas? Wir steh'n auf Bikinis". Kurt Tucholsky fragte schon 1931: "O hochverehrtes Publikum, sag mal: bist du wirklich so dumm?" – Ein Aufschrei der Entrüstung sollte übers Land schallen, zumal "der Wähler" die Verbreitung dieses Schwachsinns auch noch mit seinen Steuern bezahlt. Doch "der Wähler" scheint bereits daran gewöhnt zu sein, dass er mit dümmlichen Parolen abgespeist wird, weshalb ihn der Unfug nicht sonderlich zu stören scheint. Vergleicht man allerdings die politische Realität mit den hehren Grundsätzen, denen die Parteien sich gemäß Parteiengesetz verpflichtet sehen sollten (insbesondere § 1, Absatz 2), dann muss man ihnen zurufen: weit gefehlt!

Ein ständig geübtes selbstloses Handeln darf wohl von keinem Menschen verlangt werden

Zu klären ist daher, wie es zu der "Fehlentwicklung" im deutschen Politikbetrieb kommen konnte. Denn die Vorgaben der Verfassung und des Parteiengesetzes sollten eigentlich dafür sorgen, freie Abgeordnete zu küren, die als "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", in einem ständigen Dialog mit der Bevölkerung stehen. Sie sollen deren Probleme aufgreifen und daran mitwirken, das Streben nach Eigennutz mit den Erfordernissen des Gemeinwohls abzugleichen, wozu gehört, dass sie entsprechende Vorschläge ausarbeiten und den Bürgern zur Diskussion anbieten. Man nähert sich einer Antwort auf die Frage nach den wünschenswerten Wesensmerkmalen der Abgeordneten am besten, wenn man sich klarmacht, dass die Vorgaben der Verfassung und des Parteiengesetzes einen Typus Politiker verlangen, der geistig und materiell unabhängig, charakterlich gefestigt sowie in Ausübung seiner Tätigkeit vollkommen selbstlos ist. Nun kann man einschränkend anmerken, er brauche lediglich tendenziell altruistisch zu sein, weil ein ständig geübtes selbstloses Handeln wohl von keinem Menschen verlangt werden darf. Die zu beobachtende Wirklichkeit zwingt jedoch zu dem Schluss, dass davon nicht einmal annäherungsweise auszugehen ist.

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!

Erfahrungsgemäß deutet eine "Fehlentwicklung" eines Prozesses auf einen Irrtum im System hin; daher ist anzunehmen, in unserer Verfassung steckt womöglich ein Mangel, der dafür verantwortlich ist, dass die Parteien, vertreten durch deren Funktionäre, ihren Auftrag gar nicht erfüllen können; böse Absicht muss dann nicht unterstellt werden. Wolfgang von Goethe wünschte sich: "Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! / Denn das Allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen." Er überschrieb sein Gedicht mit "Das Göttliche" und betont damit zweierlei: Zum einen sagt er nicht, der Mensch ist "edel, hilfreich und gut", sondern er sei es, womit er ausdrückt, dass es sich um einen Wunsch handelt. Und zum anderen verweist die Überschrift darauf, dass der Wunsch praktisch nicht zu erfüllen ist, da er etwas Göttliches, Übermenschliches, meint. In einem ähnlichen Zusammenhang müssen wir die verfassungs- und gesetzmäßigen Verpflichtungen der Abgeordneten sehen. Allerdings handelt es in der Verfassung um konkrete Anweisungen und keine idealistischen Wünsche eines Großdichters! Denn es heißt nicht, sie mögen "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sein, sondern sie sollen es; und es handelt sich nicht um "Göttliches", sondern um praktische Anweisungen zur Gestaltung von Politik. Offenbar können "menschliche" Abgeordnete das aber gar nicht leisten. Damit offenbart sich der "Fehler" im System so: Die repräsentative Demokratie benötigt, um zu funktionieren, tatsächlich Repräsentanten, die übermenschlich befähigt sind, ihre persönliche "Lebensplanung" auszublenden und sich selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Solche Menschen gibt es jedoch nicht, zumindest nicht in ausreichender Zahl. Weil dies hinzunehmen ist, wurden in der "Verfassungswirklichkeit" stillschweigend, wahrscheinlich sogar unbewusst, "Korrekturen" vorgenommen, die das gewollte Ziel der repräsentativen Demokratie am Ende förmlich pervertieren. Das soll im Folgenden kurz erläutert werden.

Die "Verfassungswirklichkeit" sieht nämlich wie folgt aus: Sowohl beim Verfahren der Direktwahl (1. Stimme) als auch bei dem der Parteienwahl (2. Stimme) wird das Votum des Wählers für Personen abgegeben, die vom Parteienmanagement ausgesucht sind (eine Mehrheit wählt, was eine Minderheit zur Wahl stellt). Außerdem wurde die Forderung nach materieller Unabhängigkeit von Abgeordneten dadurch erfüllt, dass man sie durchaus üppig bezahlt, und zwar aus Steuermitteln. Das hat zur Folge, dass Berufspolitiker die Szene beherrschen, die ihren Job aber nicht den Wählern, den Steuerzahlern, verdanken, sondern den Parteiführungen. Der Wähler trifft de facto nur eine Negativauswahl mit der Folge, dass nicht alle von den Parteien Aufgestellten einen Job erhalten. Die Chance, nicht unter denjenigen zu landen, die bei der Wahl "durchfallen", kann nur dadurch verbessert werden, dass der Kandidat entweder für ein Direktmandat in einem Wahlkreis vorgeschlagen wird, wo seine Partei sehr wahrscheinlich die Stimmenmehrheit erhält, oder dass er auf der Liste möglichst weit oben angesiedelt ist ("Wichtige" Parteifunktionäre werden dadurch abgesichert, dass sie neben der Kandidatur für ein Direktmandat auch einen Spitzenplatz auf der Liste erhalten). Darüber bestimmt allein die Partei! Diese Konstellation führt aber zwangsläufig dazu, dass der Abgeordnete eben doch an Aufträge und Weisungen gebunden und nicht nur seinem Gewissen unterworfen ist, sondern dass er Erfüllungsgehilfe einer Organisation ist, deren "Geschäftsmodell" aus dem Streben nach möglichst viel Macht und Privilegien sowie gutdotierten Posten besteht. Erfolgreich im Politikbetrieb kann deshalb nur werden, wer ein braver "Parteisoldat" ist. Raum für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung der Bürger "draußen im Lande" bleibt da nicht; denn wie für die meisten Menschen gilt auch für Politiker: "Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe". Im politischen Geschäft verschärft sich diese Zwangslage noch dadurch, dass ein Wechsel zur Konkurrenz fast ausgeschlossen ist, der Berufspolitiker also seinen Beruf an den Nagel hängen muss, wenn er den Parteioberen nicht stromlinienförmig genug erscheint. Alle Beteuerungen, diese Darstellung sei übertrieben, ja falsch, da sich die Abgeordneten nach besten Kräften bemühten, ihren Auftrag verfassungsgemäß zu erfüllen, sind schlicht lebensfremd. Bestätigung hierfür liefert beispielsweise der Fraktionszwang im Parlament, womit Abgeordnete von ihrer Führungsspitze gezwungen werden, sich bei Abstimmungen vorher festgelegten Beschlüssen zu unterwerfen.

Darüber bestimmt allein die Partei!

Noch wirksamer ist aber ein Zwang, der eher indirekt ansetzt: Wer "in der Politik" (in der Partei) Karriere machen will, muss sich frühzeitig bei seinen Oberen andienen und ihnen zeigen, dass er die Parteilinie übernimmt, sprich: bereit und in der Lage ist, die Vorgaben der Führung, bedingungslos zu erfüllen. Diese Normen zu akzeptieren, bedingt einen Typ Mensch, der die im Parteibetrieb geforderten Verhaltensregeln womöglich ein Berufsleben lang praktiziert. Man nennt dieses Verhalten Achtung der Parteidisziplin, die, wenn auch mit moderaterem Umgangston als etwa beim Militär, strikten Gehorsam gegenüber den "Vorgesetzten" fordert. Die Bereitschaft dazu können viele Menschen sicherlich für kurze Zeit aufbringen; aber sein Leben lang und in alle Lebensbereiche wirkend kann dies nur jemand ertragen, dessen Wesen entsprechend "konstruiert" ist. Außerdem wird vom "Parteisoldaten" erwartet, dass er auf persönliche Initiative verzichtet. Dies mag ebenfalls zeitlich begrenzt und auf ein konkretes Ziel gerichtet den meisten Menschen gelingen; doch immer und überall kann das nur jemand leisten, der "von Haus aus" über wenig Phantasie und Mut verfügt und stattdessen die Fähigkeit mitbringt, die innerparteilichen Strömungen und "Ansagen" zu erspüren, und darüber hinaus ständig zur Intrige bereit zu sein, um seinen Weg in der Partei abzusichern. Diese Auswahlkriterien führen dazu, dass Menschen mit Fantasie, Initiativkraft, Wissen und Lebenserfahrung, also mit den Merkmalen, die eigentlich zum Abgeordneten befähigen, den Anstieg auf der Parteileiter gar nicht erst beginnen, beziehungsweise, wenn sie es versuchen, recht bald aufgeben werden. – So müssen wir ein System hinnehmen, dessen Akteure sich von wichtigen Pflichten unseres Grundgesetzes verabschiedet und sich eine "Verfassungswirklichkeit" gebastelt haben, die nur ihren eigenen Ansprüchen an den Politikbetrieb genügt. Tatsächlich überträgt man den Abgeordneten ein imperatives Mandat, das nur "optisch" ein freies ist, weil die existenzielle Abhängigkeit von der sie entsendenden Partei ihnen eine gut getarnte Zwangsjacke anlegt. Dies widerspricht ganz eindeutig dem Geist unseres Grundgesetzes, weshalb wir von einer Verfassungsuntreue sprechen müssen, die durch geschönte Darstellung versteckt wird. Denn der imperative Charakter des Mandats wirkt hinter den Kulissen der formal freien Repräsentanz der Abgeordneten.

Die Aufgabe, diesen Missstand zu beheben, lässt sich nur erledigen, indem der Fehler im System erkannt und korrigiert wird. Wir stoßen hier auf einen Widerspruch, der sich darin offenbart, dass Personen gewählt werden, die einen Auftrag erfüllen sollen, dem sie gar nicht gewachsen sind, gar nicht gewachsen sein können. Daraus müssen wir schließen, das repräsentative, parlamentarische Verfahren der Demokratie, wie es derzeit praktiziert wird, funktioniert nicht. Es muss abgelöst werden von einem Verfahren, das den Bürgern echte Mitsprache in wichtigen Sachfragen gewährt, und wo dort, da Repräsentanten aus Zweckmäßigkeitsgründen zu wählen sind, nicht die Parteien bestimmen, welche Leute als Abgeordnete zur Wahl stehen. Die Macht der Gewohnheit hat dafür gesorgt, den Menschen die "Gewissheit" zu vermitteln, nur Parteien seien in der Lage, das politische Geschäft zu betreiben. Deshalb fällt es den meisten Bürgern so schwer, diesen Zustand infrage zu stellen, geschweige denn sich mit dem Gedanken zu befassen, wie eine demokratische Gesellschaft ohne Parteien aussehen könnte. Selbst in den meisten Diktaturen herrschen Parteien, allerdings jeweils nur eine Partei, die in allen Fragen der Politik das entscheidende Wort führt (was im Übrigen dem Begriff Partei widerspricht, der ja meint, dass es sich nur um einen Teil handelt). Fordert man aber eine Begründung für das Alleinstellungsmerkmal der Parteien in einer Demokratie, dann sind überzeugende Argumente Mangelware, weshalb der Frage meistens mit einer Gegenfrage ausgewichen wird, nämlich der, wie Politik denn ohne Parteien funktionieren könne. Das mag als rhetorischer Trick durchgehen, ist aber keine Antwort.

Selbst in den meisten Diktaturen herrschen Parteien

Einen Ausweg aus dem Dilemma der repräsentativen Demokratie werden wir nur finden, wenn wir zwei grundlegende Korrekturen an unserer Verfassung vornehmen: Erstens muss festgelegt werden, dass alle wichtigen Entscheidungen direkt von den Bürgern zu treffen sind, und zweitens müssen Abgeordnete die gesellschaftlichen Gruppen, nicht Parteien vertreten. Dazu wird es erforderlich sein, einen Katalog von Angelegenheiten zusammenzustellen, in dem solche Problemkreise enthalten sind, die durch Bürgerentscheid zu erledigen sind. Die Festlegung darauf sollte nach ausführlicher öffentlicher Debatte erfolgen, um eine möglichst große Mehrheit der Bevölkerung dafür zu gewinnen. Die Technik der elektronischen Kommunikation erlaubt es heute, auch kurzfristig "Handlungsfähigkeit" zu sichern. Für alle politischen Angelegenheiten, die nicht per Bürgerentscheid zu regeln sein sollen, müssen Parlamente mit Abgeordneten zuständig sein, die nach dem im Folgenden kurz skizzierten Schema gebildet werden. Im Parlament versammeln sich Vertreter gesellschaftlicher Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass jeder Bürger jeweils nur Mitglied einer dieser Gruppen sein kann; zum Beispiel: Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, Auszubildende und Studierende älter als 18 Jahre, abhängig Beschäftigte, Selbständige und Unternehmer, Hausfrauen und -männer, Rentner und Pensionäre; Arbeitslose werden der Gruppe zugerechnet, der sie vor Verlust ihres Arbeitsplatzes angehörten. Die Anzahl der Sitze für die Vertreter der einzelnen Gruppen wird gemäß deren Anteil an der Zahl aller Wahlberechtigten festgelegt, und im Parlament sind entsprechend viele Plätze für die verschiedenen Gruppen "reserviert". Gewählt werden kann jeder Bürger, der das Wahlrecht besitzt, allerdings soll die Mitgliedschaft auf eine Legislaturperiode beschränkt sein. Die Abgeordneten sind ehrenamtlich tätig und werden wie Schöffen "dienstverpflichtet". Arbeitgeber müssen gewählte Abgeordnete für den "Dienst" freistellen und erhalten aus Steuermitteln eine Kompensation für die dadurch entstehenden Mehrkosten.

Die parlamentarische Tätigkeit wird komplett in die Kommunalparlamente verlegt

Damit das System "funktioniert", muss noch eine weitere Verfassungsänderung vorgenommen werden. Es sollte nämlich zukünftig nur kommunale Parlamente geben, die die Bundesangelegenheiten dadurch erledigen, dass jede überregional wirksame Entscheidung durch Stimmabgabe der Kommunalparlamente mehrheitlich unter den Kommunen gefällt wird, und zwar wird jede Kommune eine Stimme abgeben (gemäß des innerhalb des Kommunalparlamentes getroffenen Entscheids). Um das zu ermöglichen muss das herrschende föderale Prinzip von Bund und Bundesländern aufgegeben werden; die Länderparlamente und der Bundestag sind aufzulösen, und die parlamentarische Tätigkeit wird komplett in die Kommunalparlamente verlegt. Zum Verständnis dieser Organisation gehört die Feststellung, dass die Verwaltung selbstverständlich Bundes-, Landes- und Kommunalzuständigkeiten kennt und entsprechend aufgebaut ist. Ihre Arbeit wird von Aufsichtsgremien kontrolliert, die wie die Kommunalparlamente aus Vertretern der gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzt sind. – Diese Bemerkungen sind als Anregung gemeint, um das Nachdenken über ein demokratisches System zu beflügeln, das ohne Parteien auskommt. Deshalb fehlen viele Einzelheiten, über die zu diskutieren sein wird, was jedoch erst dann sinnvoll ist, wenn die grundsätzliche Bereitschaft besteht, solchen Gedanken überhaupt nachzugehen (Interessierte seien auf die Schrift "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Peter Jacobi, 2008, hingewiesen, wo ein System vorgestellt wird, dass nach den hier angerissenen Kriterien gestaltet ist).

Das "quasi-imperative" Mandat ist ein Merkmal ihres verfehlten Wirkens

Doch es sei noch einmal betont: Zunächst ist es erforderlich, eine Art "Grundlagenforschung" zu betreiben, um die Strukturen der herrschenden Organisation unseres Staatswesens klar zu markieren, und um die "Gesetze" zu finden, nach denen gesellschaftliches Zusammensein der Menschen zu regeln ist. Damit kann eine Organisation entwickelt werden, die den Herausforderungen an ein friedfertiges Dasein unter den erschwerten Bedingungen der hohen Bevölkerungsdichte gerecht wird. Und sie muss es ermöglichen, kurzfristig auf Veränderungen der Umgebungsbedingungen zu reagieren. Die ideologisch geprägten Parteien, alle, vermögen dies aus zwei Gründen nicht zu leisten: Erstens sind Ideologien (wie Religionen) aus Vergangenem geformt und viel zu starr, um "zukunftsfähig" zu sein und um die dafür erforderliche Flexibilität zu gewährleisten; und zweitens können sie nur "funktionieren", wenn sie selbst undemokratisch organisiert sind. Das "quasi-imperative" Mandat ist ein Merkmal ihres verfehlten Wirkens und sollte Anstoß sein, nach Wegen zu suchen, um den verfassungsrechtlichen Mangel zu beheben. Weil aber noch nicht genügend "Diskussionsbedarf" zu erkennen ist, werden wir uns wohl nach der Bundestagswahl auf eine Fortsetzung des jede Debatte und auch jeden Fortschritt lähmenden Zustandes der sogenannten Großen Koalition einstellen müssen. Vielleicht liegt darin, dass dann doch mehr Bürger dieser Republik erkennen, welche Schwächen im System auszugleichen sind, die Chance, dass endlich über neue Strukturen öffentlich und hörbar gesprochen wird.

Der Beitrag ist auch veröffentlicht in: zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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