Sind das Demokraten?

Wahlen Gedanken darüber, was die Anforderungen an eine funktionierende "richtige" Demokratie sind, machen sich nur verschwindend Wenige, weil ja alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger wählen gehen können.

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"Wähler! Vergesst nicht die Wohltaten, die der Kaiser unserer Gemeinde bei seinen zahlreichen Besuchen hat zuteilwerden lassen: Zuwendungen für die Armen, für die Kirche, das Geschenk der Feuerwehrpumpe. Wähler! Ihr erweist dem Kaiser dadurch Eure Dankbarkeit, dass Ihr Eure Stimme Monsieur Clary gebt, welcher durch die Regierung empfohlen wurde und sich um unser Département verdient gemacht hat. Vergesst nicht, dass er im Begriff ist, unserer Gemeinde erneut behilflich zu sein, indem er die Summe von zweitausend Francs für die Kirche erwirkt hat, die wir selbst nicht aufbringen können. Wähler! Gebt Eure Stimme Monsieur Clary. Er allein vertritt die Gesinnung des Kaisers, Eures erlauchten Wohltäters."
Aufruf des französischen Bürgermeisters von Vouzon (Frankreich) am 11.Februar 1852; zitiert aus Luciano Canfora "Eine kurze Geschichte der Demokratie", 2004

Wahrscheinlich wird die spontane Reaktion zu diesem "Aufruf" sein: Hier handele es sich um einen 170 Jahre alten Text, der keinen Bezug zu den heutigen Verhältnissen erlaube. Löst man jedoch die zeitgeschichtlichen Besonderheiten heraus, tritt eine verblüffende Ähnlichkeit zu den aktuellen politischen Zuständen ans Licht. Um die Vergleichbarkeit an einem Beispiel zu verdeutlichen, sei auf folgendes hingewiesen: Im neunzehnten Jahrhundert genauso wie jetzt im einundzwanzigsten wurde und wird als selbstverständlich angenommen, dass der Bürgerschaft mit der Teilnahme an einer Wahl ein Mitspracherecht im gesellschaftlichen Raum zugestanden sei. Tatsächlich wurden aber seinerzeit genauso wie heute immer nur Personen gewählt, die andere den Abstimmenden zur Wahl empfahlen. Damals in Frankreich machte das die kaiserliche Regierung Napoleons III, heute tun es die Führungen der Parteien. Und die so Gewählten werden für die nächste Legislaturperiode im Auftrage ihrer "Entsender" tätig, obwohl sie behaupten, nur ihren Wählern gegenüber verantwortlich zu sein. Aber: "Wes Brot ich esse, des Lied ich singe". – Vergleicht man die Wahlordnungen von damals mit denen von heute, so besteht im Prinzip hinsichtlich des Angebots zur Wahl von Delegierten also kein Unterschied: einst handelten die Abgeordneten im Auftrag der kaiserlichen Herrschaft, heute im Auftrag ihrer Parteiführungen. Nun ist sicherlich dem Umstand, dass die Parteien bei uns zueinander in Konkurrenz antreten, ein mäßigender Einfluss zuzugestehen; autokratische Tendenzen haben in modernen parlamentarischen Demokratien mit Mehrparteiensystem gewöhnlich geringe Chancen sich durchzusetzen (Doch schauen wir nach Osteuropa oder nach Asien von der Türkei bis China, aber auch nach Nord- und Südamerika, wo formal demokratische Systeme existieren, dann sind Bedenken anzumelden, ob die ausgleichende Kraft der Konkurrenz durchschlagend genug ist, um autokratische Strömungen zu verhindern). – Der Weg zur Wahl von Abgeordneten war jedenfalls seinerzeit dem heutigen recht ähnlich: Eine kleine Gruppe von Interessenvertretern bestimmt, wer als Parlamentarier "Volksvertreter" werden soll, und das "Volk" findet unter den ihm angebotenen Personen nur solche, die vorher in kleinen Zirkeln gekürt wurden. Eine Mehrheit wählt schließlich aus einem beschränkten Angebot Leute, die ihr eine Minderheit zur Wahl bereitstellt. Dies soll sozusagen dem Einstieg ins Thema dienen. Die Frage nach den "wirklich" demokratischen Bedingungen muss allerdings ein wenig gründlicher untersucht werden:

Im Bewusstsein der Bevölkerung unserer parlamentarisch ausgerichteten Republiken herrscht bedauerlicherweise eine mangelhafte Kenntnis der demokratischen Grundidee vor. Deshalb ist es wichtig, das Wesen der Demokratie auszuleuchten, bevor damit begonnen werden kann, zu prüfen, inwieweit die heute geübte Praxis der Vorstellung demokratischer Ordnung entspricht. Hinweise auf historische Vorbilder zur Erläuterung des Begriffes Demokratie sind allerdings nur sehr begrenzt hilfreich, weil bereits zu Zeiten der "alten Griechen", die uns das Wort hinterließen, sehr eigenwillige und unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie kursierten. Solche Eigenwilligkeit zieht sich durch die politischen Erörterungen der folgenden mehr als zwei Jahrtausende bis in unsere Epoche, wo sogar streng autokratische Regierungen ihr Regime als demokratisch ausgeben, wie beispielsweise die chinesische Führungsriege, die ihren Staat eine "Volksrepublik" nennt.

"Sogar streng autokratische Regierungen geben ihr Regime als demokratisch aus"

Die rein sprachliche Herkunft des Wortes liefert jedoch eine nützliche Einsicht: Übersetzt man die beiden altgriechischen Wörter "demos" und "kratos", so führt das zu den Begriffen "Staatsvolk" und "Herrschaft"; demnach ist Demokratie "des Staatsvolkes Herrschaft". Und die Bevölkerung innerhalb der Grenzen eines Staates bildet, in der heute gebräuchlichen Anwendung des Begriffes, das "Staatsvolk". Dem "Staatsvolk" wiederum ist, versteht man Demokratie im unverfälschten Sinne, das Regieren übertragen. Nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit setzen die "regierenden" Bürgerinnen und Bürger eine Verwaltung ein, die im Auftrag des "Staatsvolkes" nach dessen Vorgaben zu handeln hat. Oder anders ausgedrückt: Abgeordnete und Regierende sind Erfüllungsgehilfen derjenigen, die die Staatsgewalt innehaben, die Wahlberechtigten einer Gesellschaft. Die zusammen sind der "Souverän" – wörtlich: der "darüber Befindliche". Diese Ableitung erlaubt den Schluss, dass eine demokratisch organisierte Gesellschaft keine Herrschaft duldet außer der, die das "Staatsvolk" selbst ausübt. Da die Bevölkerung als Körperschaft einzelne Handlungen nicht selbst ausführen kann, muss sie Verwalter einsetzen, die zwar Handlungsvollmacht besitzen, in allen wichtigen Fragen jedoch einen Auftrag zum Handeln erhalten müssen.

Diese Grundregel wird von den meisten Bürgerinnen und Bürgern nicht verstanden, weil sie nur selten die Bereitschaft aufbringen, die Herrschaft des "Staatsvolkes" einmal anders als in der heute üblichen Weise, der Abtretung der Macht an Vertreter, zu betrachten. Denn die Behauptung, Regieren sei in Demokratien nur möglich, wenn die Bevölkerung die ganze Staatsgewalt wenigen Personen überträgt, die diese dann eigenständig vollziehen, ist so tief ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass ihr mit Aussicht auf Erfolg kaum widersprochen werden kann. Die Wählerinnen und Wähler erteilen ihren Verwaltern heutzutage aber nicht den Auftrag, in von ihnen vorgegebener Weise zu handeln, sondern sie überlassen es ihren Vertretern, die politischen Vorgaben zu machen; ein Recht, das unter Achtung demokratischer Grundsätze eigentlich allein dem "Staatsvolk" zusteht. Und obendrein nimmt das "Staatsvolk" hin, dass die Auswahl derer, die es vertreten sollen, von Funktionären der Parteien vorgenommen wird. Trägt man Kritik daran öffentlich vor, ist fast immer in Widerspruch ausschließendem Ton zu hören: ein System, in dem die Bevölkerung selbst die politischen Vorgaben formuliert, könne gar nicht funktionieren. Und bei solch einer "Erkenntnis" angelangt, wird die Diskussion beendet. Die in vielen Gesellschaften auf unserem Globus praktizierte "repräsentative Demokratie" sei eben die einzig denkbare Form einer staatlichen Ordnung, in der das Volk herrscht. Fragt man danach, in welcher Weise das Volk dann eigentlich herrschen kann, bleibt eine befriedigende Antwort gewöhnlich aus.

"Die Wählerinnen und Wähler erteilen ihren Verwaltern heutzutage aber nicht den Auftrag, in von ihnen vorgegebener Weise zu handeln, sondern sie überlassen es ihren Vertretern, die politischen Vorgaben zu machen"

Und auf die weitere Frage, welche Argumente diese Überzeugung stützen, erhält man meist Erwiderungen wie diese: Erstens heißt es, die große Mehrheit der Bevölkerung sei gar nicht in der Lage so komplizierte Angelegenheiten wie die öffentlichen zu durchschauen, weshalb dem Wahlvolk eine Mitwirkung an einzelnen politischen Entscheidungen nicht übertragen werden dürfe. Zweitens wird erklärt, dass Entscheidungen ungebührlich lange hinausgezögert werden, sollten die Bürgerinnen und Bürger ein Mitspracherecht genießen. Drittens wird eingewandt, der erforderliche Zeitaufwand der Bevölkerung, wollen alle an politischen Prozessen mitarbeiten, überfordere die verfügbare Freizeit der gewöhnlich in Arbeitsverhältnissen verpflichteten Menschen. Deshalb müssten Politiker, und zwar hauptberuflich, an ihrer statt tätig sein. Und viertens sollen Parteien mit von ihnen aufgestellten Programmen dem "Souverän" eine Orientierungshilfe geben, die ihm die Vergabe seiner Stimme an diejenige Gruppe nahelegt, deren Weltanschauung seinen Vorstellungen am nächsten kommt. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland drückt das so aus: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" (Artikel 21 GG). Dadurch wird ihnen aber kein Monopol im politischen Geschäft zugestanden; trotzdem haben sich die Parteien stillschweigend eine Alleinstellung in Sachen Politik angeeignet, indem sie auf diesen Artikel des Grundgesetzes verweisen.

Auf die Kritikpunkte, die die "Undurchführbarkeit" einer anderen als der existierenden repräsentativen Demokratie unter der Führung von Parteien belegen sollen, kann man wie folgt erwidern.

Erstens:
Die Behauptung, die meisten Leute seien nicht kompetent genug, um politische Entscheidungen selbst zu treffen, versteckt eine höchst arrogante Haltung vieler sogenannter "Gebildeter", die sich der Mehrheit der Bevölkerung geistig überlegen fühlen. Sie blicken wie die römischen Eliten der Antike auf die große Zahl der "Niederen" hinab und bedauern die "misera contribuens plebs", "das unglückliche Steuern zahlende Volk", dem man mit dem Gebrauch von Fremdwörtern lateinischen Ursprungs Ehrfurcht einflößt. Dadurch wird tatsächlich erreicht, dass die Ansicht, nur wenige "Auserwählte" könnten politische Entscheidungen fällen, sehr weit verbreitet ist. Und es führt zu einer "Selbstverständlichkeit" der Forderung, man habe die Erledigung der Aufgaben im öffentlichen Bereich den Fachleuten, den Berufspolitikern, zu übertragen. Nun sind politische Angelegenheiten aber all jene, die die Allgemeinheit, alle Bürgerinnen und Bürger eines Staates, betreffen; und es handelt sich keineswegs um Spezialitäten eines Fachbereichs. Das heißt, wer eine politische Überzeugung durchsetzen möchte, dafür eine Mehrheit gewinnen will, der muss sich so ausdrücken, dass ihn die Bevölkerung versteht. Wem es nicht gelingt, eine allgemeinverständliche Erklärung für sein Anliegen zu formulieren, dem ist entgegenzuhalten, dass er seine Vorstellungen womöglich selbst nicht hinreichend gründlich durchdacht hat. Und betrachtet man den Wildwuchs an Fremdwörtern, die den politischen Sprachgebrauch beherrschen, dann drängt sich die Vermutung auf, dass der Einsatz von sogenannten Fachbegriffen lediglich dem Ziel dienen soll, sich das "armselige Volk" möglichst weit vom Leibe zu halten. Sprich: das "Staatsvolk" soll nur in äußerst beschränktem Maße an der Entscheidungsfindung im politischen Geschäft beteiligt werden. Es darf alle vier Jahre Parteien wählen, die gemäß ihrem Anteil an Stimmen ihre Leute ins Parlament schicken. Das ist aber keine Demokratie, sondern die Herrschaft einiger aus einer kleinen Gruppe abgehobener Entscheidungsträger, die sich für die allein Befähigten halten. Früher meinte man, der Adel sei derart befähigt.

Zweitens:
Hinter dem Vorwurf, ließe man die Bürger an einzelnen Sachentscheidungen teilhaben, so zögere dies den Zeitpunkt eines Beschlusses derartig weit hinaus, dass eine politische Arbeit praktisch unmöglich gemacht werde, sind zweierlei Absichten zu vermuten: Zum einen soll eine rein technische Schwierigkeit – so sie denn überhaupt existiert – eine grundsätzliche Bedingung aushebeln, die nämlich, dass man der Bevölkerung einzelne politische Vorschläge zur Abstimmung vorlegen muss. Und zum anderen wird ausgeblendet, dass der politische Entscheidungsprozess im parlamentarischen Verfahren tatsächlich nicht schneller abläuft, als es unter Beteiligung der Bevölkerung zu erwarten ist. Denn man kann der Bevölkerung Fristen zur Stimmabgabe so setzen, dass eine Behandlung eines Sachverhalts in angemessener Zeit gewährleistet bleibt. Stattdessen erleben wir die quälend langsame und häufig durch Lobbyeinwirkung noch weiter verzögerte parlamentarische "Debatte" unserer Tage, die mittlerweile dazu beitrug, dass sich in unserem Gesellschaftsgefüge kaum etwas von Bedeutung anschieben lässt. Dieser Zustand wird noch dadurch befördert, dass wichtige Entscheidungen gar nicht im Parlament, sondern in Zusammenkünften von "Parteispitzen" hinter verschlossenen Türen gefällt werden. Häufig wird auch auf eine frühere Beschlusslage der Parteigremien verwiesen, wenn wichtige Sachfragen nur in bestimmter Weise oder gar nicht behandelt werden sollen. Das "Staatsvolk" bleibt außen vor und wird mit dem Vermerk abgespeist, es könne ja bei der nächsten Wahl eine Partei "abstrafen" und eine andere "bevorzugen". Die Mitwirkung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess ist offensichtlich nicht erwünscht und wird tatsächlich nicht praktiziert. Damit aber fehlt unserem System das tragende Fundament einer "richtigen" Demokratie.

Drittens:
Die nur zur Schau gestellte Fürsorge, die sich hinter der Überlegung verbirgt, der Bevölkerung könne nicht zugemutet werden, sich mit einzelnen politischen Fragen zu befassen, weil ihr dazu die Zeit fehle, soll den Eindruck vermitteln, dass die Beteiligung des "Staatsvolkes" an Entscheidungen zu öffentlichen Aufgaben "eigentlich" gewünscht sei. "Leider" nur sei der erforderliche Aufwand dafür nicht zu rechtfertigen, will man die freie Zeit der Bürgerinnen und Bürger nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Die Politiker trügen die Last des politischen Geschäfts allein, um die Bevölkerung zu schonen, heißt es. Daraus wird im Übrigen geschlossen, in einer Demokratie müsse es Berufspolitiker geben, die Verwaltungsbeamten gleich ihr Leben lang auf einem Karriereweg unterwegs sind. Und weil diese Leute de facto bei den Parteien "angestellt" sind, unterliegen sie der Weisungsbefugnis der Parteiführungen. Dieser Zusammenhang wird öffentlich zwar nicht zugegeben, er ist aber bei genauer Betrachtung der Lage festzustellen. – Unbeantwortet bleibt die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger zeitlich tatsächlich überfordert sind, wenn sie am Entscheidungsprozess beteiligt werden. Zu beobachten ist jedenfalls, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich zu einzelnen politischen Fragen "im Privaten" sehr wohl Gedanken macht und eine Meinung bildet; und das, obwohl "das Staatsvolk" gar nicht mitwirken darf. Man kann sich deshalb gut vorstellen, wie das Interesse deutlich zunehmen wird, wenn echte Mitbestimmung gewährt ist. Dann dürfte sich herausstellen, dass eine durchaus rege Beteiligung an "Volksentscheiden" zu erreichen ist. Und im Übrigen kann all denen, die sich an politischen Abstimmungen nicht beteiligen wollen, unterstellt werden, dass sie einen Entscheid sowohl pro als auch contra gleichermaßen akzeptieren; denn sie hatten ja Gelegenheit, ihre Stimme abzugeben. Die starke Belastung der Bevölkerung durch politische Mitwirkung ist also lediglich eine Schutzbehauptung, die das Monopol der Parteien rechtfertigen soll. Der Idee der Demokratie entspricht das nicht.

Viertens:
Zu den angeblichen Selbstverständlichkeiten im heutigen Politikbetrieb gehört es, dass Parteien ein Programm vorstellen, dem eine bestimmte, häufig allerdings recht schwammige Weltanschauung zugrunde liegt. Damit verfolgt man zweierlei Zweck: Zum einen möchten die Parteistrategen die Zahl der Zustimmenden vergrößern, indem sie eine sehr weit gefasste "Gesinnung" formulieren, die es möglichst vielen Leuten gestattet, grundsätzlich Zustimmung zu bekunden (ein Beispiel dafür ist der Bezug auf "konservative Werte" oder auch die Forderung nach "sozialer Gerechtigkeit"). Je vager der Vorschlag, desto leichter fällt dessen Annahme, beziehungsweise das Kreuz auf dem Wahlzettel. Und zum anderen lenkt man von konkreten Problemen ab, die eine präzise Auskunft darüber verlangen, wie Lösungen zu gestalten sein sollten. Damit würden sich die Strategen allerdings festlegen, und sie liefen Gefahr, nach einer Wahl beim Wort genommen zu werden, was die Machtbefugnis der Parteiführer schmälert. Die Wählerinnen und Wähler werden mit Glaubensbekenntnissen und guten Wünschen abgespeist; und die meisten lassen sich das auch gefallen. Die nur als unverschämt zu bezeichnende Art der inhaltslosen "Wahlwerbung", wie sie abermals während des kürzlich abgehaltenen "Wahlkampfes" zu beobachten war, belegt dies eindrucksvoll. Dahinter steckt eine Masche der Werbeleute, die meinen, Politik lasse sich mit den gleichen Plattitüden verkaufen wie Waschmittel oder Versicherungspolicen. Das "Staatsvolk" wird für so dumm gehalten, dass es diesen Methoden bereitwillig folgen werde. Doch die meisten Menschen, und zwar unabhängig von ihrem "Bildungsgrad", ahnen zumindest, dass ihre Belange von den Parteipolitikern gar nicht ernstgenommen werden. Leider jedoch haben sie sich damit abgefunden. Die Macht der Bequemlichkeit zerrt an ihrer Bereitschaft, sich zu wehren und sich aktiv zu beteiligen; zumal es ihnen durch die "Pflicht", dies im Gravitationsfeld einer Partei zu tun, außerordentlich schwergemacht wird. – Wir müssen uns aber folgendes vor Augen halten: Die wirklich schwierigen Probleme unserer Tage, unter ihnen hervorragend die Überflutung der ökonomischen Landschaft mit Unsummen von Geld, die fortschreitende Verringerung des Bedarfs an Arbeit gegen Lohn wegen des Einsatzes von Robotern, die Überbevölkerung unseres Planeten sowie die Zerstörung der Natur einschließlich des herrschenden Klimas werden "externalisiert", nach außerhalb des Gesichtsfeldes des "Staatsvolkes" verlagert. Das Fatale daran ist: Die Probleme bleiben nicht nur bestehen, ihre Zerstörungskraft nimmt zu! Unsere Parteien, die ihre Existenzberechtigung mit dem Auftrag nachweisen wollen, sie wirkten an der "politischen Willensbildung des Volkes" mit, kümmern sich genau darum aber nicht. Ihre Funktionäre streben nach Machtgewinn und -erhalt und schaffen möglichst viele Posten und Privilegien für ihre "Parteisoldaten". Das unglückliche, ja bedauernswerte "Volk" zahlt die Zeche, zahlt Steuern und tilgt die "Staatsschulden" nebst Zins und Zinseszins. Denn die Politfunktionäre nehmen, wenn das Steueraufkommen nicht reicht, für ihre Projekte bei privaten Banken Kredit auf, was zwar ausgesprochen widersinnig ist, doch nicht zur Kenntnis genommen wird. – Befürchten müssen wir daher dies: Sobald die Mehrheit der Bevölkerung spürt, dass ihr Wohlleben gefährdet ist, werden die "Menschen draußen im Lande" aufbegehren. Und die Gefahr wächst, dass sich dann "Rattenfänger" übelster Art an die Spitze solcher Unmutsbewegung setzen. Das hatten wir schon mal!

"Man duzt uns, weil das kumpelhafter klingt"

Wer plastische Beispiele sucht, um sich zu vergegenwärtigen, dass die Verhältnisse in unserer Gesellschaft nach diesem Muster gestrickt sind, der brauchte nur die "Wahlwerbung" vor der Bundestagswahl zu betrachten und sollte sich jetzt im Zuge der "Koalitionsbildung" einmal aus gehörigem Abstand das Spektakel anschauen, das die Parteifunktionäre auf ihrer Bühne zelebrieren. Ein paar Versatzstücke seien hier erwähnt: Auf den Wahlplakaten wurden durchweg, sozusagen "parteiübergreifend", nur zwei verschiedene Formate präsentiert: Entweder strahlten die Köpfe der (von den Parteigremien ausgewählten) Bewerber für ein Mandat auf den Betrachter hernieder, und die so ins Bild Gestellten wurden als "Ihre Abgeordneten" im zukünftigen Bundestag angepriesen (es hieß zuweilen auch "Deine Abgeordneten" – man duzt uns, weil das kumpelhafter klingt). Oder die Parteien stellten den Bürgern eine rosige Zukunft in Aussicht, so man sie wählt; etwa nach der Devise: "Mit uns werdet Ihr reich und glücklich" beziehungsweise "Ihr erhaltet Klimaschutz ohne Einschränkung des Wohllebens". Moderne Pädagogen raten bei der Kindererziehung zur Vermeidung der Einschätzung, Kinder seien noch zu unerfahren, um den Dingen, die ihnen begegnen, ins Auge zu sehen. Die Parteistrategen halten die wahlberechtigten Erwachsenen aber für von Grund auf zu dumm, um das politische Geschäft zu durchschauen. Jedenfalls lassen sich die primitiven Plakattexte nicht anders deuten.

Und: Die "Spitzenfunktionäre" der Parteien tauchen regelmäßig in unsäglich faden "Talkshows" im Fernsehen auf und diskutieren nur vorgeblich mit ihren Konkurrenten; tatsächlich versuchen sie lediglich, "Ihrem Wählerpotenzial" auf dem Umweg über die Bildschirme in den Wohnzimmern zu zeigen, dass sie ihrer gedenken. Ein Austausch, gar eine Bewertung von Argumenten findet nicht statt. Doch große Teile des "Wahlvolks" sind inzwischen auf diese Rituale fixiert, sodass sie tatsächlich fest daran glauben, ihnen werde von den politischen Schaustellern eine Entscheidungsgrundlage für ihren Wahlgang geliefert. Diese Wirkung wird noch verstärkt, weil die "Medienleute" sich in das Spiel einbinden lassen. Die suggerieren ihren Lesern, Zuhörern und Zuschauern, es sei für sie von besonderer Wichtigkeit, wenn sie dieser oder jener Partei ihre Stimme geben, und zwar ohne dafür eine plausible Erklärung mitzuliefern. Obendrein predigt der journalistische Mainstream, dass, wer nicht wählt, kein Demokrat sei. Zu den Erfindungen der Medienschaffenden gehört übrigens auch die Verbreitung der eigentlich verfassungswidrigen Konzentration auf eine Kanzlerkandidatur. Denn nach unserem Grundgesetz wählt das "Staatsvolk" ausschließlich die Abgeordneten, nicht die Kanzlerin oder den Kanzler. "Sie [die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Artikel 38 GG). Gemäß unserer Verfassung muss also erst das neue Parlament zusammentreten und danach aus seiner Mitte eine Regierung wählen. Mit der Kür von Kanzlerkandidaten vor der Wahl wird jedoch das Konzept der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebenden und Regierenden ausgehebelt. Das ist schlicht verfassungswidrig! Mit dieser Praxis stützt man jedoch die Parteienherrschaft, die wesentlich dadurch gesichert wird, dass möglichst alle Personalentscheidungen in den Parteizentralen fallen.

"Absichten, die bereits während der Regierungsbildungen Helmut Kohls erklärt worden waren"

Oder: Das Verfahren zur Bildung einer Regierungskoalition wird von Parteifunktionären gestaltet, die ihre Beschlüsse den Gremien der Parteien zur Absegnung vorlegen. Im Parlament dürfen dann die quasi "angestellten" Abgeordneten nur so abstimmen, wie es in den Parteigremien verabschiedet wurde. Eine kleine Gruppe von Leuten, von denen viele gar nicht im Bundestag sitzen, legt fest, welchen Richtlinien die Regierenden während der kommenden Legislaturperiode zu folgen haben. Betont wird in diesem Prozess außerdem, es gehe um wichtige politische Sachfragen und nicht um Posten. Das zu glauben, fällt schwer, wenn man betrachtet, welche angeblich wichtigen "Sachfragen" gelöst werden sollen. Dabei handelt es sich nämlich meist um reine Absichtserklärungen, die häufig bereits in früheren Koalitionsverträgen untergebracht waren und unerledigt weitergereicht wurden. So auch die nun abermals wiederholten Versprechen, Investitionen auf dem Gebiet des Klimaschutzes, der Bildung oder der "Digitalisierung" vorzunehmen – Absichten, die bereits während der Regierungsbildungen Helmut Kohls erklärt worden waren (Der wollte eine "Daten-Autobahn" bauen). Außerdem wird uns als Neuerung verkauft, die Gesetze unter dem Namen "Hartz IV" seien umzubenennen in ein "Bürgergeld". Und man möchte in eine "teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente" einsteigen. Wie das geht, kann niemand so recht erklären, aber es bedeutet immerhin, dass privaten Versicherungsgesellschaften und Banken damit ein neues Geschäftsfeld eröffnet wird. Im Übrigen steht wie ein Mantra über allem die Forderung, Steuern dürften nicht erhöht werden, und die "Schuldenbremse" möge weiterhin angezogen bleiben. Weil dann aber kaum Mittel für "Investitionen" übrigbleiben, sollen staatliche Institutionen und Gesellschaften im Bundeseigentum (beispielsweise die Bahn) Kredite aufnehmen, da deren "Schulden" im Haushalt nicht aufgeführt werden müssen. Das kann man getrost als Schwindel bezeichnen. – In zweiundzwanzig "Arbeitsgruppen" soll nun ein Koalitionsvertrag ausgehandelt werden, an dessen Bestimmungen das "Staatsvolk" gar nicht beteiligt wird, nicht einmal das Parlament.

"Strukturen, in denen eine Gruppe Privilegierter sich anmaßt, den unbedarften Bürgern die schwere Arbeit politischer Gestaltung abnehmen zu müssen"

Zum Wesen der Demokratie zählt aber als Wichtigstes die "echte" Mitwirkung der Bevölkerung am Entscheidungsprozess der Politik, nämlich der Behandlung aller Angelegenheiten, die die Gemeinschaft betreffen. Solange aber nicht gewährleistet wird, dass die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger direkt befragt werden, bevor ihre Belange geregelt werden, kann von der Erfüllung demokratischer Bedingungen nicht die Rede sein. Und betrachten wir den Zustand unserer Gesellschaft, so müssen wir uns eingestehen, dass es sich bei den politischen Entscheidungssträngen in unserem Staate und auch in vielen anderen Staaten nicht um Abläufe in einer "richtigen" Demokratie handelt, sondern um Strukturen, in denen eine Gruppe Privilegierter sich anmaßt, den unbedarften Bürgern die schwere Arbeit politischer Gestaltung abnehmen zu müssen. – Der Hinweis auf die zum Teil noch deutlich "undemokratischeren" Zustände anderswo sollte als reines Ablenkungsmanöver verworfen werden. Denn wir müssen unsere Verhältnisse an den Ansprüchen messen, die wir hier bei uns an sie stellen. Und das sind in erster Linie die Forderungen nach Erfüllung der Grundrechte, wie sie in unserer Verfassung formuliert sind, und – immer wieder zu unterstreichen – die Mitbestimmung des "Staatsvolks" in allen Angelegenheiten, die die Gemeinschaft betreffen. Nur so gewinnt das "Staatsvolk" ein Verständnis für demokratische Abläufe.

An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass das Prinzip der Repräsentation der Bevölkerung durch Mandatsträger früher wegen der sehr viel schwierigeren Kommunikation innerhalb der Gesellschaft durchaus zweckmäßig war; dass heute jedoch moderne Informationstechniken zur Verfügung stehen, die eine kurzfristige direkte Entscheidung der gesamten Bevölkerung gestatten. Es gibt also keinen "praktischen" Grund, der die Vertretung der Bevölkerung durch sogenannte Mandatsträger bei einer Entscheidungsfindung erforderlich macht. Damit das funktioniert, müssen sicherlich noch einige technische Verbesserungen an unserem IT-System vollzogen werden; und die Wahlberechtigten müssen hinsichtlich der Nutzungsmöglichkeiten der modernen Technik aufgeklärt werden. Aber deshalb darf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschäft nicht weiter aufgeschoben werden. Es ist sogar denkbar, dass die Nutzung der modernen Mittel der Übertragung von Informationen sehr viel schneller und besser zum Ziel führt, als dies derzeit im parlamentarischen Betrieb zu beobachten ist. Allerdings muss eine große Zahl "Parteisoldaten" ihren Dienst quittieren! Das bedeutet leider, die Beharrungskräfte, die das herrschende System stützen, werden einen Prozess in Richtung "wirklicher" Demokratie sehr stark hemmen. Angesichts der Notwendigkeit zu radikalen, an der Wurzel zu vollziehenden Maßnahmen, die unsere "Zukunftsfähigkeit" stärken, dürfen wir uns davon jedoch nicht einschüchtern lassen.

Die diesem Text vorangestellte Frage, ob unsere Politiker tatsächlich Demokraten sind, ist jedenfalls mit einem klaren Nein zu beantworten. Und wir müssen es denen auch vorhalten und vor allem der Öffentlichkeit präsentieren! Dafür braucht es kritische Journalisten, deren Stimmen diejenigen sind, die an den Mächtigen vorbei "an der Willensbildung des Volkes" mitwirken können. Auch hierfür stehen die Signale derzeit leider nicht auf grün. Ein erheblicher Teil der sogenannten "vierten Gewalt", der Medien, ist so stark eingebunden in das herrschende System, dass von dort eine wirklich kritische Aufarbeitung der Vorstellung von Demokratie kaum zu erwarten ist. – Doch der an sich naheliegenden Resignation vor der Macht der herrschenden Verhältnisse stellt sich eine Entwicklung entgegen, deren Wirken zu Hoffnung Anlass gibt. Innerhalb der Generation, die jetzt in den Startlöchern hockt, um ins Rennen Richtung Daseinsvorsorge einzusteigen, entwickelt sich eine Bewegung, die genau das anstrebt: eine echte Mitwirkung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Und diese jungen Leute bewegen sich völlig unbekümmert "im Netz" und halten das parteipolitische Establishment auf Distanz. Sie sind auch genügend gut geschult, um die Kommunikationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, für ihre Ideen einzusetzen. Diese Generation beginnt, die richtigen Fragen zu stellen, und entlarvt den nur scheinbar demokratischen Auftritt der etablierten Politfunktionäre als reines Täuschungsmanöver zur Sicherung ihres Anspruchs auf einträgliche Posten. Auf einen schnellen Bewusstseinswandel innerhalb der Mehrheit der Bevölkerung dürfen wir jedoch nicht hoffen. Solche Wandlungsprozesse sind sehr zähflüssig und erzielen die unangenehme "Nebenwirkung", dass deren langsame Fortschritte auf kurzen Strecken nur schwer zu erkennen sind, zumal wenn "böser Wille" sie zu torpedieren versucht. Doch ein anderer, möglicherweise schnellerer Weg zum Ziel ist nicht zu erkennen. Die Demokraten dieser Welt müssen sich auf einen langen Marsch einstellen; und sie haben sich auf weitere Rückschläge gefasst zu machen. Es besteht allerdings auch eine Chance, dass mit Blick auf die anschwellenden Probleme auf unserem Globus die Ohnmacht des politischen Establishments deutlich wird und immer mehr vor allem junge Leute sich von dem Spektakel abwenden und sich neuen Ideen zuwenden werden.

Dass dabei nicht jeder Wurf trifft, ist Prinzip aller Entwicklung in unserer Biosphäre. Sie bewegt sich nur deshalb im "schwankenden Gleichgewicht", weil stetig durchgeführte Experimente vorwiegend Misserfolge erzielen, deren Ergebnisse "ausgesondert" werden; und weil nur die wenigen zufällig erfolgreichen Versuche ein dauerhaftes Dasein führen dürfen – allerdings lediglich bis zu dem Augenblick, wo ein späterer Versuch ein "besseres" Ergebnis erzielt. Das heißt aber auch, neue Ideen müssen "ausprobiert" werden, da wir erst dann erkennen, ob sie nützlich sind. Es gibt einige Anzeichen, die zu der Hoffnung berechtigen, dass die jetzt aufstrebende Generation genügend Kraft findet, sich gegen die Beharrungskräfte des Wohlstandsbürgertums in der Ersten Welt durchzusetzen. Beginnen müssen sie mit dem Abriss des Kartenhauses, das derzeit Demokratie genannt wird, es aber nicht ist. Denn es fehlt noch an einer hinreichend großen Zahl überzeugter Demokraten, die für die Einrichtung einer "wirklichen" Demokratie sorgen können. Dazu gehört die Erkenntnis, dass ein menschenwürdiges Dasein nur zu führen ist, wenn alle Menschen an den Entscheidungen im politischen Raum beteiligt sind. Und, ist unmittelbar hinzuzufügen: alle Entscheidungen bedürfen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, die wiederum von den "Unterlegegenen" zu akzeptieren ist. Wer dies nicht einsehen will, muss den Schneid aufbringen, zu bekennen, dass er kein demokratisches Gesellschaftssystem wünscht! Die reine Behauptung, das, was wir haben, sei Demokratie, ist ein "Fake".

Dieser Beitrag erschien auch auf: https://zeitbremse.wordpress.com

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Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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