Weil außen und innen stärker zusammenwirken

Neue Außenpolitik Der Grundgedanke muss sein, zu verdeutlichen, dass ein friedliches Leben zu Hause nur gesichert werden kann, wenn es den Menschen anderswo nicht erheblich schlechter geht

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"Deutschland hat als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen – so sieht es die Präambel des deutschen Grundgesetzes vor. Damit sind die europäische Integration und Friedenspolitik als Grundpfeiler deutscher Außenpolitik vorgegeben. Dazu gehören auch die Stärkung der Menschenrechte und die positive Gestaltung der Globalisierung. […] Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Konkret bedeutet das den Einsatz für verbindliche Regeln und starke multinationale Institutionen, sowie Engagement für Abrüstung, Krisenprävention und friedliche Streitbeilegung."
Website des Auswärtigen Amtes, Schwerpunkte deutscher Außenpolitik, Januar 2016

Leider beginnt das neue Jahr, wie das alte endete: Die Gefahr, dass irgendwo auf dem Globus "unverhofft" ein Brand entsteht, der überregionale Auswirkungen zeigt, wenn er nicht sogar zu einem veritablen Weltkrieg mutiert, ist nicht nur als eine von vielen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, sondern sie hat inzwischen einen sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts erlangt. Deshalb sollten sich alle Regierungen der Welt mit aller Konzentration und Kraft darauf stürzen, diese Gefahr schleunigst wenn schon nicht zu bannen so doch wenigstens einzudämmen. Bedauerlicherweise wird bei uns der Blick der Öffentlichkeit aber auf Gefahren gelenkt, die im Vergleich dazu vernachlässigbar gering erscheinen müssen. So fördern die "Meldungen" von den Sorgen der Deutschen, die sie aufgrund der "Überfremdung" durch "islamistische Flüchtlinge" hegen ("wir schaffen das nicht"), eine diffuse Angst besonders bei denen, die sich als "Mitte" oder "Leistungsträger" der Gesellschaft verstehen; außerdem geht die Furcht um, der Wohlstand sei gefährdet durch "Erschütterungen", die ein Börsen-Crash in China auslösen könnte. Doch stattdessen müsste eigentlich bereits ein flüchtiger Blick auf die "echten" Krisen mit Krieg und Kriegsgefahr in Nah- und Fernost, in Afrika und in Lateinamerika, ja sogar im Südosten Europas, allen Angst und Schrecken einjagen. Hierzulande wird aber wie vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg jeder Hinweis auf die Gefahr eines Weltbrandes als Schwarzmalerei abgetan; und wer der gequälten Volksseele zu laut davon spricht, muss sich sogleich gefallen lassen, als Defätist oder gar als Nestbeschmutzer diffamiert zu werden. – Umso wichtiger scheint es, die Debatte auf eine sachliche Ebene zurückzuführen, und ihr die Chance zu eröffnen, das Bewusstsein der Menschen für die wirklich wichtigen Probleme der Zeit zu schärfen. Regierungen sollten sich nicht hinter dem Argument verstecken (können), diffusen Stimmungslagen folgen zu müssen. Dazu kann eine Außenpolitik beitragen, die, von klarer Analyse geführt, zunächst einmal Möglichkeiten aufzeigt, wie Lösungen für die missliche Lage in den "Krisengebieten" denkbar sind. Auf Basis dieser Analyse könnten dann konkrete Vorschläge entworfen und Regierung und Bürgern unterbreitet werden, die einen Anstoß zur "Krisenbewältigung" zu leisten in der Lage sind. Man erkennt zurzeit jedoch keine Hinweise darauf, dass irgendwo auf der Welt eine derartige Außenpolitik wenigstens versucht wird.

Regierungen sollten sich nicht hinter dem Argument verstecken, diffusen Stimmungslagen folgen zu müssen

Obwohl allein die Bestimmung dessen, was sich hinter dem Begriff Politik verbirgt, an den Hürden zu scheitern droht, die die unterschiedlichen Vorstellungen davon aufrichten, müssen wir uns doch auf eine zumindest weitgehend allgemeingültige Definition des "Fachbereichs" Außenpolitik festlegen. Überschlägig lässt sich das Politikfeld folgendermaßen eingrenzen: Wenn Regierungen souveräner Staaten (oder Vertreter von Staatenbünden) zu anderen Regierungen Beziehungen unterhalten, dann wollen sie dadurch sicherlich den Frieden für das eigene Land erhalten,den internationalen Wirtschaftsverkehr sichern sowie Einmischungen von außen in innere Angelegenheiten abwehren. Dazu verabreden sie "Spielregeln", die von den Partnern in der Beziehung akzeptiert werden. Als wohl wichtigster Bereich der Außenbeziehungen hat der internationale Wirtschaftsverkehr zu gelten, weshalb die Außenpolitik dazu beitragen soll, die weltweiten Verbindungen so zu gestalten, dass ein möglichst reibungsloser Handel getrieben werden kann. Weil erfahrungsgemäß alle Regierungen sehr verschiedene Ziele verfolgen, gibt es eine Reihe von "Geschäftsfeldern", wo zwischen Staaten wirtschaftliche und in deren Kielwasser machtpolitische Konkurrenz existiert (Beispiele: Bezug von Rohstoffen, Primärenergieträgern, Nahrungsmitteln, "billigen" Arbeitsleistungen und technischem Know-how oder die Förderung des eigenen Exports); und es gibt Bestrebungen, die eigenen Ansichten vom gesellschaftlichen Miteinander im Wege der Gestaltung der Außenpolitik "grenzüberschreitend" zu verbreiten (beispielsweise Ideologien und Religionen). Im Rahmen ihrer Außenpolitik wird eine Regierung also vorrangig die Wahrung der Interessen der heimischen Wirtschaft und den Erhalt der politischen Grundüberzeugungen sichern wollen; und sie wird versuchen, so viele andere Regierungen wie möglich für die eigenen Ziele zu gewinnen.
Meist rangiert als oberste Priorität außenpolitischer Ziele folglich die Durchsetzung eigener Interessen, die gelegentlich auch mit militärischen Mitteln erzwungen wird – ein Verfahren, das bis ins 20. Jahrhundert hinein gang und gäbe war und der einhelligen Auffassung fast aller Regierungen entsprach (Der preußische General von Clausewitz hat das in seinem 1832 erschienenen Buch "Vom Kriege" so ausgedrückt: "Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln."). In den demokratisch regierten Staaten wird heute zwar stets betont, dass die Durchsetzung eigener Interessen nur auf friedlichem Wege, also ohne Einsatz militärischer Gewalt und ausschließlich mit Überzeugungskraft zu erreichen sei. Doch zeigt die Erfahrung selbst aus jüngster Vergangenheit, dass sogar "demokratisch legitimierte" Regierungen wie die in den USA, in Großbritannien und in Frankreich nicht zögern, militärische Einsätze und Kriege als "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" zu betrachten und entsprechend zu handeln. (Bevor wir Deutschen aber mit moralisch erhobenem Zeigefinger auf die Verfehlungen anderer verweisen, müssen wir uns an folgende Scheinheiligkeit deutscher Außenpolitik erinnern lassen: Mit höchst sonderbaren sprachlichen Verrenkungen haben nämlich viele deutsche Politiker versucht, den bald 15-jährigen Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu einer "Polizeiaktion mit Aufbauhilfe" herunterzustufen.)

Meist rangiert als oberste Priorität außenpolitischer Ziele folglich die Durchsetzung eigener Interessen

Wir begegnen einer Unzahl verschiedener nationaler "Außenpolitiken", die eine schrille Kakophonie erzeugen und nicht zum friedlichen Dialog unter den Staaten der Welt beitragen, obwohl darin doch die vornehmste Aufgabe internationaler Beziehungen zu erkennen sein müsste. Leider kann man keine Regierung von dieser kritischen Einschätzung ausnehmen. Versuchen wir das Geschehen auf unserem Globus aus der "Satellitenperspektive" zu betrachten, werden wir zudem schnell erfassen: Eine zusätzliche Schwierigkeit liegt in der Tatsache begründet, dass die in den letzten 100 Jahren gewaltig gestiegene Zahl von Menschen ein friedliches Miteinander erschwert, weil die Lebensbedingungen sich nicht im dafür hinreichenden Maße verbessern ließen. Und wir werden bemerken, dass es überall an der erforderlichen Bereitschaft fehlt, sich auch im internationalen Politikbetrieb allgemein gültigen Regeln, die dieser Entwicklung Rechnung tragen, bedingungslos zu unterwerfen. Durch diesen allerorten zu erkennenden Mangel aber wird die Gefahr geschürt, dass aus Meinungsverschiedenheiten Feindschaften entstehen, die zu Kriegen führen und im Angesicht der alles zerstörenden Nuklearwaffen letztlich den Fortbestand der Menschheit gefährden können.

"Dem Frieden in der Welt zu dienen", eine Forderung, der das Berliner Auswärtige Amt ausweislich seines Internet-Auftritts oberste Priorität zuweist, ist ein Wahlspruch, dem nicht zu widersprechen sein dürfte. Aber es handelt sich genau besehen um eine Selbstverständlichkeit, die zwar erwähnenswert ist, die sich jedoch, wie die Realität uns regelmäßig vorführt, ganz offensichtlich kaum eignet, daraus praktische Politik abzuleiten. So oder so ähnlich proklamieren nämlich die meisten Regierungen die Grundlagen ihrer auswärtigen Politik und versichern ihrer Bevölkerung und der Welt, sie hätten nur den Frieden im Blick, ein Ziel, dem sie angeblich alle Bestrebungen unterordnen. Die Bilder, die uns tagtäglich erreichen, drücken jedoch eher Unfrieden aus. – Wir stellen also fest, die meisten Staaten der Welt beteuern ihre Friedfertigkeit wie selbstverständlich und verfolgen gleichzeitig ebenfalls wie selbstverständlich die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ziele, ohne auf denen entgegenstehende Interessen anderer gebührend Rücksicht zu nehmen. Nur dann jedoch, wenn das Prinzip der Rücksichtnahme auf anderslautende Vorstellungen den Ton vorgibt, kann ein Dialog zwischen den Regierenden zu außenpolitischer Vernunft beitragen, die der Einsicht verhilft, dass die Welt nur unter friedfertigen Leuten menschenwürdige Lebensbedingungen für alle bereithält.

Die Bilder, die uns tagtäglich erreichen, drücken jedoch eher Unfrieden aus

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt die Grundannahme als richtig, die Menschheit sei in lauter Gruppen unterteilt (auch "Völker" genannt), meist als Staaten organisiert, die als Subjekte wie eigenständige Individuen handeln und wie diese in Gemeinschaften leben, mal in größeren, mal in kleineren Ansammlungen und mal friedlich, mal weniger friedlich. Man ging davon aus, auch für die "Gemeinschaft der Gruppen" (der "Völker") solle das Prinzip der Rangordnung übernommen werden, gemäß dem die große Mehrheit einer Führung folgt. Da es jedoch auf "internationaler Bühne" anders als in einer einzelstaatlichen Ordnung keine allgemein anerkannten oder gewaltsam eingeführten "Gesetze" gab, übrigens auch heute noch nicht gibt, sahen sich die Staatsführungen genötigt, eine Rangordnung untereinander im Wege des Streits zu erzwingen. Aus dieser Haltung entwickelte sich das Streben nach Herrschaft über immer größere Regionen bis hin zur Weltmacht. Eines der ersten auf europäischem Kontinent entstandenen Reiche mit Weltmachtgeltung war das römische, das zwar nur den Raum um das Mittelmeer (das Meer mittendrin) beherrschte, diesen Raum aber für die ganze Welt hielt. In Rom und seiner Umgebung genossen die Bürger gemessen an den damals herrschenden Bedingungen ein außergewöhnliches Wohlleben, das sie maßgeblich aus den eroberten Gebieten speisten. Das Streben nach Herrschaft über einen möglichst weiten auswärtigen Wirtschaftsraum zur Sicherung des eigenen höheren Lebensstandards wurde, schon seit es größere staatenähnliche Gesellschaften gab, als ganz selbstverständlich anerkannt; und niemand nahm daran Anstoß, dass die Staatsführungen danach trachteten, ihren Einflussbereich zu vergrößern, zumindest aber zu wahren.

Das Streben nach Herrschaft über einen möglichst weiten auswärtigen Wirtschaftsraum zur Sicherung des eigenen höheren Lebensstandards wurde als ganz selbstverständlich anerkannt

Doch zwei Bedingungen haben das Prinzip des Strebens nach Weltmacht mittlerweile noch unbrauchbarer gemacht, als es ohnehin schon war: Erstens hat sich die Zahl der Menschen auf dem Globus in den vergangenen 70 Jahren mehr als verdreifacht (von zwei auf sieben Milliarden!), eine Entwicklung, die in ihrer ganzen Bedeutung nur zu erfassen ist, wenn man dagegenhält, dass die Bevölkerungsdichte in den Jahrtausenden davor lediglich sehr langsam, kaum spürbar zunahm. Und zwar bis praktisch jeder Mensch fast aller Menschen Nachbar wurde, er somit Ereignissen "in der Fremde" direkt ausgesetzt ist und umgekehrt sein Verhalten Auswirkungen auf viel mehr Menschen hat, als in Jahrtausenden zuvor. Die derzeit von einigem Unverständnis begleiteten "Flüchtlingsprobleme" – und zwar nicht nur die in Europa – genauso wie die zum Teil hasserfüllten Reaktionen darauf hängen ganz eng mit den Folgen des gewaltigen Bevölkerungswachstums zusammen. Und zweitens hat die Technik, die es ermöglicht, weltumspannende Beziehungen zu unterhalten, einen so rasanten Sprung nach vorn gemacht, dass jetzt enge persönliche Beziehungen auch unter weit voneinander entfernt lebenden Menschen möglich sind; davon konnten sie im vordigitalen Zeitalter nicht einmal träumen. Diese Errungenschaft gestattet es aber auch, den Austausch von Informationen an den Mächtigen vorbei direkt "von Mensch zu Mensch" zu pflegen mit der Folge, dass die Staatsführungen nicht länger durch das Anzapfen ihrer "diplomatischen Kanäle" (und auch nicht mit der Hilfe ihrer Geheimdienste) über die Nachrichtenhoheit verfügen, die es ihnen bisher erlaubte, einen gehörigen Informationsvorsprung zur Einschüchterung ihrer Bevölkerung nutzen zu können.

Die Zahl der Menschen auf dem Globus hat sich in den vergangenen 70 Jahren mehr als verdreifacht

Die Regierenden in allen Staaten der Welt haben von dieser Entwicklung offenbar kaum Notiz genommen, und sie setzen, so scheint es jedenfalls, ihre Außenpolitik mit den Methoden des 19. und 20. Jahrhunderts fort. Das kann man an folgenden Beispielen festmachen: In der Annahme, sie verfügten nach wie vor über die Hoheit der alles besser Wissenden, verhandeln Staatsführungen hinter verschlossenen Türen miteinander über das Wohl und Wehe ihrer Bevölkerungen auf sogenannten Gipfeln und anderen Konferenzen wie einst auf dem Wiener Kongress – zum Beispiel im "Ukraine-Konflikt". Dort kommen sie aber nicht voran, weil sie übersehen, dass sowohl auf der russischen wie auf der ukrainischen Seite die offiziellen Machthaber gar nicht Herren des Geschehens sind. Und die "Führer" der Großmächte in Washington und in Moskau leben in dem Irrglauben, sie säßen wie vor 50 Jahren am Schachbrett des Kalten Krieges und könnten, indem sie darauf ihre Figuren hin- und herschieben, Schlachten und Einflussgebiete gewinnen. – Ähnlich läuft das "Krisenmanagement" im Nahen Osten, wo in Syrien und im Irak hemmungsloses Morden und in eingeschlossenen Städten totale Zerstörung stattfinden und wo die Einwohner unter furchtbarer Hungersnot leiden. Die beteiligten Regierungen aus der Nachbarschaft sowie die aus Amerika, Europa und Asien suchen jedoch, mit "klassischer Diplomatie" die Region zu befrieden. Dabei setzen sie "etwas" Militärgewalt ein und verstehen ihre "Luftschläge" als die Fortsetzung ihrer diplomatischen Bemühungen mit anderen Mitteln. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass die betroffenen Menschen, von denen sich mehrere Millionen auf der Flucht befinden, keinerlei Verständnis für die "geopolitischen Ziele" der groß-, mittel- und kleinmächtigen Staatslenker aufbringen, die dort ihre Spielchen treiben wie die europäischen Feudalherren des 19. Jahrhunderts. Die Bevölkerung wird, und tut das bereits oft, dem System der machtpolitischen Ränke postmoderner Herrscher den Rücken zukehren und ihrer Wege gehen, beispielsweise auch zu uns nach Europa. – Im Fernen Osten versuchen Außenpolitiker in Washington, Tokio und Seoul zusammen mit ihren Verbündeten seit über 50 Jahren, die Machthaber in Nordkorea durch Sanktionen in die Knie zu zwingen, und müssen heute feststellen, dass zu deren Konsequenzen zwar Millionen nordkoreanische Hungertote zählen, das Regime inzwischen jedoch über Atomwaffen verfügt und den "Rest der Welt" erpressen kann (einschließlich der einzig verbliebenen Verbündeten in China).
Die Methoden der "klassischen Diplomatie" (Streben nach Rangordnung der Staaten beziehungsweise nach Weltmacht, außer Acht lassen der Bedürfnisse großer Teile der Bevölkerung) die uns immer noch als der Weisheit letzter Schluss verkauft werden, sind aber ausweislich ihres Misserfolges schleunigst auszumustern. Jedenfalls wenn es noch gelingen soll, die Verhältnisse auf unserem Globus so zu steuern, dass nicht ein Desaster über uns kommt, von dem wir alle, auch wir hier im warmen Nest europäischer Wohlfahrt, davongespült werden. Das jedoch, was unsere Politfunktionäre Außenpolitik nennen, wird nicht zur Besserung beitragen können (Dieser Tage hat der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu den erneut aufflammenden Unruhen unter jungen Arbeitslosen in Tunesien überheblich mahnend erklärt, er fordere alle Beteiligten zur Mäßigung auf! –Der Mann lebt offenbar nicht mehr unter uns). Umso wichtiger wird: Die Beziehungen der Regierungen und der Bevölkerung über Staatsgrenzen hinweg, die man im Übrigen nicht mehr ordentlich sichern kann (siehe "Balkanroute"), müssen in einen Zustand versetzt werden, der das Miteinander ermöglicht und die Kriegsgefahr auf ein Minimum reduziert. Außenpolitik lässt sich nicht mehr als Geheimdiplomatie in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Konferenzräumen betreiben, sondern sie muss den Menschen "auf offenem Markt" erklären, wie es gelingen kann, trotz der aktuellen Schieflage der Lebensumstände in der Welt einigermaßen ausgewogene Verhältnisse zu schaffen.

Außenpolitik lässt sich nicht mehr als Geheimdiplomatie in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Konferenzräumen betreiben

Einerseits verkünden die politisch "verantwortlichen" Funktionäre gebetsmühlenartig, die "globalisierte Welt" könne nur in friedlichen Zustand versetzt werden, wenn internationale Institutionen dafür sorgten; und andererseits handeln dieselben Leute nach den Prinzipien der maximalen Vorteilsnahme im Sinne ihrer "dörflichen" Interessen. Die Folge davon ist, dass es zwar eine Reihe internationaler Institutionen gibt, die jedoch immer dann, wenn Eingriffe erforderlich sind, wenn etwa eine Regierung "zurechtgewiesen" werden sollte, wie zahnlose Tiger mit wohltönenden Verlautbarungen ihre Ohnmacht dokumentieren. Die UNO mit ihren Organen legt stetig und beredt Zeugnis dafür ab. – Im System der Beziehungen von Staaten untereinander muss ein prinzipieller Fehler eingebaut sein; denn wirklich alle Menschen werden doch davon überzeugt sein, dass die Grundlagen ihrer Existenz nur zu sichern sind, solange Frieden herrscht, weshalb eine konsequente Friedenspolitik eigentlich jedermanns, also auch jeder Regierung Unterstützung gewiss sein müsste. Stattdessen werden fast überall auf dem Globus Kriege geführt; und es ist zu befürchten, dass aus den vielen einzelnen Brandherden mithilfe eines einzigen Beschleunigers ein Weltbrand erwächst. Solch einen Brandbeschleuniger können kleine auf Terrorismus gepolte Banden ins Feuer werfen, wenn sie nämlich – wie es die sogenannten Islamisten vormachen – mit ihren Aktionen Schrecken unter der Bevölkerung auslösen und dadurch Zwist unter den "etablierten" Staatsführungen stiften und schüren. Die egozentrische Sichtweise der Regierenden deutet dann jeden Zwist als Folge der verfehlten Politik der anderen. Erich Fried hat dazu folgendes gesagt: "Wenn die Friedensliebe der einen mit voller Wucht auf die Friedensliebe der andern stößt, gibt es Krieg!"

Stattdessen werden fast überall auf dem Globus Kriege geführt

Aus dem fast überall erkennbaren Widerspruch zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit friedlichen Miteinanders und der "realpolitischen" Forderung nach Machtzuwachs und -erhalt, ist zu schließen, dass sich auf dem Wege von der Sicht der einzelnen Menschen auf ihre Verhältnisse bis hin zur politischen Sichtweise der Dinge eine Schlucht auftut, die die Verbindung vom Persönlichen zum Gemeinsamen unüberbrückbar zu trennen scheint. Das hat zur Folge, dass sehr viele Menschen den Blick über die Schlucht hinweg scheuen und dem Establishment auf der anderen Seite (oder "denen da oben") das Feld der Politik im Allgemeinen und das der Außenpolitik im Besonderen überlassen. Und so dürfen wir uns nicht wundern, wenn trotz veränderter Umgebungsbedingungen – wie der besorgniserregend hohen Bevölkerungsdichte und der rasanten technischen Entwicklung in jüngster Zeit – immer noch Außenpolitik "nach Gutsherrenart" betrieben wird. Denn den Politfunktionären fehlt die Bereitschaft zur selbstkritischen Einschätzung ihres Handelns, weil kein Druck aus der Bevölkerung sie dazu zwingt. Mit Vorstellungen wie denen vom "Ringen der Völker" um Vormacht in der Welt sind die brandgefährlichen Probleme aber nicht einmal zu beschreiben, geschweige denn zu lösen. Die leiten sich vor allem vom riesigen Unterschied der Lebensbedingungen zwischen sehr reichen und ganz armen Staaten ab. Während es in der gerade zu Ende gehenden Epoche der "Weltmacht-Strategien" als selbstverständlich gilt, dass diejenigen politischen Ziele allein bestimmend sind, die den sogenannten Eliten dienen – also den Inhabern von Posten mit wirtschaftlicher und/oder politischer Macht –, müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass sich die von deren Politik betroffene große Mehrheit der Bevölkerung damit nicht mehr zufrieden gibt. Die Ereignisse während des sogenannten arabischen Frühlings bezeugen das, auch wenn sie noch nicht zu besseren Verhältnissen führten, weil die Bevölkerung sich nicht bloß gegen Kräfte im eigenen Land wenden muss, sondern auch gegen die von außen wirkenden.

In unserer Weltgegend äußert die "schweigende Mehrheit" noch keine eigenen Vorstellungen, sie wendet sich aber mehr und mehr ab von "realpolitischem" Engagement, mitunter bloß hin zu privatem Entertainment. Doch entgegen der Annahme vieler unserer Parteifunktionäre, herrscht in der Bevölkerung nicht allgemeine Politikverdrossenheit vor, kein Desinteresse daran, wie das gesellschaftliche Zusammenleben gelingen kann. Wir können auf jeden Fall eine, mitunter im Unbewussten angesiedelte, Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach gesellschaftlichem Zusammenspiel beobachten – nach einer Politik, die von den "politischen Eliten" in ihrer abgehobenen Scheinwelt aber nicht erfüllt wird. Das führt allerdings zu Verdrossenheit mit dem Politikbetrieb, wie er sich hier eingespielt hat, und es birgt die große Gefahr, dass sich schon wieder eine Menge Leute den Rattenfängern andienen (sei es religiösen Hasspredigern oder nationalistischen Scharfmachern), die, wie man in vielen Gegenden der Welt beobachten muss (auch bei uns, dem "Volk der Dichter und Denker", die wir wissen könnten, dass es nicht dagegen gefeit ist!), davon bereits reichlich Gebrauch machen. Sie nutzen dieses Moment, diesen Raum der Leere, bieten "Lösungen" an, die allerdings nur vorgeblich dem gesellschaftlichen Frieden dienen, da ihr Gesellschaftskonzept auf Ab- und Ausgrenzung setzt. Doch gerade von dieser Form der Abgrenzung, die auch das Prinzip der nach Weltmacht strebenden Außenpolitik ist, müssen wir uns lösen.

In unserer Weltgegend äußert die "schweigende Mehrheit" noch keine eigenen Vorstellungen, sie wendet sich aber mehr und mehr ab von "realpolitischem" Engagement

In Anbetracht der weltweit herrschenden Machtverhältnisse ist diese Forderung sicherlich als höchst ehrgeizig einzustufen, und sie verführt obendrein auch zu Resignation. Denn sogar in Deutschland (Stichwort AfD und Pegida), wie derzeit aber noch deutlicher in den meisten anderen europäischen Gesellschaften und in besonders erschreckender Weise in den USA, zeigt sich (innerhalb demokratisch organisierter Gesellschaften!) eine Drift hin zu einer chauvinistischen, ja faschistischen Grundhaltung. Und Appelle an die Vernunft sind in der von solchen "Ideen" vergifteten Atmosphäre ziemlich chancenlos. Wer auf diese brisante Lage verweist, wird jedoch entweder mit der Bemerkung abgespeist, das sei alles übertrieben, oder er hört die selbstentschuldigende Antwort, man könne dagegen ja doch nichts tun. Das erinnert fatal an die Stimmung Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als in Deutschland die durchaus vernehmbaren Mahnungen hinsichtlich der zu erwartenden Schreckensherrschaft durch die Nationalsozialisten auf ähnliche Art abgebürstet wurden. Nach dem Kriegsende 1945 – von vielen als "Zusammenbruch" betrauert – wurde den Heranwachsenden auf deren Frage: wie konnte das passieren?, erklärt, es habe sich um eine Machtergreifung unter Einsatz von Polizeigewalt gehandelt, die den Bürgern keine Chance zur Gegenwehr gelassen habe. Daran, dass Hitler nach den Regeln parlamentarischer Demokratie zum Reichskanzler gewählt worden war, mochte sich kaum jemand erinnern. – Der Hinweis auf diese furchtbare Entwicklung während der Weimarer Zeit soll der Suche nach einer Antwort auf folgende Frage dienen: Was ist zu unternehmen, damit nicht erst ein Zustand eintritt, der eine Abkehr vom "falschen Weg" nicht mehr gestattet, weil das chauvinistische, nationalistische oder religiöse Gift schon zu tief eingedrungen ist, um es aus den Köpfen zu vertreiben? Die Antwort muss heute allerdings den neuen Umstand einbeziehen, dass aufgrund der hohen Zahl von Menschen auf dem Globus rein lokal angelegte Maßnahmen nicht ausreichen werden, solange es "dem bösen Nachbarn nicht gefällt" (und dieser böse Nachbar sind gar nicht so selten wir). Es erscheint deshalb angebracht, den Menschen überall auf der Welt vor Augen zu halten, und zwar so eindringlich, dass sie nicht daran vorbeischauen können, wie sehr ihr ganz persönliches Wohlergehen davon abhängt, dass es den sieben Milliarden anderen nicht deutlich schlechter geht.

Dieser böse Nachbar sind gar nicht so selten wir

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit friedlichen Umgangs miteinander (es handelt sich übrigens auch um Unfrieden, wenn ökonomischer Druck ausgeübt wird) muss in den Köpfen einzelner Menschen entstehen und kann nicht von Staatswegen verordnet werden. Das erschwert die erforderliche Bewusstseinsänderung erheblich; denn einerseits sind nicht alle Menschen auf gleichem Wege und in gleicher Weise erreichbar (auch wenn das technisch möglich scheint), und andererseits kann nicht jeder individuell angesprochen werden. Es geht schließlich um die Wechselwirkung zwischen global ansetzenden Kräften und sehr persönlicher Überzeugung am "eigenen Herd". Der zur Überwindung dieser Diskrepanz erforderliche Spagat könnte, so eigenartig es klingen mag, der Außenpolitik gelingen, also der Regelung des Umgangs der Staatsführungen miteinander. Die muss allerdings eine wichtige Bedingung erfüllen, deren Beachtung heute noch fehlt: Jeder Politiker, der sich mit den Angelegenheit außerhalb des eigenen Staatsgebietes befasst und daher auch besonderen Einblick in die Materie haben kann, hat seinen Landsleuten zu erklären, dass erstens eine Abhängigkeit der häuslichen Lebensumstände von denen der anderen besteht, dass zweitens der friedliche Umgang nur zu erreichen ist, wenn gegenseitige Toleranz herrscht und dass drittens Wohlstand nur zu erlangen und zu sichern ist, wenn die Unterschiede zwischen Reich und Arm deutlich verringert werden.
Das heißt, die Wohlhabenderen müssen etwas abgeben, da es kaum möglich sein wird, den Lebensstandard der armen Leute in der "Dritten Welt" deutlich anzuheben, ohne dass wir in er "Ersten Welt" Abstriche hinnehmen müssen! Diese Forderung klingt, als müssten doch wieder zunächst internationale Organisationen eingeschaltet werden, um einen weltweiten außenpolitischen Kurswechsel einzuleiten (Das Auswärtige Amt erklärt: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Konkret bedeutet das den Einsatz für verbindliche Regeln und starke multinationale Institutionen, sowie Engagement für Abrüstung, Krisenprävention und friedliche Streitbeilegung"). Doch die Erfahrungen mit solchen Institutionen während der vergangenen bald 100 Jahre zeigen, dass darauf nicht gebaut werden kann. Vielmehr bedarf es der Übernahme der Vorreiterrolle durch eine einzelne Regierung, die ihrer Bevölkerung verständlich machen muss, worum es geht, wenn Beziehungen mit anderen Regierungen ein friedliches Auskommen sichern sollen. Damit wird nämlich zunächst erreicht, dass die Einsicht in die Notwendigkeit eines weltweiten Zusammenwirkens direkt bei der Bevölkerung erkannt wird, und sodann die Regierung mit einem echten Mandat im Rücken außenpolitische Anstrengungen unternehmen kann, die der Umsetzung der mit den Bürgern zu Hause verabredeten Maßnahmen zur Friedenssicherung dienen.

Doch die Erfahrungen mit solchen Institutionen während der vergangenen bald 100 Jahre zeigen, dass darauf nicht gebaut werden kann

Ein Beispiel soll das beleuchten: Das derzeit uns Europäern wohl am stärksten auf den Nägeln brennende internationale Problem ist die völlig außer Kontrolle geratene "Krise" im Nahen Osten, deren "Ausläufer" uns bereits erreichen – in Form einer großen Zahl von Zuflucht suchenden Menschen und von Terrorangriffen. Nicht so klar sichtbare Folgen wie gestörte Wirtschaftsbeziehungen, bestimmen seltner die Diskussion. Die Außenpolitiker der EU betonen zwar immer wieder, es gehe auch darum, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen, doch tatsächlich erschöpfen sich die Maßnahmen der Regierenden in der Abwehr von Flüchtlingen und in der Verteidigung gegen terroristische Übergriffe hierzulande. Denn den Ursachen des Elends in der Region in und um Syrien und Irak, im Jemen und in Libyen, aber auch im nur scheinbar befriedeten Ägypten widmet sich ernstlich, entgegen allen anderslautenden Beteuerungen, kein europäischer Politiker. Dafür gibt es eine Reihe von eher wenig stichhaltigen Begründungen, aus denen jedoch zwei herausragen, die von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen: Die Funktionäre unserer parlamentarisch-demokratischen Parteienherrschaft sind darauf angewiesen, dass sie immer wieder in relativ kurzen Abständen bei Wahlen ihr Mandat erhalten. Und wir müssen uns einer bitteren Tatsache bewusst sein: Die meisten Wähler vergeben dieses Mandat, das im Wege der Personenauswahl erteilt wird, nach Sympathiewerten aus einer momentanen Stimmungslage heraus, die nur ausnahmsweise von sachlichen Gesichtspunkten gelenkt ist. Insofern ist es als allzu menschlich und daher verständlich einzustufen, wenn die meisten Wähler die ihnen bequemste Lösung bevorzugen, also denjenigen Parteipolitikern ihre Stimme geben, die ihnen versprechen, ihr persönliches Wohlergehen durch Wohltaten der Regierung zu fördern oder zumindest zu sichern, direkt vor Ort und das möglichst schnell. Ein weiteres Kriterium für die Personenauswahl ist die Neigung Vieler, diejenigen Funktionäre zu bevorzugen, die den eigenen "gesunden Vorurteilen" das Wort reden, und nicht etwa diejenigen, die ihnen Nachdenklichkeit oder gar Einsicht in eigene Fehleinschätzung abverlangen. In solch ein Muster passen besorgniserregende Einflüsse aus fremden Regionen wie dem Nahen Osten nicht hinein. – Und zweitens: Viele Hiesigen ahnen allmählich, dass die Epoche der ungetrübten Lebenslust in Frieden und Wohlstand sich ihrem Ende nähert, und sie folgen ihrem "atavistischen Erbgut", indem sie auf die meist dunklen Ängste sozusagen automatisch entweder durch Flucht oder durch Aggression reagieren. Das Resultat sind die angeblichen Sorgen vor Überfremdung und als deren Folge die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, wobei je nach Veranlagung die einen in ihre heimelige Idylle fliehen und die anderen offen gegen Flüchtlinge Front machen. Wer sich in diesem Seelenzustand befindet, wird bei Wahlen die Leute wählen, die seiner Stimmung Nahrung versprechen. Die meisten Krisenregionen werden weit weggerückt, um den politischen Entscheidungsprozess daheim nicht zu "stören".

Die meisten Krisenregionen werden weit weggerückt, um den politischen Entscheidungsprozess daheim nicht zu "stören"

Doch obwohl es nun wirklich unübersehbar wurde, dass der Nahe Osten sogar so nah ist, dass die Menschen aus ihrem Elend von dort zu uns fliehen können – große Strecken davon zu Fuß – wird der Frage nach den Ursachen und schon gar der nach den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung wenig bis keine Beachtung geschenkt. Es ist aber Aufgabe der politisch Verantwortlichen – bei uns also der Parteien, die ja "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken sollen (Artikel 21 Grundgesetz) –, die erforderliche Aufklärungsarbeit zu leisten. Damit müsste überhaupt jede Außenpolitik beginnen! Denn wesentliche Ursache für Fremdenfeindlichkeit ist stets die Unkenntnis der Verhältnisse bei den "Fremden" und die Unkenntnis der Ursachen für deren Situation. Wollen wir im Nahen Osten Veränderungsbemühungen stützen und dafür bei den Bürgern hier die Bereitschaft zu helfen fördern, dann sollten unsere Politiker schleunigst folgende "Lagebeschreibung" unters Volk bringen: In diesem Raum haben die spätkolonialistischen Aktionen der Europäer (nach dem Ersten Weltkrieg) und die neo-kolonialistischen der Amerikaner zusammen mit ihrer "Koalition der Willigen" (nach dem Zweiten Weltkrieg) ein Unheil angerichtet, dessen Schäden die dort lebenden Menschen nicht allein beheben können. Selbst wenn das an sich zu erwartende Verantwortungsbewusstsein hier nicht anzutreffen ist, sollte wenigstens die nüchterne Feststellung, ein Chaos in der Region wird die Lage auch bei uns "destabilisieren", zu der Einsicht führen, dass unverzügliche Hilfe, und zwar durchaus teure Hilfe, das einzige Mittel ist, um einen Brand zu verhindern, den wir nicht löschen können. Der Bevölkerung hier muss verständlich gemacht werden, an welch seidenem Faden ihr Wohlleben hängt und dass es im Nahen Osten Regierungen und Rebellenorganisationen gibt, die das Messer zücken können, diesen Faden zu durchschneiden; dazu könnten schon die Terroraktionen der "Islamisten" ausreichen. – Es muss betont werden: Die erfolgreiche Erläuterung dieser Zusammenhänge ist Vorbedingung für jede zielführende, also friedensstiftende Außenpolitik. Oder anders ausgedrückt: Trotz der "Sorgen" wegen der "Lasten", die bei der Aufnahme und Eigliederung von Flüchtlingen entstehen und deren Probleme selbstverständlich zu meistern sind, muss unser Interesse der Aufbauhilfe vor Ort gelten! Dazu gibt es keine Alternative oder, wie Frau Merkel es nennen würde: die massive Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung im Nahen Osten ist "alternativlos".

Unser Interesse muss der Aufbauhilfe vor Ort gelten!

Zur "Lagebeschreibung" gehört aber auch, in Betracht zu ziehen, dass die Fehler der jüngsten Vergangenheit, etwa während der letzten 15 Jahre, eine verfahrene Situation geschaffen haben, die mit einem kräftigen Ärmelaufkrempeln, um Hilfe zu leisten, nicht zu ordnen sein wird. Denn nachdem der "Westen" einfach zusah, wie die Unruhen nach dem idiotischen Krieg der Amerikaner im Irak ihren Lauf nahmen und er allenfalls die Mächtigen in der Region, mit denen so herrlich bequem Geschäfte zu machen waren, unterstützte, haben Bürgerkriege und Kriege der Regierenden gegen ihr Volk oder solche Kriegshandlungen wie die der Türkei, Saudi-Arabiens und des Iran sowie die militärischen "Luftschläge" der Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen und Deutschen gegen fremde Völker ein Morden und Brennen ausgelöst, das mit "gutem Zureden" und der Ankündigung von Wirtschaftshilfe nicht zu beenden sein wird. Wir müssen nun auslöffeln, was uns die verfehlte Nahost-Politik der letzten Zeit eingebrockt hat; und das heißt im Klartext: Ohne einen massiven Militäreinsatz und ohne die Bereitschaft, danach bis zum Erreichen "stabiler" Verhältnisse mit einer Besatzungsmacht für Ordnung zu sorgen, ist wahrscheinlich keine Wende zum Besseren denkbar. Doch bevor ein solcher Vorstoß umgesetzt werden kann, müssen die Amerikaner mit den Europäern und den Russen einen Masterplan entwickeln und zur Diskussion stellen, dessen Realisierung ein friedliches Zusammenleben der Menschen im Nahen Osten zumindest wahrscheinlich macht. – Vor dieser Aufgabe schrecken die Regierenden in der Region und im "Westen" jedoch zurück, weil sie ihnen zu gewaltig erscheint. Doch mit der gleichen "Argumentation" wurde ein Eingreifen zu Beginn des Bürgerkrieges im Irak und in Syrien abgelehnt, als es mit verhältnismäßig geringem Aufwand, beispielsweise mit der Errichtung und Durchsetzung von Flugverbotszonen und dem Verbot größerer Militärbewegungen, möglich war, befriedenden Einfluss auszuüben. So billig kommen wir jetzt nicht mehr davon!

Nachdem der "Westen" einfach zusah, wie die Unruhen nach dem idiotischen Krieg der Amerikaner im Irak ihren Lauf nahmen, haben Bürgerkriege und Kriege ein Morden und Brennen ausgelöst

Dafür, welche konkreten Maßnahmen erforderlich sind, um nach Beendigung der Kriege für eine hoffnungsvolle Stimmung im Nahen Osten zu sorgen – wie übrigens auch in anderen Teilen der "Dritten Welt" –, wurden in verschiedenen Beiträgen in der ZEITBREMSE Vorschläge unterbreitet. Hier soll darauf nicht eingegangen werden. Vielmehr soll der Hinweis auf den Nahen Osten als Demonstration dafür dienen, welche grundlegenden Voraussetzungen zu erfüllen sind, um "moderne" Außenpolitik zu betreiben. Zusammengefasst und auf allgemeine Bedingungen abgestellt gilt folgendes: Der Grundgedanke für die Einführung einer neuen Außenpolitik muss sein, der eigenen Bevölkerung die Verhältnisse in der Welt so verständlich und ungefärbt wie irgend möglich darzustellen, und ihr zu verdeutlichen, dass ein friedliches und weitgehend sorgenfreies Leben zu Hause nur gesichert werden kann, wenn es den Menschen anderswo nicht erheblich schlechter geht, wenn sie in der berechtigten Hoffnung leben können, dass auch sie Lebensbedingungen erwarten dürfen, die sie aus Existenznot führen und sie in eine Stimmung der Zuversicht versetzen. Außerdem muss die Einsicht im Wege der "politischen Meinungsbildung" erzeugt werden, dass anderen Kulturen und auch anderen wirtschaftlichen Konzepten mit Toleranz zu begegnen ist, um eine verständnisvolle kulturelle Auseinandersetzung überhaupt erst möglich zu machen. Weltoffenheit sollte die Haltung sein, mit der die Bürger eines Staates auf ihre Nachbarn im Ausland blicken, was bedingt, die eigenen Ansichten zu hinterfragen und ständig daraufhin zu überprüfen, ob sie den aktuellen Umgebungsbedingungen noch entsprechen. Dieser Forderung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen gleiche Rechte besitzen. Und das wiederum wird durch die Feststellung belegt, dass wir zwar aufgrund unterschiedlicher Umgebungsbedingungen und Erziehung im Bereich des Teiles unseres Wesens, der "manipulierbar" ist, unterschiedliche "Sitten und Gebräuche" entwickeln, dass im Kern aber alle Menschen gleich sind. Erst wenn der Grundsatz der Gleichberechtigung ins Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung gelangt ist, kann die eigentliche Arbeit der Außenpolitiker beginnen. Die hat dann von Verantwortung für ein friedliches Miteinander geleitet zu sein und muss den Verzicht auf die Durchsetzung von Interessen enthalten, die den Frieden gefährden.

Weltoffenheit sollte die Haltung sein, mit der die Bürger eines Staates auf ihre Nachbarn im Ausland blicken

Die wesentliche Aufgabe der Außenpolitik ist also zunächst einmal eine nach innen gewandte, die von der Einsicht getragen wird, dass die Verhältnisse in der Welt nicht friedlicher werden, solange unter den einzelnen Menschen keine Bereitschaft besteht, für den Frieden in der Welt notfalls auch Verzicht zu üben. Erst in dem Moment aber, wo die Mehrheit der Bevölkerung diese Grundsätze mitträgt, kann die Regierung Konzepte vorstellen, die praktische Handlungsanweisungen für außenpolitische Aktionen enthalten. Die größte Schwierigkeit bei den Überlegungen zur Entwicklung einer neuen Außenpolitik verbirgt sich aber darin, dass den Menschen eines Staates, also beispielsweise uns Deutschen, klarzumachen ist, dass sie nicht warten dürfen, bis internationale Organisationen sich daranmachen, die "Weltpolitik wieder in ordentliche Bahnen zu führen", sondern dass dies nur zu erreichen ist, wenn eine Regierung mit gutem Beispiel voranschreitet. – Als im vergangenen Sommer die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kamen, zwar nicht unerwartet, für viele jedoch sehr plötzlich gewaltig anstieg und sich an den Grenzen Südosteuropas und auf dem Mittelmeer furchtbare Szenen abspielten, reagierte die Bundesregierung mit einer großzügigen Aufnahmepraxis, die von Frau Merkels berühmt gewordenen Satz "Wir schaffen das!" begleitet war. Diese Maßnahme entpuppte sich aber nicht als Teil einer Strategie zur Bewältigung des "Flüchtlingsproblems". Vielmehr war sie Ausdruck einer Hilflosigkeit, die erschreckend deutlich offenbarte, dass unsere Regierenden das "Problem" überhaupt nicht auf ihrer Agenda hatten. Denn andernfalls hätte der Bevölkerung unmittelbar erklärt werden müssen, welche konkreten Maßnahmen zur Behandlung der Flüchtlinge – zu einem menschenwürdigen Umgang mit ihnen – vorgesehen seien und welche Schritte unternommen werden, um den Ursachen der Flucht zu begegnen. Es waren dann spontane und ehrenamtliche Hilfsmaßnahmen, die Schlimmeres verhinderten. Der Mangel an "strategischer Planung" hat nun dazu geführt, dass der spontanen Hilfsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung Verzagtheit gefolgt ist. – Dass jetzt, nachdem an der Flüchtlingspolitik die EU zu scheitern droht, noch "vernünftige" von unseren Politfunktionären außenpolitische Programme entwickelt werden können, ist leider kaum vorstellbar. Zu hoffen bleibt nur, dass der Leidensdruck so groß wird, bis eine Umkehr erzwungen wird. Das verspricht uns dann jedoch keine gute Außenpolitik, sondern einen Notfahrplan, dem sicherlich jeglicher Blick auf langfristige Entwicklungen fehlen wird.

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Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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