Es war der Tod, der meinen Vater und mich gemeinsam eine Reise nach Schottland antreten ließ. Ich stand noch unter Schock, als ich vorschlug, spontan mit meinem kleinen Auto loszufahren, und er, der normalerweise alles Monate im Voraus bis ins Detail plante, stand ebenfalls noch unter Schock, denn er sagte überraschend Ja. Für ihn würde es das erste Mal in Schottland sein, deshalb packte ich ihm ein paar Reiseführer auf den Schoß, damit er sich auf dem Beifahrersitz nicht langweilte und wenigstens ein bisschen was planen konnte. Wir gondelten gemütlich über Cambridge und Durham nach Norden, winkten den Grenzschildern in den malerischen Hügeln nicht weit vor der hübschen Klosterruine von Jedburgh zu, fanden ein überwältigend gastfreundliches Bed and Breakfast in Callander und wanderten drauf los: Loch Lomond und The Trossachs, egal bei welchem Wetter, Hauptsache raus, ans Wasser, durch die Hügel, raus eben.
Abends im Pub probierte sich mein Vater, Sohn eines Gastwirts, durch die verschiedenen Biersorten und fachsimpelte mit dem Mann am Zapfhahn. Ab und zu versuchte er es mir zuliebe mit einem Whisky, gab allerdings nach drei, vier Anläufen auf mit der Frage: „Warum soll ich etwas trinken, das nach verbrannten Autoreifen riecht?“ Die Rede war von Laphroaig, meinem Lieblingswhisky, und ich sah ihn endlich lachen. Mit größtem Interesse ließ er sich beim Frühstück von unserem Landlord erklären, wie er diesen perfekten Rasen hinbekam, und nachdem wir eine Destillerie besichtigt hatten, war sein Respekt vor Whisky durchaus gewachsen. Trinken wollte er ihn trotzdem nicht.
Es folgten ein paar touristische Streifzüge durch Edinburgh, und irgendwann, wir standen gerade zwischen der etwas absurd anmutenden Ansammlung von Denkmälern auf Calton Hill und schauten über den Firth of Forth bis rüber nach Fife, während uns der Wind wegzuwehen drohte, irgendwann sagte mein Vater ganz ruhig und zufrieden: „So, jetzt ist es wieder gut. Jetzt können wir fahren.“ Seitdem glaube ich, dass Schottland magische Kräfte hat. Oder wenigstens heilende.
Für mich war es nicht das erste und längst nicht das letzte Mal in Schottland. Einige Jahre später mietete ich mir zunächst in St Andrews ein Häuschen, dann in Edinburgh eine Wohnung und schrieb über einen Zeitraum von fünf Jahren vier Romane, die dort spielten.
Es war wohl mit das Angenehmste an diesem Land, wie man mit mir umging, wenn ich sagte, was ich beruflich machte. Niemand fragte mich, ob ich reich verheiratet sei oder geerbt hätte. Mich überraschte vielmehr die Frage, ob ich denn schon mal etwas veröffentlicht hätte. Wer schreibt, ist Schriftsteller*in. Scheiß aufs Veröffentlichtsein, Kunst ist Kunst. Und gerade Geschichtenerzählen und Musikmachen gehören zur nationalen Identität.
Shakespeare wäre neidisch
Und dann diese Herzlichkeit Fremden gegenüber. In ländlicheren Gegenden grüßt man auf der Straße, lächelt, sagt etwas Freundliches. Immer wieder geriet ich in Situationen wie in diesem Pub in Kirkcaldy, ich wollte nach einem Spaziergang eigentlich nur mal kurz aufs Klo, aber dann blieb ich drei Stunden, weil ich mich irgendwie verquatscht hatte und dabei – mal wieder – den Eindruck bekam, dass ganz Schottland leidenschaftlich Bücher liest und pro Haushalt ganz uneitel mindestens drei fertige Manuskripte in der Schublade hat. Wahre Schott*innen feiern auch jedes Jahr kultisch den Geburtstag ihres Nationaldichters Robert Burns. Shakespeare wäre neidisch. Goethe sowieso.
Geschichten gehören zum schottischen Alltag wie Whisky und Dudelsack und Golf, und natürlich ist das alles gleichzeitig auch touristisch. Überhaupt sind alle Klischees radikal wahr. Das müssen sie sein, weil die Tourismusindustrie für Schottland ungemein wichtig ist. Und weil es den Schott*innen selbst ungemein wichtig ist, ihre nationale Identität zu wahren und zu zeigen. Sie gehören vielleicht zähneknirschend zu Großbritannien, aber sie sind anders als die Nachbarn im Süden. Sie haben ihr eigenes Bildungssystem, ihre eigene Kirche, eine eigene Fußballnationalmannschaft, eigene Gesetze, eine eigene Polizei, natürlich eine eigene Flagge und inoffizielle Nationalhymnen, seit 20 Jahren ihr eigenes Parlament, und zwei Nationalgetränke, die die Grenze noch einmal klar definieren: Whisky (ohne e!) und Irn-Bru. Sie frittieren ungefähr alles, was essbar ist, sie drucken eigene Banknoten. Sie sind deshalb noch lange keine Nationalisten, das ist den allermeisten sehr wichtig.
Während die kulturelle Abgrenzung nach Süden eine klare Sache ist, zeigte sich doch 2014 während des Referendums für die Unabhängigkeit Schottlands, wie gespalten es im Land zugeht. Der Kampf beider Lager um Stimmen war erbittert, der Ausgang 45 Prozent für Ja, 55 für Nein. Das Land teilt sich noch weiter auf. Highlander und Lowlander, Glasgow und Edinburgh, Katholiken und Protestanten (was entsprechend bei den Fußballclubs fortgeführt wird), arm und reich. Edinburgh ist als Stadt in sich schon extrem gegensätzlich, die Old Town verwinkelt und düster, die New Town hell und streng in der Architektur. Jekyll und Hyde gehören in Wahrheit dorthin, nicht nach London, ihr Erfinder Robert L. Stevenson kommt schließlich auch aus der schottischen Hauptstadt. In Edinburgh verirrte ich mich irgendwann mal nach Greendykes. Über Greendykes findet sich nichts in irgendeinem Reiseführer. Oder bestenfalls eine Warnung, die Gegend zu meiden. Das Ausmaß an Armut und staatlich geförderter Verwahrlosung war, positiv formuliert, bedrückend. Man weiß Gegenden wie diese gut vom Rest der Bevölkerung abzugrenzen. In beide Richtungen. Dort merkt man nichts davon, dass man im Land der wunderschönen Berge und Glens und Lochs ist. Dort merkt man nur Jahrzehnte gescheiterter britischer Sozialpolitik.
Dieser dichte Seenebel
Schottland ist in vielem dann eben doch sehr britisch, auch in den krassen sozialen Unterschieden, oder den uralten Diskriminierungen, die eine weiße männliche Oberschicht gern pflegt. In St Andrews schlagen stinkreiche Herren auf dem ältesten Golfplatz der Welt ihre Bälle. Der ehrwürdige Golfclub nahm, als ich noch dort wohnte, keine Frauen auf, das wurde erst kürzlich geändert. Mit einer gewissen Schadenfreude sah ich gern dabei zu, wenn die Herren trotz dichtestem Nebel versuchten, etwas Sinnvolles mit ihren Eisen zu vollbringen. Schließlich kostet ein Tag auf dem Old Course einen Haufen Geld.
Der dichte Seenebel, der sich manchmal über St Andrews legt, hat etwas extrem Unheimliches. Er verschluckt entfernte Geräusche und verstärkt die der eigenen Schritte. Er lässt einen Dinge sehen, Schatten und Formen, die vielleicht gar nicht da sind. Ich war nach einer Viertelstunde im Nebel bereit, jedes einzelne Märchen über Pukkas und andere Sagengestalten zu glauben. Als dann die Sonne rauskam und das Meer glänzte, es war Juni oder Juli, wenn die Nächte blau bleiben und nicht schwarz werden, fiel mir ein, wie mein Vater einige Jahre zuvor gesagt hatte: „Jetzt ist es wieder gut.“ Und ich wusste sicher, dass dieses Land etwas Magisches hat.
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