Sei es, weil die Literaturwissenschaften noch immer im Schema von Nationalliteraturen denken, sei es wegen einer gewissen Ratlosigkeit angesichts seiner vielschichtigen Texte: Bis in die jüngste Zeit rekurrierte die Forschung zum ÂHolocaust-DramaÂ, sowohl die anglo-amerikanische als auch die deutschsprachige, nur in den seltensten Fällen auf Stücke von Tabori", schreibt Jan Strümpel in seiner aufschlussreichen Studie über Taboris Dramen. Den langen Satz muss man eine Weile nachklingen lassen, um den Sinn wirklich ermessen zu können. George Tabori ist allgemein bekannt, er ist beliebt, aber er wird weder als Deutscher, noch als Engländer oder als Ungar wahrgenommen, und damit fällt er mit seiner Arbeit sozusagen zwischen die Länder! Dieser Hinweis sagt - über Tabori hinaus - einiges über unseren Umgang mit literarischen Zuordnungen und ungenauen Wahrnehmungen.
George Tabori wurde 1914 als Tábori György in Budapest geboren. Er ist Büchner-Preis-Träger, seine Romane liegen in deutschen Übersetzungen vor, so gut wie alle Aufführungen seiner Dramen sorgten für Aufsehen, trotzdem gibt es kaum Literatur über seine Arbeit. Um so erfreulicher ist Jan Strümpels ausführliches Buch über Taboris Theaterstücke. Zu seinen Leitgedanken gehört die Frage, wie dramatische Strukturen aussehen können, die sich mit dem Massenmord und dessen Folgen auseinandersetzen. Um dieses Problem zu beleuchten, zieht er zunächst eine Reihe von anderen bekannten Bühnenarbeiten heran, die sich dem Schrecken der Nazizeit zu nähern versuchen - etwa Heinar Kipphardts Bruder Eichmann, oder Hochhuths Der Stellvertreter. Im Vergleich mit diesen Dramen zeigt er dann einen wesentlichen Unterschied zwischen Tabori und seinen deutschen Kollegen: In der deutschen Bewältigungsdramatik gehe es um den Täter und damit um die Frage: "Vater, was hast du im Krieg gemacht?" Bei dieser Frage blieben die Juden nur Randfiguren.
Tabori hingegen bezieht sich auf die Opfer. Und bei all seinen Bühnenvorstellungen appelliert er auf die Vorstellungskraft des Zuschauers. Diese Doppelbedeutung des Wortes Vorstellung spielt schon in Strümpels Buchtitel mit, in Vorstellungen vom Holocaust. Der Untertitel, den er seiner Arbeit gab, ist nicht weniger interessant: George Taboris Erinnerungs-Spiele. Tabori geht es nämlich grundsätzlich in allen seinen Dramen um die Erinnerung, um deren Versinnlichung, Vergegenwärtigung, um die Kultur der Erinnerung, um ihre Subjektivität und daher um die Frage, wer wie von seinen Erinnerungen erzählen kann.
Die Kannibalen, Mutters Courage, Jubiläum oder Mein Kampf, sie alle sind experimentelle Versuche, die sich jeweils unterschiedlich mit der Pflicht zur Erinnerung beschäftigen. Jan Strümpel skizziert den Ablauf dieser Stücke (so dass auch jene Leser, die Tabori noch nicht kennen, einen guten Einblick bekommen), und er zitiert Dialogfragmente des Originals. Merkwürdig, wie tief man schon durch einige wenige Original-Sätze Taboris berührt wird! Man würde doch annehmen, dass diese Sätze ihre Wirkung erst auf der Bühne voll entfalten. Zu diesem Phänomen sagt Strümpel: "Objektive Fakten verbinden sich bei Tabori stets mit der Gestaltung von Gefühlszuständen, nicht erst in der Inszenierung, sondern bereits im Text."
In dem 1987 uraufgeführten Stück Mein Kampf bekommt die Erinnerung eine besonders bizarre Rolle. Der junge erfolglose Kunststudent Hitler - wir alle kennen dieses Bild des späteren Diktators - begegnet in einem Männerwohnheim zwei Juden, und gerade die Erinnerungsfähigkeit der beiden Männer scheint ihm bedrohlich, er will ihre Erinnerungen vernichten, um Spuren der eigenen Fehler auszulöschen. Die Auslöschung der Erinnerungen, ein Mnemozid, habe Hitler später mit dem Genozid bewirken wollen. Eine so provokante - witzige - Schlussfolgerung verschlägt einem natürlich den Atem.
Dem subversiven Witz, diesem besonderen Nach-Auschwitz-Phänomen bei Tabori, räumt Strümpel ein großes, interessantes Kapitel ein, untersucht darin unter anderem die Herkunft, die Wirkungsweise und auch das Ziel der Witze, und er zitiert immer wieder den Meister: Humor sei ein Lebensweg und habe sehr viel mit Toleranz zu tun. Der Witz sei grundsätzlich ein Träger von Erinnerungen. Manchmal sei er die Heiterkeit der Verzweiflung. Oder einmal wörtlich: "Einen Witz nehme ich immer todernst, weil für mich der Inhalt eines Witzes immer eine Katastrophe darstellt. Der Witz ist die perfekteste literarische Form, weil er kurz ist, absolut logisch, und die Pointe ist immer eine Überraschung."
Ein Vergnügen ist auch, wie Strümpel auf die Wortwahl Taboris eingeht. Im Fall von Die Kannibalen zeigt er, dass Tabori auf ganze Wortfelder verzichtet, die sonst in der Literatur über den Holocaust üblich sind; "Wörter wie Sinn, Zivilisation, menschlich oder Hoffnung." Die Kehrseite von Taboris Erfolg und spätem Ruhm offenbare sich darin, dass seine Arbeiten zur Holocaust-Thematik leider in keiner Weise "schulbildend" geworden seien, sagt Strümpel und fügt lakonisch hinzu: "Man wird Tabori fast ein unfreiwillig gehaltenes Monopol auf theatrale Holocaust-Repräsentationen zusprechen müssen."
Jan Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele. Wallstein Verlag, Göttingen, 2000, 207 S., 40,- DM
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