Es gibt immer eine Alternative

Parteiaustritt "Aus der SPD tritt man nicht aus", lautet ein altes Mantra der Sozialdemokratie. Angesichts der aktuellen Politik der Sozialdemokraten muss man sagen: Doch!

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Ob Frauenquote oder Asylpolitik: Die SPD bleibt in der Tradition ihrer neoliberalen Agendapolitik aus der Schröder-Ära verhaftet
Ob Frauenquote oder Asylpolitik: Die SPD bleibt in der Tradition ihrer neoliberalen Agendapolitik aus der Schröder-Ära verhaftet

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

"Die SPD hat sich voll (!) durchgesetzt"

SPD-Mitglieder wissen, wann das Mail-Fach wieder überquillt: Kaum hat die SPD-Bundestagsfraktion mal wieder ein Gesetz gegen Flüchtende beschlossen, das ausschließlich zum Ziel hat, Tausende Menschen schneller aus der "deutschen Volksgemeinschaft" zu entfernen, da landet verlässlich eine Mail von Sigmar Gabriel, der aktuellen SPD-Generalsekretärin oder lokalen SPD-Größen im Spam-Ordner, der die sozialdemokratische "Willkommenskultur" beschwört und die einfachen Genoss*innen zum Eintreten gegen "Rechtsextremismus" und zu praktischer Hilfestellung in Form von Sachleistungen ermuntert.

So war es nach dem zweiten Asylkompromiss am 2. Juli 2015, der die Abschiebung durch präventive Inhaftierung Asylsuchender erleichtern sollte, und so ging es auch nach dem dritten Asylkompromiss weiter, der Mitte Oktober beschlossen wurde und Abschiebungen genauso erleichtert, wie er die Isolation hier lebender Geflüchteter verstärken wird. Und wir haben jüngst erlebt: Die Kette solcher Kompromisse ist noch nicht beendet.

Die beständig grummelnde SPD-Basis sieht in der Parallelität von Willkommens- und (Ver-)Abschiebungskultur meist die Bestätigung ihres sozialdemokratischen Idealismus. An den rot-getönten Stammtischen ist mensch sich sicher, dass die hehren Ideale der Partei entweder von einer "unfähigen Parteiführung" und einem "bösen Koalitionspartner" (linker Flügel) oder von unausweichlichen Sachzwängen des "Pragmatismus" (rechter Flügel) ausgebremst würden.

Gerade linke Sozis inszenieren sich gerne und sehr ausdauernd als Opfer konservativen Wirkens und diese Deutung hat sogar allgemeine Anerkennung erfahren. Deshalb heißt die seit 1993 erfolgte schrittweise Abschaffung des Asylrechts ja auch oft "Asylkompromiss 1, 2, 3 und x", als hätten sich Vertreter*innen von CDU und SPD nach langem und hartem Ringen auf einen Kompromiss geeinigt, dem die SPD’ler*innen nur zustimmten, weil sie entweder tödlich bedroht oder mit total menschenfreundlichen Gegenleistungen bestochen worden wären.

Tatsächlich stimmt das nicht. Die vermeintliche Problemanalyse sieht bei der CDU genauso aus wie bei der SPD – das Recht des Nationalstaates, sich die gewünschten und im Idealfall produktiven bzw. besonders beliebten Flüchtenden auszusuchen, wird nicht etwa in Zweifel gezogen, sondern verteidigt. Deshalb war es auch nicht die CDU-Kanzlerin, die zuerst auf Pegida zu hüpfte, sondern SPD-Chef Sigmar Gabriel, der sich zudem gleich nach der von ihm unterstützten Bild-Kampagne mit anrührenden Flüchtlingsbildern mitsamt seiner Kolleg*innen beeilte, auf die Grenzen der Aufnahmebereitschaft und die angebliche Notwendigkeit von Repression und Kontrolle aufmerksam zu machen.

Ein ähnlich tragisches Bild bot sich der interessierten Öffentlichkeit auch beim Streit der deutschen mit der griechischen Regierung im ersten Halbjahr 2015: Während Angela Merkel schwammig und ohne jede Konsequenz etwas vom "gemeinsamen Europa" in irgendeine Kamera sülzte, packte Gabriel die Krupp-Geschütze aus und feuerte die Sorgen und Nöte der deutschen Arbeiter*innen und Rentner*innen auf die vermeintlich linksextremistische Syriza-Regierung ab, welche es gewagt hatte, auf die humanitäre Katastrophe in Griechenland hinzuweisen.

Bei beiden historischen Aufgaben beeilte sich die SPD, den vermeintlichen Sieg bzw. die Deutungshoheit für sich zu reklamieren: "Die SPD regiert. Das Land kommt voran", "Die SPD bestimmt den Kurs", "Die SPD hat sich voll durchgesetzt". Das lässt sich bis zur nächsten Wahl noch beliebig steigern – wer sich die Genese sozialdemokratischer Selbstzufriedenheit schon mal in der Rückschau ansehen möchte, dem sei das Foto-Album ihrer Facebook-Dependance empfohlen.

Der von der deutschen Sozialdemokratie erst erschaffene und anscheinend gewollte Kampf zwischen der immer weiter verarmenden griechischen Bevölkerung und den deutschen Arbeiter*innen, ist aber nicht nur der Beweis dafür, dass die SPD die Erteilung "europäischer Solidarität" ausschließlich nach der Nützlichkeit für das deutsche Kapital bewertet, sondern auch dafür, dass der zarte, rötlich-schimmernde Anspruch von 2009 bis 2013 eine Show oppositionsgeplagter Rechtsausleger*innen um Sigmar Gabriel war, die niemals die Revision der zerstörerischen deutschen Wettbewerbspolitik nach Innen sowie Außen im Sinne der rot-grünen Agenda 2010 angestrebt haben. Tatsächlich waren die Oppermänner, Gabriels oder Nahles’ der Partei des organisierten Arbeiter*innenbetrugs bereit, nach der krachenden Wahlniederlage von 2009 einige vermeintlich linke Punkte in das neue Wahlprogramm aufzunehmen.

So erklärte der Parteichef in einem mutigen Moment sogar:

"Das Zeitalter des Neoliberalismus muss endlich zu Ende sein"

Dieser Satz trug einen neuen Sinn, Hoffnung und Freude in die Herzen derjenigen Sozialdemokrat*innen, die ihren Realitätsinn ausreichend lange suspendieren konnten, um während Schröders Regiment in der Partei ausharren zu können. Und ja, dem Neoliberalismus ging es mit dem SPD-Programm zur Bundestagswahl 2013 vielleicht nicht gerade an den Kragen, aber von der unsozialen Dampfwalzenpolitik der vorherigen Jahre war in den süßen Reden der wiedererweckten Arbeiterführer*innen auch nicht mehr viel zu spüren. Die SPD versprach nicht unschöne Dinge wie eine Senkung des Rentenalters, einen flächendeckenden Mindestlohn, eine allgemeine Bürger*innenversicherung, Steuergerechtigkeit, eine Mietpreisbremse oder auch schärfere Kontrolle von Waffenexporten. Wie viele Traditionsgenoss*innen mit diesen Versprechungen erreicht wurden ist zwar nicht mehr zu ermitteln, es lässt sich aber feststellen, dass linkere Teile der Basis, die Jusos und andere Arbeitsgruppen der Parteiführung die erneute 180-Grad-Wende abkauften und sich in den Wahlkampf stürzten.

Doch die sich damals bereits abzeichnende Wahlniederlage musste als Begründung für die anschließende Absetzbewegung führender Genoss*innen von den eben noch vertretenen Zielen herhalten: So brachte Fraktionschef Oppermann in dem inzwischen fast als SPD-nah zu bezeichnendem Springer-Blatt Welt die Wahlniederlage mit dem Steuermodell der Partei in Verbindung und Gabriel rief 2014 sogar dazu auf, sich von Steuererhöhungen zu verabschieden. Allerdings war er bereits im Wahlkampf angesichts schlechter Umfragewerte eingeknickt und hatte im Zuge seiner Rede zum 150-jährigen Parteijubiläum Steuersenkungen ins Spiel gebracht. So bleibt fraglich, inwiefern das Gros der Entscheidungsträger*innen der SPD einen echten Politikwechsel im Blick hatte oder die Vermarktung des Programms "links von der Mitte" (Steinbrück) nur ein berechnender Versuch war, die Basis zu beruhigen und Wähler*innen aus dem linken Spektrum zurückzugewinnen.

Bis heute bleibt die SPD in ihrem politischen Handeln in der Tradition der neoliberalen Agendapolitik der Schröder-Ära verhaftet. Grundlegende Änderungen an dieser entscheidenden Schwächung des Sozialstaates zeichnen sich bis heute nicht ab. Im Gegenteil wird die Lage durch die von der SPD mit vorangetriebene Umsetzung der Schuldenbremse noch verstärkt, da angesichts der jahrzehntelangen defizitären Einnahmen- und Ausgabenpolitik jene (stetig steigenden) Ausgaben, zu denen wir uns als Gesellschaft entschlossen haben, nicht mehr gedeckt werden können. Wichtige staatliche und gesellschaftliche Investitionen werden verhindert: bspw. in die kommunale Verkehrsinfrastruktur oder in den Bildungsbereich, in dem Inklusion auch weiterhin auf eine Umsetzung wartet, die diesem Begriff gerecht wird.

Der auch von der SPD lange gepriesene Versuch, den Investitionsstau bei der öffentlichen Infrastruktur durch Öffentlich-Private-Partnerschaften einzudämmen, kann mittlerweile als gescheitert betrachtet werden, hat er sich doch als nachteilig für die öffentlichen Haushalte erwiesen, wie selbst der erz-konservative und jeder echten Sparmaßnahme zugetane Bundesrechnungshof bereits mehrfach angemerkt hat. Nichtsdestotrotz hat SPD-Chef Gabriel in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister Mitte 2014 eine Expert*innenkommission zur "Stärkung von Investitionen" eingesetzt, die zum Ziel hatte, private Geldgeber*innen für Investitionen in die deutsche Infrastruktur zu begeistern.

Wie absurd die vermeintliche "Kampfansage" an den Neoliberalismus der Jahre 2009 bis 2013 wirklich war, zeigt neben der absoluten Folgenlosigkeit linker Programmatik für die Realpolitik der SPD die Positionierung der Partei zu TTIP und TISA. Statt für freie und im besten Sinne sozial halbwegs abgesicherte Menschen, wird hier für freie Märkte und die größtmögliche Konkurrenz aller wirtschaftlichen Akteur*innen im neuen neoliberalen Großraum gekämpft. Die Verlagerung der jeweiligen Branchen in die Regionen des Großraums, in denen um wenige Euro- oder Dollar-Cent – das ist dann endlich egal – billiger produziert werden kann, sorgt wie von selbst für eine Nivellierung jeweils erkämpfter Rechte, und die Sozialdemokratie stößt endgültig die Zellen ab, die in früheren Zeiten für eine Zähmung transnationaler Konkurrenzverhältnisse standen.

Der Neoliberalismus ist in der SPD ab 2013 nicht erneut aufgebrochen, er war nie weg. Die Partei war immer die "Deutschland-Partei", die sich vor die Wahl gestellt, (a) das herrschende System zu erhalten, dafür die halbwegs menschenfreundliche Programmatik über Bord zu werfen und in schwerer Not Regierungsverantwortung zu übernehmen oder gar (b) "vaterlandslos", kritisch und systemverändernd zu sein, immer für ersteres entschied. So wurde das rötlich-schimmernde Programm eben in der Opposition erarbeitet und in der Regierung ignoriert oder gar in sein Gegenteil verkehrt. Denn der "Progressivismus", der dort fröhliche Umstände feierte, bedeutet keine fortschrittliche Politik in puncto Bürger*innenrechte oder sozialem Fortschritt, sondern die systemische Anpassung und Erneuerung der Grundlagen tagtäglicher Ausbeutung. Besonders tragisch ist dabei, dass das rötliche von manchen Linken, von den Medien, von Gewerkschaften und immerhin immer weniger Wähler*innen oft als wahres, idealistisches Gesicht einer Partei wahrgenommen wird, welche anders würde, wenn sie nur könnte.

So kam es schließlich zu jener historischen Ironie, dass die SPD in Deutschland das geschaffen hat, wozu die konservativ-liberale Kohl-Regierung nicht imstande oder willens war: Um den propagierten gesellschaftlichen Fortschritt umzusetzen, hat sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im neoliberalen Sinne zum endgültigen Durchbruch verholfen. Das ist im höchsten Maße progressiv gewesen – allerdings ganz anders, als sich viele zuvor vorgestellt hatten.

Wie progressiv das war und noch werden wird, sieht mensch an folgendem Slogan, der Drohung und Selbstbetrug zugleich ist:

"Die SPD regiert. Das Land kommt voran"

Nachdem Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung 2003 verkündete, Reformen auf den Weg bringen, den Sozialstaat umbauen und erneuern zu wollen, und damit die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu schaffen, wurden diese Forderungen auf einem Sonderparteitag wenig später mit einer über 80-prozentigen Mehrheit beschlossen. Ein basisdemokratisches Mitgliederbegehren gegen die Reformen der Agenda 2010 hatte dagegen keinen Erfolg. Die neoliberalen Neue-Mitte-Floskeln, mit denen unter anderem die Flexibilisierung zulasten der Arbeitnehmer*innen oder die Ausweitung von Sanktionen gegen Arbeitslose geschickt kaschiert wurden, waren einfach zu bestechend.

Die Agenda-Reform wird auch von vielen Sozialdemokrat*innen bis heute als entscheidender Faktor für die relative wirtschaftliche Stärke Deutschlands gefeiert. Schöne Wirtschafts- und Arbeitsmarktstatistiken eignen sich denn auch wunderbar, die damit verbundenen Kosten für die hiesigen Arbeitnehmer*innen, insbesondere aber auch für diejenigen aus dem Großteil der übrigen europäischen Ländern zu überspielen. Von internationaler Brüderlichkeit, wie sie die SPD gerne beschwört, keine Spur. Ein eigentlich mit den Grundwerten der SPD unvereinbarer Zustand. Doch glücklicherweise war zumindest für die Wähler*innen zuhause sofort die passende Medizin zur Hand: Die Idee des Mindestlohnes als Allheilmittel für alle sozioökonomischen Probleme – Aufwertung von Billiglöhnen gleich Ankurbelung von Konsum gleich Anstieg der Konjunktur – nahm schon im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 so groteske Züge an, dass selbst neo(sozial)liberale Vordenker wie Peer Steinbrück wirkten, als würden sie tatsächlich daran glauben.

Der Glaube in der SPD daran, die herrschenden Verhältnisse dadurch besser machen zu können, indem man sie reformiert, sitzt tief. Ein weiteres Beispiel für diese – durchaus lobenswerte – Besessenheit ist die Frauenquote. Jüngst auch verpflichtend angekommen in der deutschen Wirtschaft – zumindest bei den DAX-Größen. Doch statt hier Sexismus als Grundproblem klar zu identifizieren, begnügt sich die SPD damit, die Forderung nach mehr Frauen in Vorständen schon beinahe tautologisch dadurch zu begründen, dass mehr Frauen halt einfach besser seien. Die Antwort auf die Frage, was dann die Quote ausschließlich in den Vorständen von 30 Konzernen an gesellschaftlichen Veränderungen nach sich ziehen soll, bleibt folgerichtig auf der Symbolebene kleben: Die "Gleichstellung" in der Spitze der Spitze der deutschen Wirtschaft käme ja allen Frauen in den Unternehmen zu Gute, denn die neuen Führungsfrauen sorgten schließlich für eine neue Unternehmenskultur, die bestimmt frauenfreundlicher sei. Inwiefern dies überhaupt passiert und ggf. sogar Männer systematisch begünstigende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen aufbrechen und verändern kann, bleibt offen. Schließlich ist die SPD selbst ein gutes Negativbeispiel dafür, dass sexistische Strukturen nicht allein durch das angebliche Allheilmittel Frauenquote aufzuheben sind. Die Quote kann höchstens der Anfang sein. Wir sind gespannt auf die Fortsetzung.

An beiden Beispielen – Agenda-Reform und Frauenquote – wird deutlich, warum die SPD gute Chancen hat, eine Partei des Status quo – sprich: konservativ – zu bleiben. Man müsse nur hier und da die Stellschrauben nachjustieren und die Zahnräder schmieren und schwupps – Veränderung ist da! Dass das Getriebe als systemisches Grundproblem dabei dasselbe bleibt und schlimmstenfalls nur noch besser läuft, wird ignoriert. Sobald versucht wird, diese Perspektive zu beleuchten, und anscheinend traumatisierende Kampfbegriffe wie Kapitalismus, Sozialismus oder Patriarchat ins Spiel gebracht werden, bekommt mensch offen den Vogel gezeigt bzw. die gelbe Karte. Schließlich werden mit solcherart "abgehobenen" Grundsatzdebatten nicht nur das schöne kuschelige Klima zerstört, sondern auch mitwirkungsbereite, aber das Denken angeblich nicht gewöhnte Neumitglieder abgeschreckt.

Die Analyse endet spätestens da, wo dann von "Finanzhaien", "Heuschrecken" oder dem "raffenden Kapital" palavert wird. Ist mensch die schließlich durch Reformen los, würde alles wieder gut. Nur mal angenommen, das passiere tatsächlich: Für wen werde es dann eigentlich gut? A: Für die gesellschaftlich Abgehängten, die vom Abgehängtwerden Bedrohten oder wenigstens für die Arbeitnehmer*innen, die der SPD doch am Herzen liegen? Oder B: eher für "die deutsche Volkswirtschaft", das deutsche Kapital, oder das Bild (Image) von Deutschland, das dem Vizekanzlers liebstes Kind zu sein scheint? Dass Antwort B Antwort A eben nicht grundlegend nach sich zieht, dürfte schon allein angesichts der jüngsten Armuts- bzw. Reichtumsstatistiken hinlänglich belegt sein. Doch diese Dissonanz zwischen Programmatik und politischen Ergebnissen trotz angeblich wohlfeiler Instrumente wird in der SPD seit langem schon nicht mehr thematisiert. Solange Sozialdemokrat*innen weiter daran glauben, dass der Kapitalismus reformierbar ist, so lange wird von der SPD keine emanzipative, progressive Politik zu erwarten sein.

Reförmchen können zwar legitim sein, denn sie können für einige Positives herbeiführen. Doch unter SPD-Führung hat das Positive einen zu hohen Preis: Mit einer Quote, die einigen wenigen Menschen zugute kommt, erkauft mensch sich Ruhe für die nächste Massenentrechtung, mit dem Mindestlohn wird sozialer Protest als überflüssig delegitimiert und die nun einmal "privilegierten" 8,50’er*innen können sich unter SPD-Anleitung darüber freuen, dass ihre Arbeit dem Staat offensichtlich mehr Wert ist, als die der mindestlohnbefreiten Jungarbeitnehmer*innen, Langzeitarbeitslosen, Auszubildenden, Praktikant*innen oder erzwungenen Scheinselbstständigen. Und Reförmchen-Erfolge täuschen darüber hinweg, dass mensch dabei immer auf die Grenzen des Sandkastens beschränkt bleibt, statt die Grenzen selbst und die durch sie herbeigeführte Enge gänzlich infrage zu stellen.

Das macht im SPD-Universum aber nichts, schließlich gilt es – gerade in der Terminologie roter Landespolitiker*innen, die Gestaltungswillen propagieren – endlich:

"Das Aufstiegsversprechen zu erneuern"

Eine in der Konsequenz für viele Menschen besonders verheerende Reformutopie, die die SPD wie eine Monstranz vor sich herträgt, ist die Abschaffung von Ungleichheit. Sie ist wohl ein Hauptgrund, überhaupt in die SPD einzutreten. Der Weg: Das Aufstiegsversprechen. Die These: Bildung schafft Ungleichheit ab. Jede*r, der*die will und sich entsprechend anstrengt, soll mithilfe des Bildungssystems einen angenehmen Platz in unserer Gesellschaft erhalten. Das Bildungssystem müsse dies sicherstellen, ja sei schließlich dazu da. Über die tatsächlichen Verhältnisse wurde an anderer Stelle viel geschrieben und publiziert, deshalb nur kurz: Unser Bildungssystem ist trotz vieler Jahre SPD-Regierung in Bund und vor allem in den Ländern weiterhin nach oben undurchlässig, selektiert nach sozialen Kriterien und bietet flächendeckend Bedingungen, die weit entfernt davon sind, inklusiv zu sein. Die oben genannte These gilt deshalb derzeit buchstäblich nur verkürzt: Bildung schafft Ungleichheit. Im Sinne von: Bildung zementiert Ungleichheit, denn für junge Menschen aus gut situierten Elternhäusern ist die Wahrscheinlichkeit deutlich größer, das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen.

Hintergrund dieser Umstände ist, dass das Bildungssystem trotz anderslautender Beteuerungen und der rechtlichen Umsetzung diverser auf Gleichstellung zielender Absichten die Ziele von Inklusion in der Breite weit verfehlt. Dazu exemplarisch nur zwei Schwerpunkte: Der Rückbau des Förderschulwesens und die Integration von sogenannten Förderschüler*innen in die Regelschulen kann nur dann zu den gewünschten positiven Konsequenzen führen, wenn die Regelschulen dafür personell und sächlich auch angemessen ausgestattet werden. Werden sie jedoch nicht. Im Gegenteil wird die Abwicklung des Förderschulsystems landauf landab dazu genutzt, um die Haushalte weiter zu sanieren. Und in den Regelschulen fehlen die zeitlichen, räumlichen, materiellen und persönlichen Ressourcen für Inklusion in Reinform.

Inklusion ist zudem eine Gemeinschaftsaufgabe der Bildungs- und Sozialsysteme. Doch gerade an den Schnittstellen beider Fördersysteme kommt es zu enormen Reibungsverlusten. Komplizierte Antragsverfahren, unterschiedliche Zuständigkeiten und Träger sowie ein enormer Kostendruck insbesondere bei den Hilfeinstitutionen, die für Kinder, Jugendliche und Familien verantwortlich sind, lassen zu oft zu viel Zeit ins Land vergehen, bis passgenaue und förderliche Hilfen gewährt werden und greifen können. Ohnehin wird die öffentliche Bildungs- und Sozialinfrastruktur immer mehr aus der Fläche zurückgezogen ("Haushaltskonsolidierung"), sodass der Zugang zu beiden finanziell wie räumlich in immer weitere Ferne rückt. Zudem sorgt die unzureichende Verzahnung und Ausstattung erst dafür, dass viele Menschen in diesem Land auch weiterhin auf Unterstützung angewiesen sein werden, statt emanzipiert und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu können.

Während die rechtlichen Grundlagen sowohl für die Bildungs- als auch die Sozialinstitutionen in den letzten Jahren deutlich in Richtung Inklusion verändert wurden und gerade auch letztere eine starke Expansion in den Aufgaben erlebt haben, bleibt die Umsetzung stecken oder zeigt mancherorts gar regressive Tendenzen. Die strikte Schrumpfung der öffentlichen Haushalte in Tateinheit mit der Schuldenbremse macht guten Absichten einen Strich durch die Rechnung. Der reale Gestaltungsspielraum von Ländern und Kommunen ist äußert eingeschränkt – mit unmittelbaren negativen Konsequenzen für die Gestaltungsspielräume in der Bildungs- und Sozialpolitik.

Das äußert sich an den Schulen unter anderem in einer fragilen Unterrichtsversorgung und durch fehlendes ausreichend qualifiziertes Personal, bei der Kinder- und Jugendhilfe bspw. durch zu wenig sozialpädagogisch aktiv tätiges Personal in den Kommunen, durch eine Abwicklung der präventiven Kinder-, Jugend- und Familienhilfe und durch schmale Budgets, die oft keine Leistungen zulassen, die eine nachhaltige Hilfe versprechen. Die SPD schaut hierbei weitgehend tatenlos zu, schämt sich jedoch nicht dafür, sich weiterhin als "Großstadtpartei" zu rühmen und selbstbewusst zu tönen: "Die SPD regiert in den Städten." Doch was regiert sie da eigentlich noch? Und mit welchem Ziel? Die Antwort lautet leider allzu selten: "Um das Aufstiegsversprechen wahr werden zu lassen." Sondern: "Haushaltskonsolidierung". Der ländliche Raum scheint trotz aller gegenteiligen Beteuerungen ohnehin schon aufgegeben.

Hierbei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass etliche Kommunalpolitiker*innen der SPD ihre sehr beschränkte Handlungsmöglichkeiten effizient auszunutzen wissen. Um den "einfachen Menschen" zu zeigen, wie sehr mensch noch eine Partei der Kümmerer*innen ist, gibt es schicke Pfandhalter, die der Mittelschicht den Anblick im Müll wühlender Hartz-IV-Opfer ersparen sollen, oder einen schicken neuen privaten Golfplatz auf vormals öffentlichem Gelände, der der Bevölkerung für einen Sandstrand und Asphaltweg verkauft wird. Tatsächlich wäre diese Pseudo-Politik in Anbetracht der faktisch am Boden liegenden Kommunen nicht zu kritisieren, wären die Pragmatiker*innen der kommunalen Fraktion nicht auch die willige Legitimation für die Verarmungspolitik auf Landes- und Bundesebene und der Stadtrat nicht nur ein Karrieresprungbrett zukünftiger Abgeordneter, die die verherrlichte Konsolidierung öffentlicher Haushalte vom Anfang an gelernt haben.

Die gesellschaftlich bereits Abgehängten bleiben so weiter auf der Strecke. Und letztlich profitieren überproportional jene von staatlichen Leistungen, die bereits begünstigt sind, insbesondere jene, die über das nötige Eigentum verfügen. Ohne eine Klärung der Eigentumsfrage wird das Aufstiegsversprechen ohnehin nicht realisierbar sein, denn den Vorsprung, den wenige hier bereits bei Geburt haben, werden selbst gut strukturierte und finanzierte Bildungs- und Sozialinstitutionen nicht kompensieren können. Unter diesen Voraussetzungen auf Chancengerechtigkeit hinwirken zu wollen ist zynisch. Mit einem Euro lässt sich bei gleichem Bildungsniveau und Ausschaltung des Zufalls nun einmal weniger machen als mit 100 oder 1000.

Chancengerechtigkeit, wie sie die SPD als zynische Anerkennung der gesellschaftlichen Ungleichheit fordert, hat schon allein deshalb nichts mit Chancengleichheit zu tun. Wer Chancengleichheit will, muss an die Verteilung von Eigentum ran. Das Versprechen vom Aufstieg über Bildung bleibt bis dahin ein Märchen, das den Menschen Hoffnung geben und für den ein oder anderen sogar in Erfüllung gehen mag, aber mehr eben auch nicht. Übrigens: Wieso nicht eine Gesellschaft anstreben, in der Aufstieg (wohin eigentlich?) nicht nötig ist, weil Egalität gelebt wird? Auch hier bleibt die SPD im guten alten Verbrennungsmotor verhaftet, statt sich über alternative Antriebe und deren Umsetzung Gedanken zu machen.

Die SPD als "lebendige Mitgliederpartei"

Die angesprochenen Probleme, die die SPD offensichtlich nicht zur besten Adresse machen, um etwas wirklich Sinnvolles durchzusetzen und das Leben der Menschen nicht hauptsächlich zu verschlechtern, sind allerdings bald gelöst: Viele Jusos, sich links gebende Verbände, halbwegs sympathisierende Zeitschriften und einige C- und B-Promis aus der Partei sind sich sicher, dass mit der Ur-Wahl des Vorsitzenden, einer Doppelspitze und mit mehr Mitgliederentscheiden noch etwas zu retten wäre. Der Gemeinwille der SPD-Basis würde schon richten, was zu richten ist. Natürlich mutet das gerade vor dem Kontrast der Empirie, wie sie uns durch den Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag dargeboten wurde, nahezu sträflich naiv an. Hier wurden die Mitglieder befragt und haben sich für die reaktionärste Möglichkeit entschieden, weshalb es nun den damals opponierenden Jusos offensichtlich besonders sinnvoll erscheint, dieses Projekt zu wiederholen und auf ein anderes Ergebnis zu hoffen. Allerdings besteht auch die Hoffnung, dass betreffende Jusos und andere Linke bei der Beschäftigung mit diesem Thema erkennen, dass a) auch die gefragte Basis keine progressiven Entscheidungen trifft, mensch sich b) nicht mehr in einer solchen Partei befindet und c) der autoritäre Charakter der SPD-Strukturen erhalten bleibt, auch wenn den Hunderttausenden desinteressierten Karteileichen noch so viele Fragebögen aufgedrängt werden.

Der Mitgliederentscheid Ende 2013 beweist a) bis c). Obwohl in der SPD-Basis die CDU als Feindbild durchaus präsent ist und sich immer wieder geschworen wird, mit den Konservativen nicht kooperieren zu wollen, sahen sich die Genoss*innen nicht in der Lage, den Verlockungen, die der Koalitionsvertrag bot, zu widerstehen und nach anderen Lösungen zu suchen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der staatstragende Habitus der Partei. Egal ob einfache Mitglieder oder hohe Funktionär*innen bzw. Mandatsträger*innen, alle sind sich sicher, dass "Deutschland zuerst" komme, die eigenen Inhalte also immer hinter der Stabilität und der Erhaltung des Status Quo des Nationalstaates zurückstehen müssten. Deshalb ist die Hauptkritik an alternativen Koalitionen ja auch keine inhaltliche, sondern das Bestreiten der Regierungsfähigkeit.

Das Wort, welches für vernünftige Menschen, die die Geschichte der vergangenen bürgerlichen Regierungen wahrgenommen haben, ein Kompliment darstellt, ist für Sozialdemokrat*innen die schlimmste mögliche Beleidigung. Wer nicht regierungsfähig ist, hat zwar nicht unbedingt schlechtere oder bessere Inhalte als man selbst, ist aber ein*e unmoralische*r Zeitgenoss*in, ein Nichtsnutz, ein mit dem eigenen Exkrement spielender Affe, der von jedem ehrwürdigem Amt ferngehalten werden muss. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass eine Koalition mit der Partei eingegangen wurde, die sich ebenfalls 24/7 um den Erhalt der Grundpfeiler eines autoritären Staatswesens kümmert: mit der konservativen, die sich wenigstens dazu bekennt.

Es ist dementsprechend kein Wunder, dass in der SPD hierarchische Strukturen vorherrschen. Wer den formalistischen Fehlschluss begeht, die Form über den Inhalt, den Habitus über das Denken und den Staat über die politische Bewegung zu stellen, der*die wird die herrschenden Strukturen und auch, was derjenige, der die Strukturen dominiert, anordnet, akzeptieren. So erklärt sich, dass von der SPD-Basis und auch von den Jusos meist nur schwaches Gejammer über unpopulärere Entscheidungen des großen Vorsitzenden zu vernehmen ist. Kritik ist erlaubt, wenn sie als Verbesserungsvorschlag daher spaziert kommt, sie ist nicht parteischädigend, grundsätzlich "solidarisch" und endet – auf jungsozialistischer Seite zumindest – mit dem Verweis darauf, dass mensch sich freue, innerhalb der Partei weiterhin für die gute Sache zu streiten und Sigmar Gabriel schon noch mit den eigenen Killer-Argumenten überzeugen werde. Einerseits stellen wir also fest, dass die Hierarchie der SPD-Basis so gut wie eingepflanzt ist, die formal gegebenen Strukturen für einen parteiinternen Aufstand ausreichend, aber nicht genutzt sind und dieser Widerstand auch gar keine Zielrichtung hätte, da der potentiell widerständige Funktionär bis zur untersten Ebene staatstragend und damit ein sowohl strukturelles als auch ideologisches Äquivalent von Gabriel und Co. ist – Unterzeichnende mitunter eingeschlossen. Dies spiegelt auch die Rechtslage besser wieder, als jede Erklärung: Die Satzungen der unteren Gliederungen haben mit den oberen konform zu sein und der kleinste Ortsverein, die kleinste Juso-Clique bekommt ihren kleinen Sigmar als Funktionsträger*in.

Andererseits hat der Mitgliederentscheid gezeigt, dass die SPD eine Spitze hat, die über die Ressourcen verfügt, in ihrem Sinne massiv Einfluss auf die Mitglieder zu nehmen. Ende 2013 zahlte die Basis nach oben und bekam dafür Anzeigen in der Bildzeitung, in der Partei-Zeitung Vorwärts und etliche Mails und Briefe für den digitalen oder analogen Mülleimer nach unten durchgereicht. Dazu kamen Parteifunktionär*innen vorbei und erklärten in einer eigens angemieteten Halle gerne ein paar Stunden lang die Vorteile des Koalitionsvertrages. Widersprechenden wurde unter anderem vorgeworfen, den Mindestlohn als sozialdemokratisches Jahrhundertprojekt zu gefährden, sodass es jenseits von Räumen, in denen das öffentliche Darstellen der eigenen autoritären Persönlichkeit als unfein gilt – z.B. beim Juso-Bundeskongress –, bald keine organisierte Ablehnung mehr gab. Somit wurde aus dem emanzipatorischen Projekt der offenen Frage eine Vorgabe an den auf Linie gebrachten Partei-Schwarm, der diese Behandlung mit über 70 Prozent goutierte, den Vorstand massiv stärkte und die Legitimation dafür lieferte, dass auch Projekte durchregiert werden, von denen sozialdemokratischen Romantiker*innen kurz vorher noch Hören und Sehen verging. Dies macht deutlich, wie es bei jeder vermeintlich neuen und innovativen Möglichkeit zur breiteren Beteiligung einfach zum Rückfall kommt: Die dominante Kraft strengt ihre Ressourcen an, verlässt sich auf die Gewöhnung und Gesinnung der Basis – "Wir können unseren Vorstand doch nicht beschädigen" - und ist danach gestärkter als vorher, womit in den darauf folgenden Jahren noch weniger wahre Beteiligung erkämpft werden kann. Deshalb war die SPD-Basis auch noch nie so demobilisiert, uninformiert wie heute – nach dem großartigen Entscheid.

Zum Glück für die demobilisierten, enttäuschten und ebenfalls extrem genervten Anhänger*innen von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt können wir feststellen:

Es gibt immer eine Alternative!

Leider gibt es diese Alternative keinesweg in der SPD. Die Problematik ist nicht an Kanzlerin und Vize-Kanzler festzumachen. Genauso gut hätten Politiker*innen aus der zweiten oder dritten Reihe als Beispiel dafür dienen können, dass die Parteimitgliedschaft in der SPD inzwischen dafür ausreicht, die Union rechts zu überholen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die SPD grundsätzlich rechter wäre als ihre freiwilligen Partner*innen. Vielmehr beweist es, dass links und rechts, progressiv oder reaktionär keine sinnvollen Kategorien mehr sind, um diese beiden Parteien voneinander abzugrenzen. Die Frage, ob linke oder rechte Politik befürwortet wird, hängt bei der Regierungspartei nicht an den berüchtigten "sozialdemokratischen Werten". Die Frage, die vor einer Entscheidung in der organisierten Sozialdemokratie gestellt wird, ist nicht, was mehr soziale Gleichheit, eine bessere Umsetzung der Menschenrechte oder gar die Befreiung des Individuums schafft – die Frage ist, was dem kapitalistischen Deutschland am meisten nutzt. In der Asyl- und Migrationspolitik kann ein SPD-Innenexperte für legale Einwanderung sein und damit menschenfreundlicher als die CSU-Kollegin wirken, die für geschlossene Grenzen plädiert. Diese beiden Positionen erscheinen als "links" und "rechts" und damit als tatsächlich politische. Allerdings gibt es hier keinen Zielkonflikt, sondern einen bezüglich der Methodik. Hier möchte der Genosse verwertbares neues Humankapital für die deutsche Wirtschaft generieren und die Kameradin den heimischen Arbeitsmarkt und die öffentlichen Kassen schützen. So ist mal die eine Seite menschenverachtender, mal die andere, am Ende einigt mensch sich deutlich einfacher auf die Verschlechterung der Lage, als es in der Schwarz-Gelben Koalition jemals möglich gewesen wäre. Das Deutschland-Gericht ist bestellt, SPD und Union streiten – wenn überhaupt – noch über das Besteck.

Sich diesem grundsätzlichen Diskurs mit dem Verweis darauf zu verweigern, man wolle lieber pragmatisch etwas für die Menschen tun, trägt dazu bei, die herrschenden Verhältnisse, gegen die man vorgeblich ganz pragmatisch etwas tun wolle, weiter zu festigen. Indem man (a) die Menschen, für die man etwas tun will, durch kleine Zugeständnisse sediert, bzw. zumindest bei der Stange hält, und (b) sich selbst daran hindert, aus dem grundsätzlichen Diskurs heraus andere Konsequenzen zu ziehen. So wirkt die SPD im doppelten Sinne als gesellschaftliches Sedativum: Sie beruhigt durch Linderung der Schmerzen, während die Knochen gebrochen bleiben.

Die Konsequenz kann nach diesen Überlegungen nur in einem Austritt aus behandelter Partei bestehen. Deshalb verweigert sich die SPD solchen Diskussionen allzu gerne. Und das ist auch der Grund dafür, dass sie von links angreifbar ist. Dort muss man sich daran gewöhnen, dass auf das höchst geringe linke Potential in der SPD verzichtet werden muss. Denn diese im Kern schließlich konservative Partei muss dort gestellt werden, wo sie ihre eklatante Schwäche zeigt: Sie ist ein Wahlverein, der einer inhaltlichen Überprüfung nicht standhält. Wo sie sich sozial gibt, setzt sie Kürzungen durch. Wo sie sich offen gibt, feiert sie sich regelrecht für massenhafte Entrechtung. Wo sie fortschrittlich tut, hält sie an den allzu alten Grundlagen des Neoliberalismus fest. Generationen von Sozialist*innen dachten, dass Sozialismus ohne die SPD nicht umzusetzen sei und verbrachten ihr politisches Leben mit den Folgen rechter Politik. Auch die jetzige SPD-Linke erliegt dem Glauben an einen "demokratischen Sozialismus" als finale Konsequenz realsozialdemokratischer Regierungspolitik. Ganz im Gegenteil ist dieses Ziel jedoch mit jeder Regierungsbeteiligung in Bund und Ländern und jedem Grundsatzprogramm in weitere Ferne gerückt. Es ist an der Zeit, die althergebrachte, erfolglose Strategie der Reform der Partei von Innen – analog zur ebenso erfolglosen Strategie der Reform gesellschaftlicher Verhältnisse – über Bord zu werfen, und stattdessen einen weitergehenden Schritt zu wählen. Wir haben uns für den Austritt entschieden.

Miriam Hack, Anika Knüppel, Sebastian Lange, Felix Peter, Clemens Wagner und Lukas Wanke

Miriam Hack, Anika Knüppel, Sebastian Lange, Felix Peter, Clemens Wagner und Lukas Wanke
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