Der ganz reale Judenhass

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Antisemitismusvorwurf gegenüber Grass ist hohl. Und er verhindert Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Unwesentlich ist die Frage "Wer ist Antisemit?". Wesentlich ist die Frage "Was hindert den Frieden im Nahen Osten?".

In der aktuellen Debatte um Grass' Gedicht und sein mutmaßlich antisemitisches Motiv kann hilfreich sein, sich den heute ganz real existierenden Judenhass vor Augen zu führen. Das Wort ist gut gewählt. Es geht nicht um Abneigung, Vorurteile oder Naserümpfen. Es geht um Hass, der tödliche Folgen haben kann.

Das geistliche Oberhaupt der Palästinenser in Ost-Jerusalem, Mufti Muhammad Achmad Hussein, zuvor Imam der Al-Aqsa Moschee Jerusalems, hielt im Januar diesen Jahres anlässlich des 47-jährigen Bestehens der Fatah eine Ansprache:

Der Vorredner Husseins sprach zur Einleitung:

Unser Krieg mit den Abkömmlingen der Affen und Schweine [den Juden, Anm.] ist ein Krieg der Religion und des Glaubens. Lang lebe die Fatah! [Ich begrüße Sie,] Unser ehrenwerter Scheich.

Mit mildem Lächeln und friedvollem Ton in der Stimme führte Scheich Hussein anschliessend aus, was man hinsichtlich der Radikalität allenfalls von Julius Streicher kennt:

Vor 47 Jahren hat die Revolution der Fatah begonnen. Welche Revolution? Die moderne Revolution der Geschichte des Palästinensischen Volkes. Tatsächlich ist es so, dass Palästina als Ganzes eine Revolution ist, seit [Kalif] Omar gekommen ist [um Jerusalem im Jahr 637 zu erobern], und das setzt sich heute fort, und wird dauern bis ans Ende aller Tage. Die glaubwürdige Hadith** aus den zwei zuverlässigen Sammlungen Bukhari und Muslim sagt:

"Die Stunde der Auferstehung wird nicht kommen solange Ihr nicht die Juden bekämpft. Der Jude wird sich hinter Steinen und Bäumen verstecken. Dann werden die Steine und Bäume ausrufen 'Oh Muslim, Diener Allahs, hier ist ein Jude hinter mir, komm und töte ihn.'"

Scheich Hussein versuchte sich später zu rechtfertigen. Man habe seine Anmerkungen aus dem Kontext gerissen. Das könnte sein. Doch bezeichnenderweise wollte er sich mit dem Hinweis verteidigen, dass diese Ereignisse erst mit dem Ende aller Tage eintreten würden. Damit ist offenkundig, dass er sich von dem Gesagten inhaltlich gar nicht distanzieren will. Die Staatsanwaltschaft jedenfalls hat Ermittlungen aufgenommen.

Nun ist der Mufti von Jerusalem kein Offizieller der Fatah. Er hat seine seine Worte selbst zu verantworten. Insofern geht jene Kritik deutlich zu weit, die Sätze wie die des Mufti nimmt um triumphierend auf "die gewaltbereiten Palästinenser" zu zeigen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es immer wieder Araber und Perser gibt, denen es nur bedingt um eine politische Lösung mit Israel geht.

Dasselbe gilt für die israelische Seite. Es gibt nicht wenige, die kein Einvernehmen mit den Palästinensern wollen. Sie wollen sie am liebsten weg haben. Das wollte Staatsgründer Ben Gurion, das will der amtierende israelische Premierminister Netanjahu mitsamt seinem Außenminister Lieberman.

Radikalität als Ausgangspunkt

Radikalität findet man in beiden Lagern. Alles andere wäre ein Wunder.

Wie konnten die zionistischen Juden nicht radikal gewesen sein? Sie hatten ihr historisches Gepäck bei sich und durften sich ein Scheitern nicht erlauben. Sie wußten, dass sie Unrecht verursachen würden. Das lässt sich bei den Vordenkern des Zionismus wie Herzl, Jabotinsky, Lichtheim und anderen ungeschminkt nachlesen. Der Satz vom "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" war späte Propaganda. Die Zionisten selbst wußten es besser.

Hinsichtlich Radikalität gilt für die Araber dasselbe. Wie hätten sie untätig bleiben können und zusehen wie das Land, das sie seit Jahrhunderten als das ihre betrachten, in fremde Hände übergeht? Diese Ausgangslage musste zwangsläufig zum Zusammenstoß führen.

Die bis heute zentrale Frage ist nur ob man willens ist, das Unrecht von früher der Vergangenheit zu überantworten und für das Heute einen realen Kompromiss zu finden.

Hier kann man an Grass anknüpfen. Der bezeichnet Israels Premier Netanjahu als Gefahr für den Frieden. Und tut das zurecht, als er auf den fortschreitenden Siedlungsbau verweist.****

Vielleicht mit Ausnahme von Yitzhak Rabin strebten alle israelischen Ministerpräsidenten mehr oder weniger offen nach dem "ganzen Israel", also einschließlich des biblischen Judäa und Samaria (= arabische Westbank). Im kolonialen, nationalen 19. Jahrhundert, der Anfangszeit des Zionismus, mochte das Pochen auf ein größeres Herrschaftsgebiet salonfähig gewesen sei. Heute gilt das nicht mehr. Alle Welt sieht das, aber Israel kann seinen Kurs dank amerikanischer Unterstützung fortsetzen. Und wundert sich über die Ablehnung und nennt ihn Antisemitismus.

Aber was ist nun mit dem Mufti? Sind dessen Hetzreden und die Reden all derer, die ihm ähneln nicht bedeutsam? Sollen sie keinen Einfluß haben auf israelische Sicherheitspolitik? Ist nicht allzu verständlich, dass man mit Radikalen gar nicht verhandeln will? Dass Gespräche mit der Hamas nach Auffassung von Netanjahu tabu sein müssen?

Nein. Das Gegenteil trifft zu.

Rabin wußte es besser

Die Lösung hat Yitzhak Rabin Anfang der 90erJahre formuliert. Während des beginnenden Oslo-Prozesses haben jüdische Radikale wie etwa Baruch Goldstein oder palästinensische Radikale des Islamischen Jihad und der Hamas versucht, die Annäherung mit Attentaten zu vereiteln.

Rabin wollte sich nicht beirren lassen:

Man muss so hart gegen die Terroristen vorgehen, als gäbe es keine Verhandlungen und man muss die Verhandlungen so weiter führen, als gäbe es keine Terroristen.

Diese kluge Einsicht wird seit langem ignoriert. Radikale wird es auf beiden Seiten geben, bis zum Ende aller Tage. Wer seine Politik davon bestimmen läßt macht sich zur Geisel der Fundamentalisten.

Im Fall Netanjahus dürfte zutreffen, dass er sich gar nicht als Geisel sieht. Ihm kommen die Radikalen entgegen. Solange man der Welt zeigen kann, welche niedere Gesinnung der Gegner hat, kann das edle Projekt "ganz Israel" mit gutem Gewissen vorangetrieben werden. Die nimmermüden israelischen Verweise auf Angriffe der Palästinenser haben einen weiteren Schönheitsfehler: Die Araber haben so gut wie nichts mehr, über das sie verhandeln könnten. Israel besetzt das Land, verwaltet das Wasser, erhebt die Zölle, kontrolliert die Grenzen.

Israel will einen Diktatfrieden zu seinen Bedingungen und wähnt sich dank amerikanischer Unterstützung so stark, davon nicht abweichen zu müssen. Das gefährdet den Frieden.

Deshalb hat Grass in dieser Hinsicht recht. Mit Antisemitismus hat das nicht das Geringste zu tun. Man kann es auch anders sagen: Selbst wenn Grass Antisemit wäre, wäre seine Kritik wenigstens in Teilen zutreffend.

Ginge es um eine innenpolitische Frage in Deutschland, um Neonazis etwa, die jüdische Gräber schänden, dann wäre die Debatte um Antisemitismus relevant.

In der Debatte um Krieg oder Frieden im Nahen Osten ist sie weitgehend irrelevant.

--------------

PS.: Und was ist mit dem iranischen Präsidenten und seinen fortgesetzten Drohungen? Hierzu hat der israelische Schriftsteller David Grossman einen erhellenden Beitrag verfasst.

** Hadith, hier: Behauptete mündlich überlieferte Anweisung, Belehrung oder Darstellung Mohammeds.

**** Nicht im Gedicht "Was gesagt werden muss", sondern im nachträglichen Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

schlesinger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden