S21: „Solche Bilder“

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Nachdem Grube, SPCDFDPU und ein Großteil der Medien alle Argumente und alles Argumentieren des Stuttgarter Widerstands haben auflaufen lassen, Heiner Geißler mit seinem Schlichtungsbetrug übelsten Vertrauensmissbrauch zu seinen ganz privaten parteipolitischen (schwarz-grünen?) Zwecken betrieben hat, demnächst dennoch die Ergebnisse eines stark nach Fälscherwerkstatt riechenden Stresstests vorstellen möchte, und als scheinbare Lösung am Ende ein absehbarer Volksentscheids-Betrug stehen wird, scheint diese Sprechverweigerung gegenüber dem bürgerlichen Widerstand und die daraus resultierende Ohnmacht jenem als letzte Option nur noch die Gewalt übrig zu lassen. Und deren erster scheinbarer Durchbruch scheint in Form einer Baustellenbesetzung am 20.06.2011 erfolgt zu sein, bei dem ein Teil dieses bürgerlichen Widerstandes einer Gruppe auf eine Baustelle gefolgt ist und ebenso spontan wie grenzübertretend den Baustopp zu realisieren versuchte, mit dem Grube ja eigentlich weitere Steuergelder erpressen wollte. Nun, so scheint es, wird es ihn eher ein bisschen was kosten. Allerdings eher Nerven als Geld, denn anders als er, der für seine gewaltsame und zum Teil wohl auch illegale Zerstörung eines Teils der Stuttgarter Innenstadt selbstverständlich nie wird gerade stehen müssen, haftet der „Wutbürger“, anständig wie er im Kern ist, am Ende selbstverständlich als Steuerzahler und Eigentümer der Bahn für den Schaden, den er bei der Baustellenbesetzung angerichtet hat.

Ein Ende des kafkaesken Alptraums, in dem nahezu täglich neue Horrornachrichten zu dem Horrorprojekt21 auftauchen und von einer legislativ-exekutiv-judikativen Maschinerie niedergewalzt werden, ist aber mitnichten abzusehen. Stuttgart wird von den Herrschenden ganz offensichtlich gezielt und gewollt auf einen Abgrund zugesteuert. Der Widerstand tritt zwar unentwegt auf die Bremse, aber die funktioniert nicht. Aktuell sieht das z:B. So aus:

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-behoerde-bestaetigt-das-baurecht-der-bahn.f35973b3-e567-4c9f-b574-ef2a3e2f2866.html

Da liegt denn auch das „Demokratie“-Miss-Verständnis der herrschenden Kasten: Der Bürger darf – wie in so manchen Zeitgeisttherapien – verbal oder symbolisch ausagieren, abreagieren und bei Wahlen „Herrschen“ spielen. Danach fühlt er sich vielleicht auch ein Weilchen erleichtert, geändert aber hat sich nichts. Und wenn er deshalb zwischendurch einmal Fragen stellt, Einwände vorbringt, sich wehrt, dann wird er nach der Dürr-Rommel-Teufelschen Methode ausgeschaltet.

Demokratie und Rechtsstaat sollen durch ihre Struktur, Regularien und Rituale eigentlich Frieden stiften. Wer sie also bewusst außer Kraft setzt und sich dessen auch noch in obszöner Weise rühmt, wie S21-Dürr es getan hat, der zwingt jeden, der von ihm gesehene Fehler korrigieren und von ihm befürchtete Katastrophen abwenden will, zu vor- und außerdemokratischen Mitteln zu greifen – oder zu resignieren. Wer dann noch eins drauf setzt und mit einem als „Schlichtung“ verschleierten Entdemokratisierungs-Experiment dem kritischen und engagierten Bürger noch die ultimative Demütigung zufügt, indem er alles auf den Tisch legen lässt, was einen Schwachsinn als Schwachsinn erkennbar macht, dann aber „April, April“ ruft und den Schwachsinn auch noch zum noch teureren Premium-Schwachsinn adelt, gegen den man leider nichts tun könne als ihn umzusetzen, der lässt dem Bürger keine Wahl, als zu den Mitteln zu greifen, zu denen bei der Baustellenbesetzung gegriffen wurde.*)

Das scheinheilige mediale Geheule und Gejammere danach ist also geschenkt. Hättet ihr von Anfang an eure Rolle als vierte Gewalt wahrgenommen und dafür gesorgt, dass niemand sich das Unrecht herausnimmt., die Demokratie wider alle Vernunft bei diesem Projekt außer Kraft zu setzen, um, jeder Kontrolle und Kritik entzogen, seine „genialen“ Ideen in frischluftfreien Gremien durchzupeitschen und scheinlegal absegnen zu lassen, dann hättet ihr friedliche Kritik, Kontrolle und Korrektur im demokratischen Rahmen bekommen. Wer aber Obrigkeitsstaat und Entmündigung sät und die Entmündigten auch noch als tumbe Wutbürger oder narzistische Wohlstands- Soziopathen schmäht, erntet irgendwann einmal basisdemokratischen Sturm. So einfach ist das. Und wenn ihr jetzt immer noch nicht hören wollt, dann riskiert ihr Schlimmeres – denn ihr treibt die Bürger immer weiter in die Entfremdung von diesem Staat und seinen Regularien. Bis die an den demokratischen Rändern den Moment der Unkorrigierbarkeit gekommen sehen.

Dann aber beschwert euch nicht. Denn es war eure Arroganz, Ignoranz und pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit, die es lieber „wissen wollte“, anstatt zuzuhören und einzusehen. Joe Bauers Hinweis auf den 14. Juli in seiner Rede am 20.06.2011 **), den die S21.Clique peinlicherweise zum Termin für die Bekanntgabe des zu erwartenden Stresstestbetrugs ausersah *), war vielleicht nicht so gemeint. Aber die Weisheit der Konnotation macht es dennoch klar. Und der nächste Sprengstoff kündigt sich bereits an.

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stresstest-fuer-stuttgart-21-bahn-haelt-die-vorgaben-fuer-irreal.328936c0-b605-42c4-b434-c455f620db27.html

de.wikipedia.org/wiki/Nationalfeiertag_%28Frankreich%29

Dies lässt sich einerseits an der Geschichte des Stuttgarter Widerstands insgesamt nachvollziehen. Andererseits zeigt es sich auch in zwei Gesprächen, die ich u.a. in der Zeit der jetzigen, pointierteren Protestphase hatte. Am 30.09.2010 sagte, während des Wasserwerfereinsatzes, ein etwa 30jähriger Nichtschwabe neben mir indigniert, so würde da nichts draus. Man müsse doch mindestens die Wasserwerfer stürmen und besetzen, wenn man etwas erreichen wolle.

Solche Gedanken dürften damals auch anderen am Gehirn vorbeigerauscht sein, ohne jedoch Einlass zu finden. Zu stark war wohl noch die bürgerliche Wohlanständigkeit, gepaart mit der schwachen, zweifelhaften Hoffnung auf eine politische Änderung, die garantiert nicht eingetreten wäre, wäre damals die staatliche Gewalt mit bürgerlicher Gegengewalt beantwortet worden. Weiter konnten Bahn und Regierung jetzt doch nicht mehr gehen, dachte man damals stattdessen. Spätestens jetzt müssten sie doch aufwachen. Und vielleicht könne man ja bei der nächsten Wahl etwas verändern – auch wenn man nicht genau wusste, wie das gehen sollte. Denn, anders als die Medien immer noch suggerieren wollen, hatten viele bereits damals keine Erlöserhoffnungen auf die Grünen. Zu eindeutig schien der politische Pragmatismus von Winfried Kretschmann, zu stur und borniert das Verhalten der SPD, zu wenig erfolgversprechend die Wahl der Linken.

Aber der aktivierende Zorn und die zum Ausbruch drängende, ohnmächtige Wut waren auch beim „Bürger“ schon da. Das zeigte sich in einem Gespräch, das am Abend des 20.06.2011 ein älterer Herr mit mir führte. Damals am Nordflügel, beim ohnmächtigen Zuschauen, habe er sich richtiggehend zugeschnürt gefühlt. Als dann diese jungen Leute mit ihren Bannern auf das Dach gestiegen seien, habe er das als so richtig befreiend erlebt.

Wer dies nicht sehen will, weil es seinen politischen Wünschen und seinen Vorurteilen über den „Stuttgarter Spießer“ nicht entspricht, der macht sich blind für das, was diese Menschen fühlen, die man jahrelang verachtet, belogen und gedemütigt hat. Und Politiker und Manager, denen Recht und Demokratie nur willkommen sind, solange es ihrem Profitdenken und ihrer Selbstverwirklichung dient und die im anderen Fall ein Heer hochbezahlter „Juristen“ mobilisieren, um die Sache in die gewünschte Richtung zu biegen. Politiker, die aktiv darauf verzichten, Steuerhinterzieher zu verfolgen und dabei auch noch den „Rechtsstaat“ als Entschuldigung vorschieben. Medien, die sich als Hofberichterstatter und neoliberale Profitmissionare im Dienste des Kapitals verstehen und ihre Abonnenten auch noch dafür bezahlen lassen, dass man sie verdummt und belügt. Sie alle legen Axt an unsere Demokratie, nicht die Bürger, die nur noch die Alternative sehen, auf einer Baustelle mal „handfest“ zu zeigen, dass sie jetzt endlich einen Baustopp wollen – oder an ihrer ohnmächtigen Wut zu platzen.

Die Baustellenbesetzung könnte ein – nicht ganz preiswertes - Signal an die nach wie vor herrschende Kaste sein, endlich innezuhalten und ERNSTHAFT zuzuhören. Ein erster Schritt zur Rückkehr zu Demokratie, Verantwortlichkeit und Vernunft wäre dann die Trennung von Herrn Grube, dessen Performance selbst in seinen eigenen Kreisen nur noch peinlich berührtes Fremdschämen auslösen dürfte, sofern man dort noch in der Lage ist, sich vom Zwangssolidarisieren zu verabschieden, innezuhalten und zu denken zu beginnen. Es wäre dann endlich einmal eine Bahnführung zu installieren, deren Ziel eine funktionierende Bahn und Kundenzufriedenheit ist, und die für diese Aufgabe auch die nötige Kompetenz mitbringt.

Stattdessen transportierte das erste Medienecho nach dieser Baustellenbesetzung eine eindeutig andere Antwort. Von Özdemir bis SPIEGEL tönte es unisono: „Solche Ereignisse fügen dem Protest gegen Stuttgart 21 Schaden zu.“ Dort findet sich auch eine der umwerfendsten verbalen Perversionen in dieser Sache: „ Die friedlichen S-21-Gegner müssten jetzt "eine glasklare Trennungslinie" zu den Gewalttätern in den eigenen Reihen ziehen. "Machen sie aber gemeinsame Sache mit den Krawallmachern, verspielen sie ihre Sympathien", so Bosbach zu SPIEGEL ONLINE.“

www.faz.net/-01xeco

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,769647,00.html

Ausgerechnet Rechtsaußen Bosbach als Ex-Sympathisant des Stuttgarter Widerstands? Da lachen nicht mal mehr die Hühner. Wie verkommen muss Politik sein, wenn sie den Bürger für so blöde hält, dass er auf solch schmieriges Pharisäertum hereinfällt?

„Solche Bilder“, wie Mappus sie nie wieder gegen sich und die Seinen gerichtet sehen wollte, sollen sich nun, so sich die Medien mit ihrer überwiegenden Botschaft durchsetzen sollten, gegen die richten, die Mappus mit Hilfe „solcher Bilder“ zu Fall brachten. Unabhängig davon, was am 20.6.2011 Wirklichkeit war, malen die Medien seit dieser Baustellenbesetzung überwiegend ein grelles Gegenbild zu und eine Rache für den 30.09.2010. Diejenigen, die sich in jener Septemberschlacht mit den selbst geschmiedeten Waffen selbst schlugen, scheinen nun einen zweiten Versuch zu starten. Aber diesmal sollen diese Waffen den Gegnern untergeschoben werden.

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.reaktionen-auf-die-ereignisse-an-der-baustelle-gegner-in-der-defensive.a66cb596-991f-469d-9ce2-0c0202bdb027.html

Das mag für die Selbstentlastung einer bislang total versagenden Medienkaste gut sein. Für die Zukunft der Demokratie ist es verheerend. Lernen aus Geschichte sieht anders aus. Es erfolgt aber leider meist erst nach Katastrophen, die groß genug sind, um auch kollektiv eingefahrene neuronale Bahnen so stark zu erschüttern, dass die Gehirne sich gezwungen sehen, nach neuen Alternativen zu suchen.

*) Die S21er beweisen nicht nur hier einen ausgeprägten Sinn für die Symbolkraft historischer Daten. Auch der Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Bonatzbaus begann am 13. August 2010. Wieso auch nicht? Schließlich hatte ja niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen.

www.ad-hoc-news.de/abbruch-des-hauptbahnhof-nordfluegels-fuer-stuttgart-21--/de/News/21545960

**) www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/06/im-epizentrum/

Parallel zu mir selbst, aber deutlich schneller, hat Josef-Otto Freudenreich in der Kontext Wochenzeitung und in der taz zum selben Thema Verwandtes geschrieben, was mich außerordentlich freut:

www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/06/der-kollektive-zorn/#c1690

www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/die-gegner-sind-zurueck/

Ausdrücklichen Respekt möchte ich darüber hinaus der FR und er taz für ihre souveräne Berichterstattung erweisen:

www.fr-online.de/wirtschaft/spezials/stuttgart-21/polizisten-umgerannt--baustelle-demoliert/-/4767758/8583550/-/index.html

taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/neue-stufe-der-eskalation/

www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/ruhig-mal-ueber-randale-reden/

Update 23.6.2011, 17:10 h:

Als visuelle Zusammenfassung hier noch ein Link zu einer 6stündigen Doku bei Cams21. Das Video scheint mir ein sehr schönes Beispiel von sympathischem Bürgerjournalismus zu sein. Es zeigt aus subjektiver, spontaner, zufällig eingefangener Sicht sehr schön, wie sich die Baustellenbesetzung aus der Perspektive der Teilnehmer und Beobachter darstellte:

bambuser.com/v/1759086

Update 28.06.2011, 15:45

*) Dr. R. Schmittmann beschreibt dies sehr gut und viel ausführlicher aus der Perspektive der politischen Psychologie:

www.bei-abriss-aufstand.de/2011/06/27/gedanken-zu-%E2%80%9Egewalt-in-der-offentlichen-diskussion/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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