Kinder. Wie die Zeit vergeht

Kino Acht Jahre sind vergangen seit der Dokumentarfilmer Thomas Heise zuletzt in Halle-Neustadt gedreht hat. Langzeitbeobachtungen vermessen Lebensläufe, ...

Acht Jahre sind vergangen seit der Dokumentarfilmer Thomas Heise zuletzt in Halle-Neustadt gedreht hat. Langzeitbeobachtungen vermessen Lebensläufe, Orte und strukturelle Zusammenhänge in bestimmten zeitlichen Rhythmen. Auf einen "Stand der Dinge", wie der Vorgängerfilm im Untertitel hieß, folgt ein weiterer. Die Momentaufnahmen sprechen von dem, was ist, aber auch von der Zwischenzeit, den Abständen, die sich nur vermittelt zeigen.

Im Jahr 2000 war Jeanette 24 Jahre alt, verzagt, und doch bereit, ihrem Leben eine Wende zu geben. Eine Umschulungsmaßnahme versprach zu gelingen, Jeanette wollte als Busfahrerin arbeiten, nur die Friedhofsroute behagte ihr nicht. Sie sprach über ihre beiden Söhne, Tommy (8) und Paul (3). Der Ältere bereitete ihr Sorgen; spürbar resigniert, fast kapitulierend betrachtete sie ein Foto von ihm. Sein alkoholkranker, gewalttätiger Vater hatte sich kurz zuvor das Leben genommen. Dass für Jeanette darin ein Moment von Befreiung liegt, verschwieg sie nicht.

Heise zitiert dieses alte Material in seinem neuen Film Kinder. Wie die Zeit vergeht zu Beginn ausführlich. Bereits verwendete und früher dem Schnitt zum Opfer gefallene Aufnahmen werden wieder vorgelegt, noch einmal befragt. "Übermalung" nennt Heise diese Vorgehensweise.

Jeanette fährt nun den Bus, von dem sie damals gesprochen hat. Ein neuer Mann und ein weiteres Kind sind dazugekommen. Tommys Probleme entsprechen in etwa den damaligen Befürchtungen, die schulischen Perspektiven sind bescheiden und führen kaum in eine stabile berufliche Zukunft. Paul hingegen könnte sogar auf das Gymnasium gehen, aber die elterliche Ermutigung bleibt aus. Die Zeit ist vergangen und hat Fakten geschaffen. Heise geht es aber nicht einfach nur darum, Erwartungen und Hoffnungen, die in der Vergangenheit an die Zukunft gerichtet worden sind, mit dem abzugleichen, was eingetreten ist.

Während die ersten beiden Arbeiten über die Lebensumstände in Halle-Neustadt - Stau. Jetzt geht´s los (1992) und Neustadt. Der Stand der Dinge (2000) - nur das dokumentarische Präsens kennen, ist der aktuelle Film in seinem Zeitbezug abstrakter. Insbesondere die artifizielle Tonspur und der Rückblick in den eigenen Materialbestand arbeiten gegen die Vorstellung eines umstandlos abbildbaren Ist-Zustands. Weniger denn je setzt Heise auf die direkte Gesprächssituation. Er sucht nach anderen Formen, in denen sich das filmische Medium auf historische Schichtungen beziehen kann.

Damit gehen verschiedene thematische und ästhetische Verschiebungen einher. Während Stau noch in erster Linie die Selbstbeschreibung und Sprachlosigkeit von jugendlichen Neonazis dokumentierte, rückt die Problematik jetzt deutlich an die Peripherie. Nur Tino, Jeanettes jüngster Bruder, ist der Szene weiterhin verbunden und bemüht sich seine Position als vertretbar darzustellen. Die paraphrasierten Propagandaversatzstücke sind so krude, dass der junge Fachlagerist Mühe hat, sie in eine auch nur ihm selbst plausibel erscheinende ideologische Argumentation zu bringen. Es ist anzunehmen, dass Heise damit keine soziologische These über ein Nachlassen des ostdeutschen Rechtsradikalismus verbindet, sondern eher eine Verlagerung des dokumentarischen Interesses stattgefunden hat.

Irritierend ist der hohe ästhetische Ton von Kinder. Wie die Zeit vergeht. Ein piktoriales Schwarzweiß und Charles Ives´ Orchesterstück The Unanswered Question überhöhen die tristen Innen- und Außenräume. Die Farbaufnahmen der vorhergehenden Filme wirkten heilloser. Wenn die Kamera (Börres Weiffenbach) nach langen Fahrten entlang der Leuna-Werke auf dem mittlerweile dort leuchtenden "Total"-Schriftzug zum stehen kommt, scheint Godards "eSSo" im Prinzip nicht weit. In einem Einkaufszentrum wiederholt sich diese Geste, wenn von einem "Real"-Supermarkt zu einem Auftritt des Schlagerstars Patrick Lindner übergeleitet wird, dessen eskapistisches Liedgut beim Durchhalten helfen soll. Die entrückten Gesichter seiner Anhänger zeugen aber auch von Verstörung. Heises polemische Montagen sind nicht auf Denunzierung aus; sie lesen den Kapitalismus von seiner plakativen Seite her: Als würde er in seinen visuellen Emblemen ganz offen davon sprechen, in welche Skripte er heutige Familiengeschichten zwängt.

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