Nun empören sich die Ökonomen!

Kommentar Schluss mit den neoliberalen Glaubenssätzen. Ein neues Manifest aus Frankreich räumt mit falschen Gemeinplätzen über die Finanzmärkte auf

In Frankreich wird nicht nur über den Aufruf Empört Euch! von Stéphane Hessel debattiert, sondern auch über das Manifest bestürzter Ökonomen. Von den vier Autoren arbeiten Philippe Askenazy, André Orléan und Henri Sterdyniak in staatlichen Forschungsinstituten, Thomas Coutrot ist wissenschaftlicher Berater bei Attac-France. Sie wenden sich vehement dagegen, dass über die Krise und deren Ursachen in fast allen Medien geredet wird, als handele es sich um unbezweifelbare Tatbestände wie das Wetter. In der Wirtschaftspresse wie in den Talkshows lesen und hören sie nur die Litaneien „der neoliberalen Orthodoxie“. Bestürzt sind die Autoren, weil diese Denkschablonen unter der Flagge der Wissenschaft auftreten.

Das Manifeste d’économistes atterrés, wie es im Original heißt, wurde bisher von 700 an Universitäten tätigen Ökonomen und von über 100.000 Angehörigen anderer Berufsgruppen unterzeichnet. Die Autoren verstehen ihren Aufruf auch als eine Hommage an den eingreifenden Intellektuellen Pierre Bourdieu. Sie halten die Krise nicht für eine gewöhnliche Wirtschaftskrise, sondern für eine soziale Krise mit „ökologischen und globalen politischen Dimensionen“ und sehen darin Symptome eines historischen Bruchs. Das Manifest kritisiert ökonomisch falsche Gemeinplätze und skizziert konkrete Alternativen zu den neoliberalen Glaubenssätzen. Der erste falsche Gemeinplatz lautet: „Die Finanzmärkte sind effizient.“


Damit wird jedoch nur von der Schnelligkeit der wirtschaftlichen Datenübermittlung auf die Effizienz der Finanzmärkte bei der Mobilisierung von Kapital kurzgeschlossen, wofür belastbare Belege fehlen. Finanzmärkte erzeugen keine realistischen Preise. Die Konkurrenz zwingt hier nicht zur Anpassung der Preise. Wenn die Preise für Wertpapiere oder Derivate steigen, sinken Nachfrage und Preise danach nicht, sondern die Preisspirale dreht sich schneller und fördert die Bildung von Blasen, bis diese platzen. Als Gegenmaßnahmen empfehlen die Ökonomen unter anderem ein Spekulationsverbot auf eigene Rechnung für Banken, die Verringerung der Spekulation durch Kontrolle und Besteuerung der Finanztransaktionen sowie die Begrenzung von bestimmten Transaktionen mit Derivaten und Kreditausfallversicherungen. Über diese Maßnahmen wird zwar auch in Frankreich seit zwei Jahren viel, aber ergebnislos geredet.

Populär ist die Annahme, wonach die steigende Staatsverschuldung von den Sozialsystemen verursacht werde. Die Fakten: Bis 2007 betrug das Defizit der Staatshaushalte im EU-Durchschnitt 0,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). 2010 wuchs das Defizit auf durchschnittlich 7 Prozent und die Staatsverschuldung stieg von durchschnittlich 66 auf 84 Prozent des BIP. Die Schuld daran trägt nicht nur die Krise, sondern das, was das Manifest „die steuerliche Konterrevolution“ nennt.

In Frankreich wurden zwischen 2000 und 2010 Steuergeschenke im Gesamtbetrag von 100 Milliarden Euro verteilt. Fraglich ist, ob Steuerentlastungen automatisch mehr wirtschaftliches Wachstum bewirken. Dass sie soziale Ungleichheiten verschärfen, ist unbestreitbar. Das Manifest will keine nationalstaatlichen Allein­gänge, sondern eine koordinierte europäische Wirtschafts-, Finanz- und Steuer­politik, um das Wohlfahrtsgefälle innerhalb der EU zu beseitigen. Das ist eine kluge, wenn auch nicht ganz neue Konsequenz aus der Krise.


Rudolf Walther beobachtet unser Nachbarland für den Freitag seit vielen Jahren

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