Heiner Müller als MP3

Dichterdarstellung Was aber bleibt, sprechen die Dichter: Die audiovisuellen Möglichkeiten verschieben die Maßstäbe zwischen Künstlerfigur und Werk. Heiner Müller muss man nicht mehr lesen

Die Wiederentdeckung von Thomas Harlan im letzten Jahrzehnt verdankte sich nicht nur seinen Büchern, sondern auch einem Film. Wandersplitter heißt die Dokumentation von 2007: Ein Mann sitzt vor einer Kamera in der Klinik, in der er leben muss, und erzählt sein Leben. Harlan beim Reden zuzuschauen, wie er sich in seinen Erzählungen verläuft und doch nie die Orientierung verliert, beförderte das Interesse an dieser Figur zweifellos.

Bei Harlan, den ein Kritiker einen „Künstler ohne Werk“ genannt hat, angesichts der vergessenen Theater­stücke, dreier Filme und der viereinhalb Bücher, die es von ihm gibt, mag Wandersplitter wie eine logische Konsequenz wirken. Dass die Person des Dichters Teil seines Werkes wird, ist allerdings kein Privileg. Heute kann man sich mit von Adorno gesprochenen Adorno-Erklärungen über die Missachtung der „einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft, wie sie im privaten Umkreis noch immer gelten“ durch Fußballfans im Stadion in den Schlaf wiegen lassen. Youtube sei Dank.

Das Videoportal ist für Künstler wie Klaus Kinski erfunden worden. Der Schauspieler hat mit seinen Interviews in Talkshows eine Form des Skandals geprägt, auf den ein Archiv wie Youtube zugeschnitten ist – die eigene DVD- Reihe, in der Kinskis Fernsehauftritte mittlerweile erscheinen, nimmt sich dazu wie eine Werkausgabe aus.

Thomas Manns Reden

Bei einem anderen Charismatiker, dem Dramatiker Heiner Müller, machten die Gespräche bereits ein Viertel der gedruckten Werkausgabe aus. In diesen Tagen legt der Alexander-Verlag nach und bringt 36 Stunden O-Ton- Material von Müller aus Interviews, Diskussionen und öffentlichen Auftritten heraus (Müller MP3. Heiner Müller Tondokumente 1972-1995). Vollends kommt darin die auditive Selbstdar­stellung zu sich, wenn Frank M. Raddatz und Heiner Müller eines der legendären Interviews lesen wie ein Theaterstück, das dieser mit jenem geführt hat.

Suhrkamp bestellt das Feld der audiovisuellen Dichterdarstellung mit seiner eigenen Filmedition schon länger. Die DVDs über Thomas Bernhard, Thomas Brasch oder aktuell Max Frisch (Max Frisch: Journal I-III/Gespräche im Alter, FES 24) beschäftigen sich nicht nur mit Werkverfilmungen beziehungsweise eigenen Filmwerken, sie bestehen vor allem aus Interviews und Portraitfilmen, die den Dichter zum Schauspieler seiner selbst machen.

Das Interesse an diesen Vorstellungen hat es gegeben, seit die technischen Möglichkeiten dazu existieren. Anders als die Reden von Thomas Mann bilden Müllers Töne aber nicht mehr nur Fußnoten eines literarischen Werks. Sie scheinen es gleichsam zu ersetzen. Ob diese neue Gewichtung in jedem Fall einen Verlust bedeutet, ist nicht sicher – auch wenn sich eine nach­holende Danielakatzenbergerisierung beklagen ließe, die das Werk auf die Person verkürzt wie bei heutigen Figuren, die kein Werk mehr brauchen zu ihrer Prominenz. Nachdenklich macht eher die Gefahr, dass der schillernde Künstler gleichzeitig zu seinem ersten Interpreten wird, weil die Faszination für ihn jede Kritik überdeckt.

Von dem charismatischen Dichter Peter Hacks ist, bislang zumindest, nur ein frühes Tondokument bekannt. Journalisten, die ihn interviewen wollten, hat Hacks das Mitschneiden auf Band untersagt. Ob das – mit Blick auf den Nachruhm – von Vor- oder Nachteil ist, muss sich noch weisen.


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