Sternstunde der Anarchie

Großbritannien Über 50.000 Studenten und Lehrkräfte trugen Särge von Tory-Politikern durch London, um gegen eine ideologisch motivierte Zerstörung des Bildungssystems zu protestieren

Der Protest gegen die Kürzung des Bildungsetats und höhere Studiengebühren in Großbritannien war erhebend: Studenten und Lehrkräfte waren zu Tausenden aus dem ganzen Land zusammengeströmt, um zwischen der U-Bahn-Station Embankment und der Tate Modern zu protestieren – bei einem kurzen Zwischenstopp für Buh-Rufe vor Downing Street Number 10. Trommeln und Sprechchöre gegen die Studiengebühren waren meilenweit zu hören. Eine beträchtliche Anzahl von Liberaldemokraten demonstrierte gegen die Kehrtwende der eigenen Partei in Sachen Studiengebühren. Vor dem Parlament kam es zu einem Sit-In. Friedensaktivisten, die dort gewissermaßen wohnen, gaben den Studenten gern eine schnelle Einführung in die wahre Bedeutung der Anarchie.

Die Zahlen waren gigantisch. Am Ende waren es 52.000 Teilnehmer – mehr als doppelt so viele, wie die britische Studierendenorganisation NUS erwartet hatte. Polizeihelikopter kreisten über der Menge, während unten die Demonstranten riesige Geier, Karotten und Särge von Tory-Politikern trugen. Die Berichte der Medien konzentrieren sich unweigerlich auf einen Aspekt – die spontane Besetzung der Tory-Zentrale. NUS-Präsident Aaron Porter beeilte sich, die abtrünnigen Demonstranten zu verurteilen, und sprach von „verabscheuenswerten“ Taten.

Sofa aufs Dach

Am Abend hielten etwa 200 Personen das Gebäude besetzt, vor der Zentrale brannten Feuer. Es kam zu Verhaftungen, acht Menschen – Demonstranten und Polizisten – wurden verletzt. Die Demonstranten warfen Scheiben ein und arbeiteten sich aufs Dach vor. Aus Twitter-Nachrichten lässt sich schließen, dass einige ein Sofa aus dem Gebäude mit aufs Dach schleppten, mit dem ziemlich vernünftigen Argument „wenn wir schon eingekesselt werden, dann wollen wir es wenigsten bequem haben“.

Ohne Zweifel war das eine direkte Aktion, wie sie der Journalist John Pilger unlängst forderte. Die Gewalt ist schwerlich nur als mutwilliger Akt einer kleinen Minderheit zu sehen – sie ist authentischer Ausdruck der Enttäuschung über ein paar wenige, die entschlossen scheinen, die Zukunft für viele zu einem elenden, engstirnigen und Schulden beladenen Ort zu machen. Der Protest sollte daher keinesfalls nur ökonomisch als Einspruch gegen Gebühren verstanden werden. Er stand auch stellvertretend für die ordentliche Wut, die viele angesichts des aktuellen Zustands der Universitäten und der ideologisch motivierten Zerstörung des Bildungssystem empfinden, sollte die Koalition ihren Willen durchsetzen. Es war ein Protest gegen die Verengung der Horizonte; ein Protest gegen die Scheinheiligkeit der Liberaldemokraten; ein Protest gegen eine immer utilitaristischer werdende Vorstellung von menschlichem Leben, für die Universitätsabschlüsse nichts anderes als „Investitionen“ von Individuen sind. Womit jeglicher Zusammenhang zwischen Bildung und dem breiteren Kollektivgut geleugnet wird.

Neue Militanz

Die Demonstranten, die die Parteizentrale der Torys besetzten, dürften in den kommenden Tagen ohne Zweifel verurteilt werden. Doch ihre Wut ist berechtigt: die Koalitionsregierung ruiniert Großbritannien aus Gründen des ideologischen Eigensinns. Die Proteste in Frankreich und Griechenland sowie Besetzungsaktionen durch Studenten in Großbritannien – darunter die Besetzung des Rathauses von Deptford durch Studenten des Goldsmiths Colleges am Tag, als die Kürzungen verkündet wurden – sind Anzeichen einer neuen Militanz. Was haben wir an diesem Punkt noch zu verlieren? Die besten Momente sind bei allen Protesten diejenigen, in denen man das aufrichtige Gefühl eines gemeinsamen Ziels hat und erkennt, dass wir alle auf derselben Seite stehen. Das ist die wahre Bedeutung einer „Big Society“. Genau die scheint die Koalition zerstören zu wollen, trotz all ihrer Lippenbekenntnisse. Dieser Protest – sowohl in seiner friedlichen als auch in seiner gewalttätigen Dimension – ist das Signal eines Landes, das keine Angst hat, sich zur Wehr zu setzen – zum ersten Mal seit langem.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Nina Power | The Guardian

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