Scheusal vom Dienst

Libyen Gaddafi soll vor internationale Richter. Ein Indiz dafür, wie das Libyen-Drama genutzt wird, einen Präzedenzfall für das Prinzip der „Schutzverantwortung“ zu schaffen

Warum nur Gaddafi, warum nicht auch Hosni Mubarak oder Ben Ali oder Jemens Staatschef Saleh mit Anklagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof drohen? Auch ihre Sicherheitskräfte haben den Tod Hunderter Demonstranten zu verantworten. Wenn sich Deutschland als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates in dieser Hinsicht vehement exponiert, ist das zu begrüßen. Doch sollten alle potenziellen Angeklagten etwas davon haben. Nicht allein Muammar al-Gaddafi als Scheusal vom Dienst. Um dessen Sturz zu beschleunigen, werden inzwischen begrenzte Militäraktionen von außen erwogen: eine teilweise oder vollständige Luftblockade gegen Libyen, gestörte Kommunikationswege, Kommandounternehmen, um westliche Bürger zu evakuieren. Eventuell mehr?

Je länger der Aufstand dauert und keine Entscheidung bringt, desto lauter dürfte der Ruf nach einem Eingreifen werden. Eine Handhabe böte das vom UN-Gipfel 2005 sanktionierte Prinzip der Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“). Seinerzeit gab es dazu ein lange ausgehandeltes, von den in New York anwesenden Staatschefs verabschiedetes, aber bis heute nicht völkerrechtlich verbindliches Dokument. Es beschreibt die Gratwanderung zwischen einzelstaatlicher Souveränität und einem Recht der internationalen Gemeinschaft, „rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat … zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen“.

Ein mit diesen Kriterien begründetes Interventionsgebot beruft sich auf Kapitel VII der UN-Charta, doch fehlen die Präzedenzfälle, mit denen sich durchspielen ließe, wie Responsibility to Protect funktionieren kann. Es hätte ein erstes Muster geben können, als im Frühjahr 2008 durch schwere Überschwemmungen eine Naturkatastrophe über Teile Burmas hereinbrach. Vorrangig auf Betreiben der USA, aber auch Deutschlands war das südostasiatische Land als Objekt internationaler Schutzverantwortung ausersehen.

Die regierende Junta sollte internationale Unterstützung annehmen, weigerte sich aber, dies zu tun. Die eigenen Mittel würden reichen, der Bevölkerung zu helfen, argumentierten die Obristen. Daraufhin wurde eine mögliche Intervention angekündigt, um humanitäre Hilfe militärisch zu flankieren. Ein solches Vorgehen hätte dazu genutzt werden können, das Regime aus dem Sattel zu heben – deshalb die Gegenwehr der Generäle. Seinerzeit wurde im UN-Sicherheitsrat durch Russland und China angezweifelt, ob die Weigerung, Hilfe aus dem Ausland anzunehmen, als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gelten dürfte und internationale Schutzverantwortung wahrzunehmen sei. Zu guter Letzt musste das Prinzip Responsibility to Protect weiter auf einen Praxistest warten.

Jetzt könnte der in Libyen nachgeholt werden. Wie realistisch oder abwegig eine solche Annahme im Moment auch immer sein mag – Gaddafis vergehender Staat bietet eine ideale Vorlage, eine Intervention als Ausdruck aktiver Schutzverantwortung zumindest theoretisch durchzuspielen und die Fragen zu beantworten. Unter anderem: Wie entschieden sollte traditionelle staatliche Souveränität durch das Prinzip einer von außen wahrgenommenen Souveränität relativiert werden? Hat ein Staat seine Souveränität verwirkt, wenn er nicht mehr fähig oder willens ist, Menschenrechte zu schützen und einzuhalten?

Im Kern geht es um eine Umwidmung des Souveränitätsbegriff und natürlich eine Debatte, die einen in den vergangenen Jahren veränderten Umgang mit Völkerrecht reflektiert. Sie zu führen, ist keinesfalls ehrenrührig, sondern nötig. Allerdings sollte dabei nicht ausgeblendet bleiben, dass die Besatzungsregimes der USA im Irak oder der NATO in Afghanistan mit ihren hohen zivilen Opferquoten bisher noch nie mit dem Prinzip der Schutzverantwortung behelligt wurden.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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